Zweites Kapitel.

[415] Als Johannes Piscator in Augsburg angekommen, that er pflichtlich, wie ihm sein Namensvetter geheißen. Aber er that es in einer Stimmung, die gar nicht zu beschreiben ist. Da er zur alten Magd des Lebzelters schlich, um ihr den Brief zu übergeben, biß ihn die Reue, daß er ein Gesicht schnitt wie – nach Bauernrede – ein Topf voll Teufel. In die Lechkanäle, die in raschem Gewoge die Stadt durchfluten, hätte er springen mögen trotz seiner Wasserfurcht, so unwürdig erschien er jetzt sich selber. War die Verschreibung zur Pilgerfahrt schon eine große Narrheit gewesen, dann war der Einzug in die Lebzelterwerkstatt[415] eine noch viel größere. Schwer belastete jetzt der Betrug sein Gewissen, mit welchem er den edlen Rittern einen Schweinfurter Lebzelter als Archäologen, Latinisten und Schriftsteller aufgebunden. Der andere Piscator, um den sich Verwandte und Freunde kümmerten, nahm es sorglos hin als einen lustigen Streich, als eine Abenteurerei, die in den Grundrechten der Jugend verbrieft ist, davonzulaufen nach Jerusalem. Auch Trotz und Grimm und Hoffnungslosigkeit machten ihm, wie wir später sehen werden, den Abzug leicht. Johannes dagegen, der einsame, freundlose Mann, der niemand in Sorgen setzte, wenn er jetzt ein einzigesmal in seinen jungen Jahren einen tollen Jugendstreich begann, wollte verzweifeln über seinen eigenen Leichtsinn.

Es geschah, wie Gerhard vorgesagt. Nachdem die Magd das Brieflein gelesen – eine Magd, die lesen gelernt, war damals noch eine Rarität – und ein zweites, eingeschlossenes, sorgfältig aufgehoben hatte, hieß sie den Magister morgen zur selben Stunde wiederkommen, und als er wiederkam, stand das verheißene schöne Mädchen schon am Platz, tief in den Mantel gehüllt, bereit, den Fremden zu seinem Handwerksbürgen zu führen. Sie grüßte mit stummer Verbeugung, und auch als Johannes, von dem Mädchen und der Alten begleitet, durch die Straßen schlüpfte, fiel von keiner Seite ein Wort. An einem großen Haus, welches fast wie der Flügel eines Klosters aussah und an eine Kirche angebaut war, pochte die Magd ans Thor und blieb dann auf dem Vorplatz zurück.[416]

Durch ein altertümlich überwölbtes Treppenhaus stiegen die beiden hinauf zu den bewohnten Räumen. Piscator, der zu irgend einem Zunftmeister zu kommen wähnte, erstaunte nicht wenig, als sie in die Stube eines Gelehrten traten. Da waren Bücher die Fülle an den Wänden aufgestellt, daß dem Magister Lebzelter das Herz pochte, und Wohlstand und Behagen schien auch hier einmal die Frucht der Erforschung der Weisheit geworden zu sein. Eine ehrwürdige Gestalt, ein Mann von wohl sechzig Jahren mit langen silbergrauen Locken, erhob sich gegen die Eintretenden. Als Johannes den Gelehrten im weitfaltigen, pelzbesetzten Hausgewand gebieterisch vor sich stehen sah, war es ihm, als steige die Erscheinung eines der humanistischen Wissensfürsten seiner Universitätsjahre vor ihm aus der Erde, und er selber müsse versinken vor Scham über die Maske, in der er jetzt einem solchen Manne gegenübertrat.

»Vetter,« rief Judith in munterem, fast schalkhaftem Ton, »hier bringe ich Euch den Lehrjungen, dem Ihr Bürge sein wollt. Macht's untereinander ab; ich plaudere derweil mit Eurer Schwester.« Und im Fortgehen warf sie dem Magister die Worte zu: »Es ist mein Vetter, der Herr Scholarch Kaspar Notthaft, der hier vor Euch steht.«

Der Scholarch erhob das Licht und musterte seinen Empfohlenen vom Kopf bis zu den Füßen mit einem Blick, als wolle er ihn durch und durch sehen. Da er die struppigen Haare, die unordentliche Kleidung wahrnahm, lächelte er freundlich. Das Lächeln ward noch[417] freundlicher, als er des Lehrjungen Gesichtszüge prüfte: – eine starke Nase, viel zu energisch, um schön zu sein; tiefliegende, blöde graue Augen, aus denen einer bei dem berühmten Gelehrten Piscator das versteckte Funkeln des Geistes herausgelesen hätte, während der Scholarch bei dem Lehrjungen Piscator nur Schüchternheit und Einfalt aus demselben Blicke entzifferte; die von der Arbeit der Gedanken gerunzelte Stirn – der Scholarch sah bei dem Lebzelter nur die Runzeln, nicht die Gedanken –; überhaupt einen reif durchgebildeten Kopf, der aber das Gelehrtenprivilegium der Häßlichkeit etwas stark für sich in Anspruch genommen hatte. Als aber vollends der Scholarch die zusammengesessene Gestalt unseres Johannes wahrnahm und die mageren Beine, deren Linienführung keineswegs dem griechischen Ideal entsprach, drückte er ihm unter freundlichstem Lachen die Hand und sprach: »Ich will Euer Bürge sein, Piscator. Ihr wißt, es ist das bei uns nur noch eine leere Form, und seit Menschengedenken hat kein Handwerksbürge für einen Lehrjungen wirklich mit dem Geldbeutel eingestanden. Aber hier in Augsburg übt der Bürge auch noch eine andere Pflicht. Er soll des Lehrlings Patron werden, der ihn schirmt vor Uebervorteilung durch gaunerisches Volk, vor Mißhandlung durch die Mitgesellen (wenn der Meister gegen diese nicht Schutz geben will); er soll sein zweiter Vater, gleichsam sein Handwerkstaufpate sein, und wo der Meister ein gewissenloser Mann wäre, soll der Lehrjunge bei dem Bürgen selbst gegen den Meister Recht[418] finden bei Mißhandlung, Betrug und Ueberbürdung in der Arbeit.«

Da der Scholarch eine Weile einhielt, so nahm Piscator des Augenblicks wahr, um nun doch auch einmal ein Wort zu reden, und sprach: »Wenn sich nämlich der Ueberbürdete nicht selbst hilft gleich den Ochsen von Su –« (er wollte sagen: Susa, besann sich aber sofort) – »von Sulzbach, die täglich hundert Eimer Wasser führten; als man jedoch den hundertundersten noch zufügen wollte, waren sie nicht mehr von der Stelle zu bringen.«

Der Scholarch horchte auf und dachte bei sich: »Wie doch die Geschichten der alten Autoren Gemeingut werden! Es erzählt sich also jetzt der Schweinfurter Pfahlbürger diese Anekdote ganz, wie sie uns in den Klassikern berichtet wird, nur daß er statt Susa die Variante Sulzbach macht!« Dann sprach er laut gegen den verkappten Magister: »Ich zähle Euch meine Pflichten als Bürge nicht auf, damit Ihr etwa meint, Ihr könntet den trefflichen Meister Furtenbacher bei mir verklagen, wenn Ihr lüderlich und faul seid. Allein es gibt gewisse Menschen, die sich nun schlechterdings nicht allein forthelfen können, die durch ihre Gutmütigkeit jeden herausfordern, daß er sie rupfe und ausbeute: solche Menschen bedürfen der Vaterschaft eines mannhaften Bürgen. Meister Furtenbacher kann sich nur um die Lebzelterei bekümmern; ich will für das übrige sorgen. Meine menschenfreundliche Base hat mir schon ungefähr gesagt, auf welcher Seite es not thut, Euch eine Krücke unterzustellen.[419] Ihr seid mir ein wildfremder Mensch. Dennoch bürge ich für Euch – die Weiber haben mir wahrlich den ganzen Tag genügend darum im Ohr gelegen,« dachte er im stillen, fuhr aber laut fort: – »damit Ihr seht, daß es doch noch Leute gibt, die einen gutmütigen, der Welt unkundigen Menschen für Gotteslohn beschützen, statt ihn zu rupfen und zu betrügen. – Und hiermit gute Nacht!«

So entließ er den verblüfften Johannes, dem nun eine, wenn auch noch sehr schwache Lichtdämmerung auf die seltsame Art und Weise fiel, wie er in Augsburg zu einem Bürgen gekommen war.

Auf dem Vorplatz fand er die Magd, die ihm den Heimweg zeigte, da Jungfer Judith die Abendstunden noch mit der Schwester des Scholarchen verplaudern werde.

Heldenmütig bestand Piscator in den nächsten Tagen die verwickelten Aufnahmeförmlichkeiten in die Lebzelterwerkstatt. Selbst das Traktament, welches er den Mitgesellen zu geben hatte, lief glatt vom Stapel, und ob der Magister schon über allerlei Unanstelligkeit einen kleinen Spott einstecken mußte, so kam er doch, wie man so sagt, glücklich mit dem blauen Auge davon.

Als dieser Sturm überstanden, ward es ihm mit jedem Tage ruhiger zu Mute. Zum erstenmal begann er den Frieden des Hauses zu schmecken. Der Zwang zur Ordnung, den er gefürchtet, erquickte ihn. Von Handwerksarbeit kam ihm wenig in seine Hände, da der Meister auf den ersten Blick sein Ungeschick erkannte.[420] Er konnte kaum begreifen, wie einer ein ganzes Jahr bei dem gestrengen Meister Sturm in Nürnberg gelernt und doch eigentlich gar nichts gelernt habe, und räsonnierte dann über die schlechte neue Zeit, wo man den Lehrjungen zum Hausknecht mache, ihn nur in der Küche, im Feld und unter dem Gesinde arbeiten lasse und darüber die Unterweisung im Handwerk versäume. Da er aber fürchtete, der ungeschickte Bursche möge am Backofen mit dem Feuer Unheil stiften, die Honigtöpfe nicht rein fegen, die irdenen Gefäße zerbrechen, Teig in den Modeln sitzen lassen, daß die Ritter und Frauen auf den nächsten Lebkuchen etwa ohne Hände und Füße zum Vorschein kämen, und wohl gar in Gedanken den Honig selber trinken, statt ihn in den Teig zu gießen: so machte er's gerade so, wie er's bei Meister Sturm tadelnd voraussetzte, und gebrauchte unseren armen Magister fast nur zum Stubenkehren, Stiefelschmieren, Wassertragen, zum Hacken und Graben im Garten und im Acker. Allein Johannes befand sich hierbei wohler als in der Werkstatt, er fühlte den Segen der Handarbeit und lernte im Haus und für das Haus leben.

Wenn er so an Sonntag Nachmittagen manchmal stundenlang allein in des Meisters Stube sitzen durfte, dann ward es ihm ganz selig im Gemüte. Die Frühlingssonne schien durch die achteckigen Scheiben so lustig in das helle, reinliche Gemach. Crescenz, die alte Magd, die lesen konnte – denn sie war von guter Herkunft und selbst eine entfernte Verwandte des Hauses – sorgte für eine Reinlichkeit,[421] die ein Holländer bewundert hätte. Der Boden war blütenweiß gescheuert, und das Täfelwerk am Wandsockel und an der Decke stets so glänzend im nußbraunen Lack gehalten, als sei es gestern erst gefirnißt worden; um tausend Gulden wäre kein Spinngeweb in den Ecken zu finden gewesen, und die metallenen Prunkgeräte aus dem kunstreich ausgeschnitzten Schrein spiegelten das Licht blendend zurück, daß sie leuchteten wie die goldenen Schalen, Schüsseln und Becken im Tempel Salomonis. Judith, des Meisters einziges Kind, verwaltete das Hauswesen gemeinsam mit Crescenz in geteilter Herrschaft; die Mutter war gestorben. Wenn Crescenz rein hielt, dann sorgte Judith für den Schmuck des Hauses, wie sie selber des Hauses schönster Schmuck war. In den Fensternischen hatte sie kleine Wintergärten angelegt, die jetzt im März in voller Blüte standen. Die Distelfinken, Drosseln und Amseln, mit ihren Käfigen eine halbe Wand füllend, waren ihrer besonderen Pflege empfohlen. Ueberall ordnete und schmückte ihre Hand; der Eindruck des Wohlstandes, des Behagens, der sonnigen Heiterkeit, den die Wohnstube wie das ganze Haus machte, war ihr eigenstes Werk. Da war es denn kein Wunder, daß der Meister an Sommer- und Winterabenden am liebsten friedlich in seiner trauten Stube saß, mit seinem Geschwisterkindsvetter, dem Scholarchen, der das tägliche Brot im Hause war, ein Glas Wein leerte, und sich ruhig und nur selten den Mund öffnend, von dem vielerfahrenen Mann über Gott und die Welt unterhalten ließ. »Weit von unserem[422] Haus ist nah' bei unserem Schaden!« pflegte Meister Furtenbacher den Freunden zu erwidern, die ihn manchmal zu einem Gelag hinauslocken wollten. Allein er hatte gut predigen; denn in einem Hause wie dem seinen war es in der That heimlicher und bequemer wie in irgend einer Schenke der Welt.

Wenn nun der Meister am Sonntag Nachmittag im Festkleid in seinen Garten spaziert war und Johannes so allein in der Stube saß, da befiel ihn wohl eine Ahnung von dem Heiligtum, in welches er hier gekommen, und von der Heiligen, die über diese Räume einen so verklärenden Schein ergoß – von Judith. Es ward ihm dann ganz fromm ums Herz. Er vergaß den Klassiker, den er sich zur heimlichen Lektüre in die Tasche gesteckt, und gedachte wohl gar der Eindrücke, die er heute morgen aus der Kirche mitgenommen, aus derselben Kirche, wo auch Judith gebetet hatte. Vorher hatte er nicht viel aufs Kirchengehen gehalten; seit er Wunderkind gewesen, hatte er etwa jährlich einmal eine Predigt gehört. Allein die ehrsame Lebzelterzunft war strenge in diesem Stück. Da mußte gebetet werden beim Aufstehen und Schlafengehen, vor Tisch, nach Tisch, beim Schiedläuten und bei der Vaterunserglocke. An allen hohen Festtagen mußten Gesellen und Lehrlinge kommunizieren, und daß sie an jedem Sonntage wenigstens einmal zur Kirche gingen, verstand sich ganz von selber. Anfangs war dieses fromme Wesen dem Humanisten etwas gegen den Strich gegangen, allein allmählich fand er ein Gefallen daran, nicht weil er sofort im Innern[423] davon ergriffen worden wäre, sondern weil ihm die Stetigkeit der religiösen Formen wohlthat und die Ordnung, die Würde, welche durch dieselbe in das Haus kam, und weil er sich in diesen religiösen Uebungen den anderen Familienmitgliedern näher gebracht fühlte.

Seltsame Gedanken überkamen ihn auch manchmal, wenn er so allein in der Stube saß und die einzige bildliche Darstellung betrachtete, die an den Wänden angebracht war. Sie bestand in einem Kunststück der Wachsbildnerei, welches Furtenbacher selbst verfertigt hatte, als Meisterstück und zugleich als Brautgeschenk für seine verstorbene Frau; denn Meisterwerden und Heiraten folgten bei ihm Schlag auf Schlag. In einem breiten Rahmen stand ein reicher Blumenstrauß, frei aus buntfarbigem Wachse geformt; ganz versteckt aber hinter den Blumen, dem flüchtigen Beschauer kaum sichtbar, zeigte sich ein Kreuz mit dem Gekreuzigten, und rings um den Rahmen liefen die Verse:


»Manch' schöne Blum' dein Auge sicht:

Die Blume des Lebens siehst du nicht.«


Das deutete sich der Humanist aus in dem allegorisierenden Geschmacke seiner Zeit. Waren nicht seine trauten heidnischen Poeten die schönen Blumen, welche ihm die Blume des Lebens verbargen? Und konnte nicht das Kreuz harmonisch neben der Antike stehen, wie der Gekreuzigte neben den Blumen auf diesem Bild? Mußte er – Johannes – die klassischen Heiligtümer seiner Jünglingsjahre daran geben,[424] um die christlichen Heiligtümer seines Knabenalters, da er noch so fromm mit der seligen Mutter betete, wiederzugewinnen? War nicht auch der Scholarch Kaspar Notthaft ein gewaltiger Latinist und Gräcist und doch ein exemplarischer Christ dazu? Ging er nicht jeden Sonntag in die Kirche und sang mit seiner Base Judith aus einem Gesangbuch?

»Aber beim Zeus!« fügte Piscator diesen Betrachtungen in lautem Selbstgespräche bei: – »Es wäre mir lieber, der reiche Mann schaffte sich ein eigenes Gesangbuch an; es ärgert mich, die beiden aus einem Buche singen zu sehen, und ich weiß selbst nicht warum!«

Der Meister und seine Tochter, der Scholarch und die alte Magd gewannen den stillen, traurigen Lehrjungen täglich lieber, und obgleich er als angehender Zwanziger aussah wie ein angehender Vierziger und in Küche und Werkstatt manches Unheil stiftete, ward er doch das Schoßkind der ganzen Familie.

Um so aufsässiger wurden ihm die Gesellen. Der schweigsame Bursche war den lustigen Kameraden unausstehlich. Als sie auf dem Gelag, welches ihnen Piscator bei seinem Einstand gegeben, den Wein maßweise soffen, eingedenk der Regel, daß der Wein der beste ist, welcher nichts kostet, da war es dem hypochondrischen Philosophen im Unmut entfahren, daß er die Zecher als »Epicuri de grege porci« – (Schweine von der Herde Epicurs) – anrief. Die Gesellen versicherten seitdem, es sei ein Hauptspaß, den Lehrjungen angetrunken zu sehen; denn alsdann spreche er lateinisch. Sie versuchten darum auf alle[425] Weise, ihn ins Wirtshaus zu locken; allein vergebens. Da es in Güte nicht ging, wollten sie ihn mit Drohungen pressen. Ein Lehrjunge hat nach der Zunftordnung den Gesellen mancherlei Dienst zu leisten, ja er ist in vielen Stücken recht eigentlich der Gesellen Knecht, und sie reden ihn mit »du« an, während er ihnen mit »ihr« antworten muß. Die Gesellen versprachen, unserem Johannes wenigstens die Hälfte seiner Dienstlasten zu schenken, wenn er mit ihnen am Sonntag ins Wirtshaus gehe. »Und etliche Seidel Bier darfst du uns auch setzen für die Ablösung deiner Servitute,« rief einer. »Wer gut schmeert, der gut fährt!« ein anderer. »Freilich,« sagte ein dritter, »wir werden in Zukunft die weitere Verleihung unserer Gnaden nach deiner Freigebigkeit messen: Danach das Geld, danach die Seelmeß!«

Piscator aber wich nicht vor den Andringenden, hielt ein kleines Büchlein, betitelt: Ordnung der wohlehrsamen augsburgischen Lebzelterhauptlade, wie einen Schild entgegen und sprach: »Wollt ihr Gesellen, daß der Lehrjunge euch lehre, was Handwerksrecht ist? Hier steht geschrieben im dreizehnten Hauptstück: Es ist einem Lehrjungen verboten, mit dem Gesellen zu zechen oder zu spielen, auf widriges Betreten ist sowohl der Gesell als Lehrjung strafwürdig.«

Mit diesen Worten kehrte er ihnen den Rücken. Die Gesellen aber ärgerten und höhnten ihn von da an, wo sie nur konnten.

Die Gelegenheit fand sich bald, wo dem armen Piscator für seine Anwendung des Zunftgesetzes die[426] Hölle recht heiß gemacht wurde. Ein wandernder Gesell aus Franken sprach bei Meister Furtenbacher ein. Er war schon bei allen anderen Zunftmeistern der Stadt gewesen, hatte ihnen den Handwerksgruß geboten, aber bei keinem Arbeit gefunden. Da behielt ihn endlich unser Meister aus Mitleid auf ein paar Wochen probeweise, obgleich er seiner nicht bedurfte.

Als der Franke in die Werkstatt trat, den Degen an der Seite und den Mantel über das Felleisen auf beide Schultern zurückgeschlagen, wie es die Zunftordnung will, reichte ihm Piscator freundlich die Hand und sprach: »Seid mir in Gott willkommen von wegen des Handwerks« – genau wie das alles im zwölften Hauptstück der Ordnung der augsburgischen Lebzelterhauptlade vorgeschrieben steht. Dann bat er ihn, niederzusitzen, und zog ihm die bespritzten Stiefeln aus; denn es war sehr schmutzig. Alle diese Nebenzweige des Lebzelterhandwerks hatte der gelehrte Mann bereits unter den Fußtritten und Rippenstößen der Gesellen vortrefflich erlernt, auch im Stiefelschmieren eine Virtuosität gewonnen, auf die ein Hausknecht hätte reisen können. Der Fremde, dem die Frechheit auf die Stirn geschrieben stand, hatte von Anbeginn den alten Lehrjungen höhnisch angeschaut, und da ihm die anderen Gesellen mittlerweile zugewinkt, daß er denselben ein wenig zum besten haben solle, so setzte er der Bescheidenheit Piscators die ausgesuchteste Unverschämtheit entgegen. Als dieser das Amt des Stiefelausziehens vollendet hatte, forderte der grobe Gesell auch die Abnahme des Mantels. Piscator that, wie[427] befohlen. Nun setzte sich der Franke noch einmal so breit in den Stuhl und begehrte, daß ihm der Lehrjunge auch Degen und Mütze abnehmen solle. Die anderen Gesellen lachten und kicherten bereits über das Schauspiel. Da hielt der schriftgelehrte Lehrjunge plötzlich ein, richtete sich auf aus seiner Demut und sprach: »Es stehet wohl geschrieben im Zunftbuch, daß ich Euch Mantel und Stiefel abziehen müsse; aber von Degen und Mütze stehet dort nichts geschrieben: seid darum so gut und greift jetzt selber zu.«

Die Rede rief einen fürchterlichen Tumult hervor. Der Franke drohte mit Faustschlägen; die anderen Gesellen hielten ihn zwar ab von solchem Friedensbruch der Werkstatt, schrieen jedoch den Lehrjungen an wie die Dachmarder. Dieser aber schwieg und stand fest in der Brandung: – »Saevis tranquillus in undis!« sprach er lächelnd bei sich, des Wahlspruchs seines großen Zeitgenossen gedenkend. Allein der Meister war nicht zu Hause, und Prügel blühten dem gelehrten Dulder jedenfalls im Schlußakt.

Da trat Judith in die Werkstatt. Die rohen Gesellen verstummten vor dem lieblichen Mädchen, und selbst der Franke verwandelte seine Rauferstellung fast willenlos in eine tiefe Reverenz. Sie fragte nach der Ursache des Streites. Nun erst kam Piscator zu Wort und erzählte so gewandt und bescheiden den Hergang, daß die anderen nichts zu erwidern wußten. Mit herzbewegender Huld nahm sich das Mädchen des Gekränkten an und hieß ihn mitgehen in den Garten, wo er arbeiten könne bis zu des Vaters Rückkehr.[428] Johannes sah den Goldschein um das Haupt seiner Heiligen heller strahlen als je, aber er hatte nur Blicke des Dankes für sie, nicht Worte.

Judith berichtete sofort dem heimkehrenden Alten. Der gestrenge Zunftmeister ließ den fremden Gesellen vorfordern, zahlte ihm aus Gnaden einen Wochenlohn und befahl ihm, sich ohne Säumen marschfertig zu machen; denn solche Flegel und Händelstifter dulde er nicht über Nacht in seinem Hause.

Da sprach der Franke in gleisnerischem Ton: »Herr Meister, dieser Lehrjunge, der seinem Alter nach wohl mein Vater sein könnte, dieser ist es, der Händel in Eure Werkstatt bringt, denn alle Gesellen sprechen gegen ihn, wie aus einem Mund. Traut dem Burschen nicht. Er nennt sich Gerhard Piscator aus Schweinfurt« – hier sah der Ankläger den armen Magister mit stechendem Auge an – »der Name ist gefälscht. Ich habe den Gerhard vor Jahren gekannt; er war ein Teufelskerl, ein flinker, lustiger, schneidiger Bursch, groß gewachsen, ein Eisenfresser, o ein höchst fideles Haus! Wie könnte er ein solcher krüppeliger Duckmäuser geworden sein? Die Jahre ändern viel, aber niemals machen sie eine Nachteule aus einem Adler. Vielleicht« – er sprach leise – »hat dieser Patron meinen Freund Gerhard auf der Landstraße ermordet und sich mit dessen Papieren bei Euch eingeschlichen –«

»Schweig, trunkener Bube!« donnerte der Meister dazwischen. »Ich dulde nicht, daß ein hergelaufener Raufbold wie du in meinem eigenen Hause[429] einen Hausgenossen boshaft verleumde, der sich mir längst als fromm und ehrlich ausgewiesen hat. Ich habe mehr als meine Schuldigkeit gegen dich gethan und will dich auch noch nach Handwerksbrauch vors Stadtthor geleiten lassen. Dann aber siehe zu, daß du in der nächsten Dorfschenke deinen Rausch ausschläfst und mir nicht wieder unter die Augen kommst.«

Wenn Meister Furtenbacher donnerte, war noch jeder verstummt. So machte es auch der Franke und schlich ganz still zur Thüre hinaus. Der Meister aber befahl dem Lehrjungen, daß er den fremden Gesellen zunftgemäß aus der Stadt geleite und ihm das Felleisen vors Thor trage. Doch nicht dem Raufbold zu Ehren drang der Meister diesmal aufs Geleite, sondern weil er weiteren Skandal abschneiden und das Herumlungern des bösmäuligen Franken in den Herbergen verhüten wollte.

Piscator, der wie Butter an der Sonne gestanden, atmete wieder auf, da er seinem Feinde jetzt ebenso demütig das Felleisen durch die Straßen vortrug, wie er ihm vorhin die Stiefel ausgezogen. Als sie vors Thor gekommen waren, verabschiedete sich der Lehrjunge von dem Gesellen mit dem vorgeschriebenen Zunftspruch: »Mein werter Gesell, ich wünsch' Euch viel Glück auf die Reise; haltet mir nichts für ungut; habe ich Euch was Leids gethan, verzeihet mir's.«

Da erwiderte der Gesell: »Und ich will mich hängen lassen, wenn du der Gerhard Piscator von Schweinfurt bist. Glück auf die Reis' ins Dreiteufels[430] Namen!« – und gab dem Magister eine so ungeheure Ohrfeige, daß dieser mit einem ganz roten und einem ganz weißen Backen in die Werkstatt zurückkehrte; der Gesell schritt eilends davon.

Piscator gestand nachgehends, als ihn der fränkische Gesell bei seiner Anklage so scharf angeschaut, da sei es ihm wohl gewesen, wie Paracelsus schreibt, als ob einer den anderen durch Willen und Blick allein – ohne Schwert – wirklich erstechen könne.

In der Nacht nach diesem bösen Tage hatte der Magister die Wache bei der Wachsbleiche und dem Backofen; denn es ward scharf gearbeitet.

Das waren selige Stunden, wenn Johannes abends allein war und ganz heimlich wieder in den Alten lesen konnte, – etwa beim Mondlicht, denn Wachs, Oel oder Talg ward vom Meister nicht gereicht. O wie gar süß und köstlich schmeckte ihm jetzt, was ihm sonst trocken wie das tägliche Brot gewesen! Seit er leben gelernt, begann er auch erst lesen zu lernen.

So zog er jetzt bei dem Schein des Feuers verstohlen seinen Homer in der kleinen Herborner Duodezausgabe unter dem Schurze hervor und las die Gesänge, welche den Aufenthalt des Odysseus bei den Phäaken erzählen. So mächtig hatte ihn die Lieblichkeit und die Größe dieser Bilder noch nie ergriffen, wie hier in der stillen Nacht bei dem rotglühenden Scheine des Ofens. Der Magister hatte nur den klassischen Autor Homer gelesen; der Lebzelterlehrjunge las jetzt zum erstenmal den Dichter Homer. Da er noch ein menschenscheuer Schulmeister war, ganz besonders[431] aber kein Weib auch nur von weitem ansah, war ihm Nausikaa, »des hohen Alkinoos Tochter«, nur eine Figur, worüber man die Scholiasten vergleichen und Erklärungen aufbauen mußte, wie über Eumäos, den Sauhirten, und Melianthos, den Ziegenhirten, und die ganze übrige homerische Gesellschaft. Jetzt hatte er Judith kennen gelernt, jetzt ging ihm ein Licht auf über die Frauen, und Judith, das gutmütige, schalkhafte Lebzelterkind, gab ihm den Schlüssel für Nausikaa, das adelige Königskind. Ja es war ihm, als sei er selber auf seiner Irrfahrt in den seligen Frieden der Phäakeninsel gekommen, nämlich in das Haus des Meisters Furtenbacher, und er vergaß Stiefelschmieren und Wasserholen, die Lebkuchenmänner und Wachskerzen zusamt der Ohrfeige des Gesellen aus Franken, und Judith deuchte ihm die Nausikaa dieser Insel.


– »an Wuchs und reizender Bildung

Einer Unsterblichen gleich.« –


(Nur konnte man von ihrer Magd, der alten Crescenz, nicht sagen, daß sie gleich den zwei Mägden der Fürstentochter geschmückt sei »mit der Chariten Schönheit«.) Dann aber ergriff es ihn wieder gar wehmütig und es war ihm, als müsse auch er, gleich Odysseus im Schlummer an diese selige Insel getragen, im Schlummer wieder von dannen segeln, Nausikaa zurücklassend, und ein Nebel verhülle ihm wohl das Land, wohin er steuere, aber keine Athene komme vom Olymp herab, um auch ihm endlich ein Ithaka aus dem Nebel herauszuführen. Schon sah er im Geiste[432] den Tag, wo er die Maske ablegen und seinen Phäaken die Irrfahrten seines Lebens erzählen werde und dann, gleich dem scheidenden Odysseus, scheidend Frieden und Gedeihen herabwünschen auf das gastliche Dach, nicht ohne den heimlichen Gedanken späteren frohen Wiedersehens: –


– – »jungkräftig müss' ich den Meister

Wiederfinden im Haus' und wohlbewahret die Tochter!

Lebt und waltet in Freude, und segnende Götter verleihn Euch

Tugend und Heil; und nie sei hier einheimisch das Unglück!«


Hier fuhr Piscator in die Höhe durch einen kräftigen Rippenstoß des Altgesellen aufgeweckt: er war eingenickt über den göttlichen Homer und hatte nun doch die Wachtstunde verschlafen –

So verging unserem Johannes in wunderlich anziehendem Wechsel und doch in friedlicher Stetigkeit ein Monat um den anderen. In der Küche, in der Werkstatt, auf der Straße war er halb Lehrjunge, halb Hausknecht; auf der einsamen Dachkammer der echte deutsche Gelehrte. Auch in Gesicht und Haltung ward er von Tag zu Tag jünger, im Gespräch lebendiger. Manchmal erschrak er über sich selbst, daß er gar nicht mehr an seinen kranken Unterleib, geschweige denn an den Tod dachte. Die Klassiker las der Lehrjunge jetzt mit einer phantasievollen Wärme der Auffassung, daß der gelehrte Humanist manchmal seinem Doppelgänger mit dem kritischen Zeigefinger drohen mußte. So klassisch aber seine Studien waren, so romantisch blieb sein Minnedienst. Er schien hier streng nach dem provençalischen Liebeskodex des dreizehnten[433] Jahrhunderts verfahren und das Noviziat der Liebe nach den dort vorgeschriebenen vier Graden durchmachen zu wollen. Bis jetzt war er freilich immer noch bei dem ersten Grade stehen geblieben, in welchem nur verstattet ist, »daß der Werber in der Stille verehre, ohne seiner Sehnsucht Worte zu geben«. Allein was bedurfte es der Worte? Judith war so gut und freundlich, zeichnete ihn vor allen durch ihre Güte aus, schützte ihn, erfreute ihn, wo sie nur konnte. Manchmal lachte sie ihn auch aus und neckte ihn. Was sich liebt, das neckt sich. Johannes kehrte den Satz flugs um und sprach: Was sich neckt, das liebt sich.

Weihnachten nahte heran; neun Monate waren es schon, seit der Magister die Welt und seinen Frieden in den engen Räumen des Lebzelterhauses gefunden, da begab sich eines Tages in diesem Hause eine seltsame Geschichte, die bald Lärm durch ganz Augsburg, ja durch ganz Schwaben machen sollte.

Der Altgeselle hatte nämlich dem Meister berichtet, er habe zum öfteren den Lehrjungen belauscht, wie er nächtlicherweile beim Feuer des Backofens oder beim Mondschein in Büchern lese, die mit einem Gewimmel von rätselhaften Zauberzeichen erfüllt seien, und lange unverständliche Zaubersprüche vor sich hin murmele, bis er zuletzt in der Regel in einen ekstatischen Schlaf voller Traumgebilde, Ausrufungen und Verzückungen verfalle. Der Meister möge sich vorsehen. Dieser Lehrjunge, aus dem niemand klug werde, sei ein Hexenmeister; mit seinen zauberischen Bestrickungen aber scheine er es besonders auf Jungfer Judith abgesehen[434] zu haben. Denn unter den sinnlosen Ausrufungen, die er schlafend von sich gebe, laute je das dritte Wort: »Judith!«

Dem Meister lief es nun doch heiß über die Stirn. Das Zeugnis des Altgesellen konnte er doch nicht schlechtweg verwerfen. Etwas Geheimnisvolles, Absonderliches hatte Piscator immer an sich gehabt. Dann fiel dem ehrlichen David Furtenbacher die Anklage des fränkischen Gesellen ein, der steif und fest behauptet hatte, der Lehrjunge sei gar nicht der rechte Schweinfurter Piscator. Auch war es dem Meister nicht entgangen, daß derselbe auf den Dulten stets die Buden der Schweinfurter Handelsleute mied, wie wenn sie die Pest zum Ausverkauf mitgebracht hätten, und daß er unsichtbar wurde, sowie er nur Leute aus Franken im Hause witterte, und die Grüße und Nachrichten nach Hause immer nur mündlich und durch den Donauwörther Boten besorgen ließ, der sie dann an seinen Kollegen von Nürnberg zum Weiterspedieren abgab, so daß diese Mitteilungen Gott weiß wann und wie! – nach Schweinfurt kommen mochten.

Das alles überdachte der Meister jetzt zum erstenmal und beschloß, noch heute abend seinen Staats-und Gewissensrat, den Scholarchen, darüber zu konsultieren.

Der gelehrte Vetter legte nicht viel Gewicht auf die Frage, ob dieser Piscator wirklich der echte Schweinfurter Piscator sei oder nicht. Dagegen lockte es ihn, die Zauberbücher kennen zu lernen, die Zaubersprüche zu erfahren. Er war mit sich selbst nicht eins, ob er[435] an Zauberei glauben dürfe. Die erleuchtetsten Geister der Zeit nahmen die Möglichkeit einer teuflischen Magie an; die größten Gesetzgeber der Kirche, der protestantischen wie der katholischen, geboten, daß man die Zauberer töten, daß man die Hexen verbrennen solle. Allein bei dem Scholarchen wie bei anderen Humanisten regte sich doch manchmal das dunkle Gefühl, als ob jemand, der sich mit der lichten Lebensweisheit der Alten gesättigt, der in dem sonnigen Tagesschein römischer und griechischer Dichter gelustwandelt, zuletzt kaum mehr ein Verständnis habe für das Eulengeschrei über die teuflische Magie, wie es aus Nebel und Finsternis klagend herüberhalle. Doch auch die gelehrtesten Schulmeister sind Kinder ihrer Zeit, und der Scholarch Kaspar Notthaft versprach in gespanntester Erwartung, den Lehrjungen vorerst einmal im stillen zu prüfen, um zu sehen, inwieweit jener ein Hexenmeister sei.

Des anderen Morgens schon ward Piscator auf die Studierstube des Gelehrten beschieden.

In der Doppelwürde eines Pädagogen und eines Richters zugleich saß der Alte in seinem Lehnsessel, Johannes trat unbefangen vor den Hausfreund und Bürgen, der ihm immer treu gesinnt gewesen.

Notthaft begann sein Examen rundweg: »Du liesest des Nachts beim Feuer des Ofens oder beim Mondschein manchmal in Büchern, Gerhard? Ist's nicht also?«

Piscator schwieg verwirrt. Allein der Scholarch löste ihm die Zunge: »Leugnen hilft nichts! Während[436] du hier vor mir stehest, durchsucht der Meister deine Kammer, und alsbald werden jene Bücher auf diesem Tische liegen. Der Altgeselle hat sie als Zauberbücher erkannt, wimmelnd von fremdartigen zauberischen Zeichen, und Zaubersprüche murmelst du vor dich hin, indes du die Bücher dem Glutschein des Ofens oder den Strahlen des Mondes entgegenhältst. Gesteh es ein; denn der Altgeselle ist ein unverwerflicher Zeuge.«

Da riß dem verkappten Magister Geduld und Selbstbeherrschung und er rief: »Der Altgeselle ist ein Esel, so dumm, – so dumm – wie ich es auf deutsch gar nicht ausdrücken kann: stultior Melitide! Griechische Verse sind es, die der Obskurant für Zauberzeichen angesehen hat.«

»Halt!« rief der Scholarch, – »mir schwindelt der Kopf! Das ist wahrhaftige Zauberei! Wie kommst du zu dem lateinischen Spruch? Auf welchem Honigtopf, auf welchem Lebkuchenmodell hast du ihn gelesen? Steckt etwa auch ein magischer Doppelsinn in dem Spruch? Woher weißt du etwas von Melitides?«

»Aus dem Plutarch,« erwiderte Johannes ruhig und trocken; »denn dieser erzählt uns seine Schwänke und Dummheiten. Doch würde ich den Melitides schwerlich im Plutarch gefunden haben, wenn ihn nicht lange vorher ein größerer schon unsterblich gemacht hätte.«

»Was weißt du Näheres von Melitides?«

Mit der gemessenen Würde eines Mannes, der mit dem Degen umgürtet um den Doktorhut disputiert, entgegnen der Lehrjunge: »Melitides war der[437] größte Esel des klassischen Altertums: wenn daher die Alten jemand als übermenschlich dumm bezeichnen wollten, so sagten sie: stultior Melitide, er ist noch dümmer als Melitides. Als Melitides eines Abends, während schon Licht angezündet war, heftig von den Flöhen gestochen war, löschte er rasch das Licht aus, weil er meinte, die Flöhe würden ihn nun im Dunkeln nicht mehr finden. Er wußte nicht, ob ihn sein Vater gezeugt und seine Mutter geboren, oder ob ihn seine Mutter gezeugt und sein Vater geboren habe. Soll ich Euch auch die Geschichte von seiner Brautnacht erzählen?«

»Nein! Ich kenne sie schon. – Also griechische Verse sind es, die du nachts beim Lebkuchenbacken liesest?«

»Allerdings; homerische Verse. Die Bücher, welche man Euch bringen wird, sind eine kleine Auswahl ganz derselben Autoren, die ich hier Euern Schrein schmücken sehe: Homer, Virgil, Tacitus und Sallustius – das sind meine Zauberbücher.«

»Und verstehst du diese Bücher?«

»Gewiß! sonst würde ich sie nicht lesen.«

»Und durch welche teuflische Zauberei hast du Latein und Griechisch gelernt, während du Stiefel schmiertest und die Werkstatt fegtest?«

Piscator faßte sich rasch. »Die Lüge erzeugt das Lügen,« dachte er, »doch wenn ich mich nur erst aus meiner einzigen Hauptlüge herausgelogen habe, dann will ich gewiß zur Wahrheit halten mein Leben lang.« Er erzählte: »Ich bin, wie Ihr wißt, eines armen Schweinfurter Schulmeisters Sohn, der mir frühe schon[438] einige lateinische Broten zuwarf, von denen er selber jedoch nicht satt werden konnte, und ich ebensowenig. Ich hatte noch nichts gelernt, als ich schon zu einem Küfermeister in die Lehre gegeben wurde. Doch den Ehrgeiz brachte ich von Hause mit, daß nur in den gelehrten Studien der höchste Ruhm zu gewinnen, daß nur ein lateinischer und griechischer Mann ein ganzer Mann sei. Da fiel mir die Grammatik Melanchthons in die Hände; schier lernte ich sie auswendig. Ich verkaufte meinen Sonntagsrock, um mir dieses kostbare Buch zu kaufen und andere Bücher dazu. Ich studierte so fleißig, daß mich der Küfer aus der Lehre jagte. Drauf that man mich, wie Ihr wißt, zu einem Schlosser. Träge schwang ich meinen Hammer auf dem Amboß, aber auf die Alten hämmerte ich los wie ein Cyklope. So hatte ich lauter Lehrmeister, bei denen ich nichts lernte, und in dem einzigen Stück, worin ich etwas gelernt, keinen Lehrmeister. Nicht durch die weiße oder schwarze Magie kam mir Latein und Griechisch angeflogen; ich habe mir's sauer errungen, heimlich und ohne Unterweisung, in mondhellen Nächten, beim verglimmenden Lichtstümpfchen, weil ich so thun mußte, weil ich unglücklich gewesen wäre, hätte ich es nicht gethan. Est Deus in nobis, agitante calescimus illo!«

Man hatte inzwischen die angeblichen Zauberbücher des Lehrjungen dem Scholarchen übergeben. Während er dieselben durchblätterte und Johannes gleichzeitig erzählte, wuchs des Alten Staunen bald über das, was er hörte, bald über das, was er sah.[439]

»Junge!« rief er wie toll: »Von wem sind die schriftlichen Randglossen hier zum Homer?«

»Sie sind von mir.«

»Und die lateinischen Verse vor dem Titelblatt?«

»Es sind meine Verse.«

Da ließ er das Buch starr vor Verwunderung auf den Tisch fallen. »Ein Lebzelterjunge, der nichts gelernt hat und von allen Lehrmeistern fortgejagt ist, macht seinen lateinischen Gelegenheitsvers so glatt wie Eobanus Hessus und kommentiert seinen Autor wie Lipsius und Scaliger!« Dann aber faßte den gewiegten Schulmann wieder plötzliches Mißtrauen. Er fuhr jäh auf. »Höre, Bursche! betrügen sollst du mich nicht! Ich will dich ins Gebet nehmen über deine selbsterrungene Weisheit. Setze dich neben mich. Aus dem richterlichen Examen wollen wir ein wenig ins gelehrte übergehen.«

Und nun ging es in der That an ein scharfes Turnier. Mancher Magister und Doktor wäre von dem Scholarchen aus dem Sattel gehoben worden; allein Johannes saß so fest, daß sein Gegenmann beim Anrennen zuweilen selbst die Bügel verlor.

Erschöpft warf sich der alte Herr zuletzt in den Sessel zurück, reichte dem Lehrjungen die Hand und sprach: »Gehe still nach Hause. Sprich zu niemand ein Wort über das, was zwischen uns vorgefallen. Sage übrigens dem Meister, ich hätte weder an deinen Büchern noch an dir etwas Schlimmes erfunden. Ich bin dein Handwerksbürge; ich will auch dein Bürge in der Gelehrtenzunft werden. Laß mich einsam sinnen,[440] was hier zu thun ist.« Und als Johannes das Zimmer verlassen, rief der Scholarch mit erhobenen Händen: »Welch ein Wunder hat Gott an diesem Menschen gethan! Ein Lebzelterlehrling, den niemand kennt, der ohne Schule aufgewachsen, ist einer der ersten Sprachgelehrten und Philosophen, einer der größten Humanisten Deutschlands!«

Dann sprach er leise vor sich hin, im Zimmer auf und nieder gehend: »Giotto von Bondone war ein Hirtenknabe. Indes er seine Herden weidet, zeichnet er mit dem Stabe ein Agnus dei in den Sand. Da kommt Cimabue zur Stelle und siehet, daß ein ungelernter Hirtenjunge leichthin in den Sand zeichnet, was ihm, dem größten Meister, kaum in reifer Arbeit gelingen mag. Cimabue aber nimmt den Knaben mit nach Florenz, daß er alle Maler und ihn selbst überflügle. Ein Giotto ist dieser Lebzelterjunge, und bin ich auch nicht Cimabue, so bin ich doch sein Bürge, sein Handwerkstaufpate: – jetzt will ich ihn zum zweitenmal aus der Taufe heben. Der Junge hat mich verzaubert. Bei Gott! er soll mir nicht länger Lebkuchen backen.«

Quelle:
Wilhelm Heinrich Riehl: Geschichten und Novellen. 7 Bände, Band 1, Stuttgart 1899, S. 415-441.
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