[Sandwiches-Männer]

[1141] [Paris, St-Etienne-du-Mont]


Mandarinenrot, köstlich vor dem nachmittägigen Wintergrau in der Mauerkreuzung des Pantheons sah ich sie stehn: abgestellte Tafeln von hommes-sandwiches, hochbeinig wie Mücken. Das Grau ließ mich nach der Façade von St. Etienne hinüberblicken, dort auf dem wundervollen Instrument dieses Bauwerks spielte es erst in allen seinen inneren Tönen weiter. Bettlerinnen auf den Stufen, eine sitzend ganz tief, eine mit einem kleinen Kind, auf halber Höh, oben am Eingang eine Alte auf ihren Krücken hängend. Ich trat ein. Und da waren sie das Erste, das ich sah, die Männer zu jenen Tafeln draußen. Ganz hinten angereiht, zu klein und zu groß, in den lichtblau gewesenen Röcken, fünf, sechs nicht mehr aufräumbare Köpfe, wie von unbeschäftigten Hunden aus Mülleimern wieder heraufgesucht und versuchsweise auf die krummen roten Tuchkragen dieser furchtbaren Uniformen aufgesetzt, damit sie bis auf die Knochen abgetragen würden. Die Musik nahm einen Anlauf und erschien oben irgendwo in den Wölbungen; hinter dem schönen schloßhaften steinernen Lettner glänzte es von Gold und Lichtern, bestrahlter Rauch verteilte sich langsam dazwischen hin, Priester bewegten sich umständlich in einer von der Architektur und den Schatten übertriebenen Entfernung, das Rot der Chorknaben erneute sich von Zeit zu Zeit, und wer, verwirrt von soviel Vorgang, den Blick weggehoben hatte, der fand[1141] sich, durch Bogen und Pfeiler hin, dem tiefleuchtenden Dunkel eines alten Glasfensters ausgeliefert. Und das alles und immer das Sich-oben-halten der Musik: wie sollte das nicht auch in diesen Herzen erregend sein, daß es aus ihnen aufstieg und Gefühle wärmte und Gedanken zu sich brachte... Gefühle wofür? Wasfür Gedanken? Erinnerungen. Aber was sind Erinnerungen ohne Zukunft? Der Eine, Große, sah gar nicht so schlecht aus, ein Charakterkopf, wie man früher gesagt haben würde, die Nase fuhr so schön unaufhörlich aus der Stirn heraus und wie sich Mund und Bart drunter zusammenordnete, wie auf einer römischen Büste. Man möchte fragen: Schicksal, kannst du dich noch erinnern, was du eigentlich da vorhattest? War's auf keine Weise mehr zu erreichen? Schäme dich, Schicksal, du müßtest am Ende doch Mittel haben –. Er fühlt, daß ihn jemand betrachtet, aber ich weiche aus, er findet mich nicht in der Menge und steht wieder da, zu groß, in seiner Uniform aus sauergewordenem Lichtblau. Lieber Gott und einer hat den staubigen Kopf hinuntergezogen, ein Kleiner, menschlich anzufühlen, in die dazugehörige Hand. Was mag in ihm vorgehen? Diese Fünf oder Sechs, wenn der Himmel es nur mit ihnen versuchen wollte, die Erde hats falsch gemacht, trotz aller Kirchenmusik und trotz des schönen Grau in ihrer Weihnachtsluft. Im Zurückgehen merke ich, daß draußen, bei den abgestellten Tafeln, einige andere Sandwiches-Männer stehn, die offenbar nichts auf Erinnerungen geben. Aber für Heilige, wenn sie einmal Lust hätten, sich ins Gedräng[1142] zu versuchen, wärs nicht eine herrliche Verkleidung? Ach ich wollte die sechs draußen wären zur selben Zeit die sechs drin in der Kirche gewesen, mittels einer solchen Herablassung; das war die Art zu sehen durch die das Mittelalter die Welt in Ordnung rückte.[1143]

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 6, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 1141-1144.
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