Kaufmannslehrling und Kommis

[195] Ruberoid G.m.b.H., Hamburg, Dovenhof. Von dieser Firma wurde ich als Lehrling aufgenommen. Weil ich schon zweiundzwanzig Jahre alt war, schenkte man mir das übliche dritte Lehrjahr. Ich lernte also zwei Jahre lang praktisch den Kaufmannsberuf. Das begann mit Botengängen und Adressenschreiben. Nach und nach wurde ich in höhere Büroarbeiten eingeführt. Schreibmaschine schreiben, Briefe ablegen, Führung des Kartenregisters, Buchhaltung, Spedition usw. Meine Schrift war außergewöhnlich schlecht und unsicher, obwohl ich schon zweimal Nachhilfestunden in Schreibinstituten genommen hatte. Das war mir recht hinderlich. Aber Herr Meyer, mein Chef, und meine anderen Vorgesetzten übten Nachsicht. Der erste Direktor der Firma hieß Alfeis. Ich bewunderte ihn als einen genialen und großzügigen Geschäftsmann und als gerechten Vorgesetzten. Von den jüngeren Angestellten war Freudling der Tüchtigste, ein siebzehnjähriger Kommis, mit dem ich eng befreundet wurde. Unter den weiblichen Angestellten tat sich das sprachkundige Fräulein Benecke hervor.

Es waren viele Angestellte in den einzelnen Abteilungen beschäftigt. In den weiten und bequemen Geschäftsräumen herrschte während der Arbeitsstunden emsige und ernste Betriebsamkeit. Waren die Abteilungschefs einmal nicht zugegen, dann benahmen sich die anderen freier und lauter, dann spielten auch manchmal die Mäuse. Und wenn ich zuweilen spät abends dort noch Briefe frankierte und sonst niemand mehr zugegen war als der eifrige Freudling, der still über seinen Büchern saß, dann spielten auch vierbeinige Mäuse, und es raschelte zwischen den Frühstückspapieren in den Papierkörben.

Bald war ich eingelebt, kannte die Leute und ihre besonderen Eigenheiten. Es war ein großes Stück Gemütlichkeit in diesem Kontorleben.

Die Firma war sowohl in ihrem geschäftlichen Gebaren wie auch in ihrer Haltung zum Personal hamburgisch vornehm. Einmal wurde ein Dampfer für uns gechartert, auf dem wir eine lustige und luftige Tagespartie unternahmen. – Ich erhielt als Lehrling kein Gehalt, aber zum ersten Weihnachten eine[196] große und zum zweiten Weihnachten eine noch größere Gratifikation.

Herr Alfeis bewilligte mir auch Sonderhonorare für eine Zeichnung und für einen Aufsatz, die ich in meiner Freizeit angefertigt hatte. Zeichnung wie Aufsatz stellten eine Propaganda für das Bedachungsmaterial Ruberoid dar und wurden zur Reklame verwendet.

Mit der Fabrik kam ich nicht in Berührung, aber man gab mir auf Wunsch Gelegenheit, das Dachdecken mit Ruberoid zu erlernen. Später wurde ich dann manchmal zur Kontrolle von Dacharbeiten in die nähere und weitere Umgebung gesandt. Das war jedesmal eine willkommene Abwechslung, bei der ich mich sehr wichtig fühlte.

Ich wohnte in der Großen Reichenstraße bei einer Frau Blome, die auch einen Privatmittagstisch führte. Meine ersten Ölbilder entstanden, ein Dachpanorama und ein Kriegsschiff. Ich dichtete und bekam die Gedichte von der Jugend, vom Kladderadatsch, von den Fliegenden Blättern meistens zurück, obwohl ich meine Begleitschreiben bald stolz, bald neckisch, bald überbescheiden, versuchsweise fast jedesmal anders abfaßte.

Mein Vater zahlte mir ein regelmäßiges Monatsgehalt und ermöglichte mir, daß ich abends eine Handelsschule besuchte, um mein Pidgin-Englisch zu verbessern und Spanisch zu lernen.

Auch Klavierstunde nahm ich. Bei einem alten Pianisten. Der hatte einen großen Kater. Als ich den einmal in den Schwanz zwickte, schob mich der Lehrer zur Tür hinaus und sagte, ich möchte nie wieder zu ihm kommen.

Nach dem Hafen und zu Seidlers ging ich immer seltener. Freudling hatte mich in eine neue Gesellschaft eingeführt, die in einer anderen Gegend hauste. Das waren ehemalige Kunstmaler, die nun als Anstreicher ihr Brot verdienten. Im übrigen aber ein freies Künstlerleben führten. Lustige Mädchen nahmen daran teil, so die Gärtnerstochter Tetsche aus dem letzten Hause Hamburgs, die auf der Vorortbahn zum Vergnügen die Notbremse zog und dann so unbezwingbar lachen konnte, daß ihr die Beamten verziehen.

Von den Malern war Hein Mark der Mittelpunkt. Eines Tages bekam er einen Auftrag. Alles jubelte, denn wenn Hein Mark Geld erhielt, dann hatten alle zu trinken und zu essen. Hein Mark hatte den Auftrag, einen Schrank einer Bordellwirtin gelb anzustreichen.[197]

Ich bat ihn, mich als Gehilfen mitzunehmen. Er lieh mir einen Malkittel und gab mir einen Farbtopf in den Arm. So zogen wir ins Bordell. Da die Wirtin aber noch schlief, mußten wir lange bei den Mädchen warten. Die bewirteten uns nun als Privatbesuch sehr gastlich mit Kaffee und Kuchen, und es war interessant, sie von der anderen Seite kennenzulernen.

In der Handelsschule wurde ich mit Willy Telschow bekannt. Er war Lehrling in einer Kaffeefirma. Wir schwänzten gemeinsam die Stunden, schimpften auf den knöchernen Direktor Beiden und trieben allerhand Allotria. Ich brachte ihn zu Freudling und Hein Mark. Wir lebten lustig und schwärmten begeistert.

Meiner Seemannsliebe Meta war ich inzwischen ganz entfremdet. Ich weiß nicht mehr, ob wir im Zwist geschieden waren oder ob ich sie einfach gemieden hatte. Einmal sah ich sie flüchtig wieder, ohne sie aber anzusprechen. Das war, als die Michaeliskirche abbrannte, das von den Hanseaten und von allen deutschen Seeleuten geliebte Wahrzeichen der Stadt Hamburg. Am 3. Juli 1906. Da war ich im Menschengewühl dicht vor der brennenden Kirche auf dem Kraienkamp. Neben mir stand die Frau des Türmers und winkte zum Turm hinauf zu ihrem Mann, der, durch die Flammen abgesperrt, von einer Brüstung herabwinkte. Bis er verbrannte.

Ich hatte die vorgeschriebene Kontrollversammlung versäumt und erhielt Nachricht, daß ich deswegen mit vierundzwanzig Stunden Arrest bestraft würde. Ein Unteroffizier in Waffen führte mich Zivilisten den weiten Weg nach Altona zum Militärgefängnis. Da aber an dem Tag die Zellen dort alle besetzt waren, ließ man mich wieder gehen und vertröstete mich auf andermal. Bei dem andernmal holte mich ein gemeiner Soldat ab. Der fragte, ob ich einverstanden wäre, daß er mich abtransportiere. Ich könnte als Unteroffizier ja eigentlich einen Unteroffizier verlangen. In seiner Abteilung wäre aber gerade kein Unteroffizier frei. Es lockte mich, den Gemeinen abzulehnen. Er war aber so hilflos und gutmütig, daß ich mit ihm ging. Unterwegs beschwatzte ich ihn, mit mir verbotenerweise in einer entlegenen Schenke einzukehren. Dort besoff er sich auf meine Kosten so sehr, daß er, nachdem er mich im Arrestlokal unter vorschriftsmäßigem Zeremoniell abgeliefert hatte, selbst abgeführt wurde. Man nahm mir die Hosenträger ab, damit ich mich nicht erhängen könnte. Ich verbrachte vierundzwanzig abscheuliche Stunden bei Wasser und Brot. Kaum erträglich,[198] obwohl meine Phantasie viele Spiele in der kahlen Zelle erfand.

Mit Telschow zusammen nahm ich 1906 Tanzunterricht bei Herrn Eckardt. Polka, Rheinländer, Menuett, Moulinette, Quadrille, Walzer. Ach Walzer! Ich gab mir die erdenklichste Mühe, aber Walzer lernte ich nie. – Als der Unterricht soweit fortgeschritten war, daß wir zum erstenmal mit den Damen zusammen tanzten, verliebte sich Telschow sofort in die gleiche Dame wie ich. Wir schwuren uns, es ehrlich abzuwarten und zu ertragen, für wen von uns »Schwälbchen« sich entscheiden würde. Es stand schlimm für mich, denn ich hatte krumme Beine, eine lange Nase und einen Gang, der ebenso unsicher war wie meine Handschrift. Telschow dagegen war ein stattlicher Bursche, der sich mit einer spaßigen Eitelkeit kleidete und pflegte. Schwälbchens Schwester nahm auch an dem Tanzkursus teil. Die beiden pflegten nach der Stunde mit dem Alsterdampfer heimzufahren. Um nun Schwälbchens Meinung über uns zu ergründen, steckten wir uns hinter Freudling. Der richtete es so ein, daß er zur gegebenen Zeit auf dem Dampfer neben unsere Tanzdamen zu sitzen kam. Da hörte er zwar, wie diese über uns sprachen und daß sie mich den »kleinen Frechen« nannten. Aber eine Stellungnahme war aus dem Gespräch nicht zu entnehmen. Und das einzige Resultat dieses Manövers war, daß Freudling künftig an unseren Liebeserlebnissen mit Schwälbchen als Dritter teilnahm.

Eine unbändige Tanzwut überfiel uns. Als der Eckardtsche Kursus beendigt war, machten wir alle öffentlichen und privaten Bälle mit. In den verschiedenen Sälen des Etablissements Sagebiel fanden allabendlich mehrere statt. Wie besuchten sie alle, indem wir uns hineinschlichen oder hineindrängten. Dann fielen wir häufig sehr auf, besonders ich, der ich den Walzerschritt nicht begriffen hatte und statt dessen höchst sonderbare und kühne Sprünge machte.

Mein bergmännischer Bruder richtete sich eine Wohnung in Lüneburg ein, weil er in der Heide nach Kali bohren sollte. Da zog ich denn zu ihm, und wir führten zusammen nachts ein flottes Junggesellenleben. Ich mußte morgens sehr früh aufstehen, um den Schnellzug nach Hamburg zu erreichen. Mein Bruder als Älterer und wohlbestallter Bergdirektor bezahlte, was wir im Wirtshaus verzehrten. Um mich dankbar zu zeigen, brachte ich ihm eines Nachts ein Mädchen aus Hamburg mit. Er schlief aber schon und nahm das Geschenk nicht an.[199]

Im Januar 1907 wurde ich Kommis und ließ mich nach Leipzig versetzen, wo ein Herr Kirchner die Ruberoidgesellschaft vertrat. Der wohnte mit seiner jungen Frau in einer hübschen Wohnung. Mir wurde dort ein Zimmer als Büro eingerichtet, wo ich nun auf der Maschine klapperte und andere Arbeiten verrichtete. Mit der prickelnden Aussicht auf ein Fenster vis-à-vis, hinter dessen durchsichtiger Gardine sich zuweilen eine schöne Dame unbeobachtet glaubte und an- und auszog.

Herr Kirchner war ein seriöser Reserve-Offizier. Er liebte das Reiten und reiste auch geschäftlich zu Pferd.

Ich meinte, die Tätigkeit eines Reisenden würde auch mir liegen und richtete an die Stammfirma nach Hamburg sehr bald den Vorschlag, man möchte:

Erstens. Mein Gehalt erhöhen (ich nannte eine verhältnismäßig hohe Summe).

Zweitens. Eine Stenotypistin neben mir engagieren, damit ich mich gelegentlich auch als Reisender betätigen könnte.

Drittens. Mir zu diesem Zweck ein Motorrad zur Verfügung stellen.

Ehe ich dieses Schreiben absandte, legte ich es Herrn Kirchner vor. Der meinte, ich wäre verrückt, die Herren in Hamburg würden mich auslachen. Aber er konnte und wollte auch nicht verhindern, daß ich den Brief absandte. Ich täuschte mich nicht in der Großzügigkeit des Herrn Alfeis. Die Antwort der Ruberoidgesellschaft besagte, daß mein Gehalt wesentlich erhöht und daß eine Stenotypistin zu meiner Entlastung engagiert würde. Herr Kirchner könnte mich auf Reisen schicken. Von einem Motorrad sehe man ab, weil ein staubbedeckter Motorfahrer nicht repräsentativ erschiene. Alles sehr einleuchtend. Ich freute mich. Herr Kirchner sandte mich auf Reisen, und ich erzielte einige nette Erfolge.

Ich wohnte nicht bei meinen Eltern, sondern hatte mir im Musikviertel nahe vom Büro ein Zimmer gemietet. Abends dichtete ich, malte oder schwärmte mit meinen früheren Bekannten, mit Martin Fischer, mit Bodensteins und dem wissensdurstigen Bruno Wille. Unser Verein, das »Nachtlicht«, existierte noch wichtig mit vollen Idealen. Ich hielt dort einen Vortrag über die Heilsarmee.

Leider muß ich aus Rücksichtnahme einige lustige Anekdoten aus dieser Zeit unterdrücken.[200]

Es muß in dieser Zeit gewesen sein, daß ich einen langgehegten Wunsch erfüllte, mich an der Universität immatrikulieren ließ. Bei meiner geringen Vorbildung kam nur Kameralia in Frage. Ich stand mit einer kleinen keramischen Zeitung in Verhandlung, die mich eventuell als Redakteur engagieren wollte. Durch die Hoffnung auf diesen Verdienst ermutigt, meldete ich mich an der Universität an und war nach dem feierlich dem Rektor geleisteten Handschlag Student. Schneiderofferten regneten auf mich herab. Studentenverbindungen luden mich als Gast ein und versuchten, mich zu keilen. Ich war selig. Als mein Vater von diesem Schritt erfuhr, machte er mir freundliche Vorwürfe. Wovon ich solch teures Studium bezahlen wollte und wozu es mir dienen könnte. Ich hörte nicht auf ihn, der es wirklich gut mit mir meinte. Weil der derzeitige Rektor der Leipziger Universität, Georg Rietschel, ein Verwandter von uns war, erwirkte mein Vater, daß meine Immatrikulation rückgängig gemacht wurde. Über diese Nachricht war ich so traurig, daß ich, von der elterlichen Wohnung zurückfahrend, auf dem Perron der Trambahn dicke Tränen weinte.

Am 14. September 1907 wohnte ich der Hochzeit meines Bruders in Freiberg i.S. bei. Das wurde eine umfangreiche, lustige und reiche Feier. Sowohl mein Vater wie auch ich hatten Tafellieder dazu verfaßt. Mein Bruder war tief ergriffen davon, daß ihm die Feuerwehr ein Ständchen brachte.

Ich wurde auf Wunsch nach der Frankfurter Filiale versetzt. Da hatte ich wie zuvor einen Chef über mir und eine lustige Stenotypistin neben mir. Das Geschäft lag in der Stiftstraße. Ich fand nebenbei in der Kleinen Eschenheimer Gasse ein freundliches Zimmer bei der freundlichen Wirtin, Frau Müller.

Die Häuser und Häuschen dieser Gasse waren altmodisch und hatten steile, ausgetretene Treppen. Die Wendeltreppe in meinem Haus führte kein Geländer, sondern es hing dafür ein loser Strick durch ihren Schacht herab.

An dem düsteren Ende der Kleinen Eschenheimer Gasse führten zwei heruntergekommene, verrufene Mädchen einen Tabakladen. Die lernte ich kennen und besuchte sie in der Folgezeit oft. Sie hatten nie Geld, aber auch fast keine Ware, so daß ich ihnen manchmal fünf oder zehn Zigarren mitbrachte, die sie dann wieder verkauften. Sie schliefen in einem engen, trostlosen Raum hinterm Laden. Dabei war das eine Mädchen hochschwanger. Der Schuster[201] gegenüber und dessen Anhang führten einen dauernden Kampf gegen die armen Dinger, warfen ihnen Stinkbomben in den Laden und schikanierten sie auf häßlichste Weise.

Ich war wieder mit Büroarbeiten beschäftigt, reiste auch in der Umgegend, wodurch ich den Taunus und viele hessische Orte kennenlernte. So fuhr ich nach Fulda und saß andermal auf einem Dach in Wiesbaden.

Einmal hatte ich auf einem Neubau Dachdecker zu beaufsichtigen. Als ich auf dem obersten Holzsteg des Gerüstes am Dach entlang schritt, löste sich eine Planke unter mir. Ich stürzte in die Tiefe, blieb in Parterrehöhe hängen. Die Planke schlug mir auf den Kopf. Niemand hatte den Vorfall bemerkt. Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, war niemand zugegen. Es war nichts Ernstes geschehen. Meine Nase blutete Aber daß mein Hut zerschlagen und daß meine Kleider blutig und zerrissen waren, das bekümmerte mich sehr. Ich erzählte mein Unglück dem Chef. Der war sehr aufgeregt. Nicht aus Besorgnis um mich, sondern weil mich die Stenotypistin noch nicht zur Versicherung angemeldet hatte.

Ich mußte meine Reiseberichte nach Hamburg senden. Die waren im Stil oft mehr literarisch als kaufmännisch. Man lächelte in Hamburg darüber. Einmal besuchte ich als Reisender in irgendwelchem Ort eine Weißbierbrauerei. Der Direktor hatte keinen Bedarf für Ruberoid. Aber er empfing mich sehr zuvorkommend, zeigte mir alle Einrichtungen der Fabrik und erklärte genau den Werdegang seines Bieres. Dabei tranken wir sehr viel von diesem Bräu. Ich verfaßte noch in gehobener Stimmung meinen Geschäftsbericht und schilderte darin sehr anschaulich alles, was ich soeben gehört hatte. Das Bestätigungsschreiben aus Hamburg enthielt dann einen leichten Hinweis, daß ich über Weißbier nicht ganz Ruberoid vergessen möchte.

Meine Wirtin war dahinter gekommen, daß ich bei den Zigarrenmädchen verkehrte, und machte mir ernste Vorhaltungen.

Ich hatte inzwischen reizvolle Kneipen entdeckt, wo es köstlichen, billigen Apfelwein gab. Dahin ging ich nun abends. Manchmal sangen oder spielten dort italienische Mädchen und Männer, die von Lokal zu Lokal zogen. Ich stieg einmal solch schwarzhaarigem Mädchen nach. Da bemerkte ich, daß diese Italiener alle in derselben Gegend wohnten und sehr treu zusammenhielten. Das flößte mir Respekt ein. Ich verfolgte das Mädchen nicht weiter.[202]

Meinen Freund Telschow hatte das Schicksal auch in die Nähe Frankfurts geführt, nämlich nach Eltville. Er war dort in der Sektfirma Mattheus Müller beschäftigt. Ich besuchte ihn jeden Sonntag. Wir saßen am Rhein, hörten den Nachtigallen zu, begeisterten uns an köstlichem Müller Extra und trieben angeheitert dann soviel Unfug, daß die Bürger des Städtchens sich über uns aufhielten. Wir wollten den Leuten einen Streich spielen und verabredeten etwas. Es war noch ein dritter Kommis, namens Krämer, im Bunde.

Telschow und Krämer verbreiteten bei den Redaktionen der beiden Lokalblätter und überall, daß am kommenden Sonntag der Kalif von Bagdad Eltville besuchen würde. Telschow beauftragte den Bahnhofskellner, dem Kalifen bei der Ankunft ein Tablett mit zehn Glas Bier zu präsentieren. Diese Aufmerksamkeit hatte ich einmal in Leipzig beim Empfang König Alberts beobachtet. Außerdem sandte ich einen versiegelten Brief nach Eltville mit der Aufschrift »Seiner Hoheit, dem Kalifen von Bagdad bei seiner Ankunft zu übergeben«.

Telschow schrieb, daß ihm niemand Glauben schenkte. Trotzdem fuhr ich am 14. Juni 1908 nach Eltville. Zunächst vierter Klasse nach Wiesbaden. Im Waschraum des Bahnhofs beschmierte ich mir Gesicht und Hals erst mit Vaseline, dann mit Indianerbraun. Ich setzte einen Turban auf, bestehend aus zusammengesteckten Windeln, die ich mir von den Zigarrenmädchen geliehen hatte. Von dem Turban herab wallte ein Stück violette Seide über meinen Überzieher. In die Seide war eine halbe Möwe eingestickt, eine Arbeit, die ich einmal nach chinesischem Vorbild versucht, aber ihrer Schwierigkeit wegen bald aufgegeben hatte. Ich trug weiße Glacéhandschuhe und darüber einen Ring mit einem pfenniggroßen Diamanten. Zum Schluß besteckte ich Turban und Mantel mit Medaillen aus meiner Sammlung. Als ich so maskiert den Perron betrat, erregte ich großes Aufsehen. Es war Hochsaison, und der Bahnhof voll von Menschen. Gruppen bildeten sich, die über meine Persönlichkeit stritten. »Das ist das Türkische Großkreuz«, sagte jemand und deutete auf eine Medaille an meinem Turban, die in Wirklichkeit das Münchner Kindl zeigte.

Das kurze Stück bis Eltville fuhr ich erster Klasse. Und war ganz allein im Abteil. Es war der Kölner D-Zug, der nur eine oder zwei Minuten in Eltville hält. Als wir dort einbogen, beugte ich mich weit aus dem Fenster. Ganz Eltville war am Bahnhof[203] versammelt. Krämer und Telschow standen im Frack auf dem Bahnsteig. Der Zug hielt.

Krämer öffnete die Coupétür. Ich entstieg.

Telschow überreichte mir einen Blumenstrauß mit einer langen Ansprache, die ich selbst entworfen hatte. »... Kalifen von Bagdad, desser hoher Ahne uns schon aus den Märchenbüchern unserer Kindheit ...«

Der Stationsvorsteher zog sich weiße Handschuhe an und schielte ängstlich nach der Uhr.

Als Telschow endlich ausgeredet hatte, wollte ich mit einer englischen Rede erwidern. Mir fiel aber vor Aufregung kein Wort ein und so quatschte ich ein sinnloses Kauderwelsch.

Der Stationsvorsteher wandte sich salutierend an Telschow. Ob der Zug weiterfahren dürfte? Telschow genehmigte, und er und Krämer geleiteten mich nun zu einer bereitstehenden Mietequipage. Derweilen war vielerlei passiert, was wir erst hinterher erfuhren. So hatte ein Vater seine Töchter geohrfeigt, weil sie über mich gelacht hatten.

Wir fuhren durch die Straßen. Die Menge stob hinter uns davon, um uns an einer anderen Ecke nochmals zu sehen. Gar zu gern wären wir in einem Restaurant abgestiegen. Aber es war ein sehr heißer Tag, meine Vaseline kam ins Rinnen, und mein Indianerbraun griff schon auf den Stehkragen über. So fuhren wir ans Ende des Städtchens, wo Telschow bei lustigen Damen wohnte. Mit denen feierten wir das Erlebnis mit Müller Extra, nachdem ich mich wohl zwanzigmal abgewischt und gewaschen hatte. Aber ich mußte mich häufig verstecken, denn nun pilgerten viele neugierige Leute herbei. Die Reporter der beiden Lokalblätter fanden sich ein. Der Briefträger brachte das Schreiben an den Kalifen, und der Bahnhofskellner entschuldigte sich, weil er die zehn Glas Bier nicht überreicht hatte. Krämer und Telschow erklärten, der Kalif wäre bereits per Auto weitergereist. Sie unternahmen Streifen durch die Lokale des Ortes und berichteten dann, was man über mich sagte. Es war interessant festzustellen, wieviel in solchen Fällen erlogen wird. Da war z.B. jemand, der behauptete, in meinem Coupé mit mir zusammen gefahren zu sein. Und er schilderte seine Unterhaltung mit mir.

In der Dunkelheit begleiteten mich die Freunde zum nächsten Ort. Ich fuhr nach Frankfurt zurück.

Eine der Eltviller Zeitungen brachte eine verärgerte Notiz: Es[204] hätten sich junge Burschen einen dummen Spaß erlaubt, einer braun angepinselt. – – Dann brachte die Rheinisch-Westfälische Zeitung unter dem Stichwort »Eine Köpenickiade« eine ausführliche, humoristische Schilderung des Vorfalls. Die war etwas entstellt oder ausgeschmückt. Zum Beispiel hieß es da u.a.: »Seine Hoheit, der Emir, beabsichtigte die benachbarte Virchowquelle zu besichtigen.«

Dann veröffentlichte ich folgendes Poemchen:


An die Eltviller

Habt Dank, ihr Bürger von Eltville.

Ihr kamt so höflich mir entgegen.

Es war schon längst mein hoher Wille,

Euch einmal etwas aufzuregen.


Ihr habt so freundlich mich gepriesen.

Und wenn die Stadt auch nicht geflaggt hat,

Hat sie doch ohnedies bewiesen,

Wie hoch man schätzt den Herrn von Bagdad.


Habt Dank! Aus eurem Wortgemunkel

Zieh' ich die Konsequenz mit Lachen:

Man braucht sich nur ein wenig dunkel,

Um euch mal etwas weiszumachen.


Einige Tage später saß ich mittags in meinem hochgelegenen Zimmer. Da rief meine Wirtin hinauf: Es wolle mich ein Herr sprechen. Ich trat aus der Tür und beugte mich über den Schacht der Wendeltreppe. Da sah ich unten einen vollbärtigen alten Herrn. Der hielt das Tau umklammert, war von den Stufen abgeglitten und pendelte nun an dem Tau. Ich eilte ihm zur Hilfe, geleitete ihn nach oben und fragte, was mir die Ehre verschaffe. Als er zu Atem kam, berichtete er, daß er schon bei Herrn Telschow gewesen wäre, der aber noch im Bette lag und nicht aufzuwecken war. Es handelte sich um folgendes. Der vollbärtige Herr war der Direktor der Virchowquelle. Er meinte, unser Kalifenstreich und der Artikel in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung wären von einer Konkurrenzfirma aufgezogen und gegen seine Quelle gerichtet. Ich schwur, daß ich von der Existenz einer Virchowquelle erst durch jenen Zeitungsartikel mir unbekannten Verfassers erfahren hätte. Aber er glaubte mir nicht recht. Es rührte mich, daß ein alter Herr[205] sich so erregt zu mir bemühte, und es schmeichelte mir, daß man unseren Scherz so ernst nahm. Deshalb versprach ich, eine berichtigende Erklärung in verschiedenen Zeitungen zu publizieren. Das tat ich dann auch, sehr ungern.

Das Leben war lustig, aber mein Frankfurter Chef war kein Hamburger, und ich wünschte mich fort.

(Ich nehme jetzt an gegebener Stelle wieder den Faden der Erzählung auf »Das Abenteuer um Wilberforce«.)

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 6: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 195-206.
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