Ein Letztes vom alten Meister Naz.

[360] Bevor ich von jenem Waldwanderleben als Schneiderbub ganz Abschied nehme, muß ich noch meinen guten Meister Naz zur Ruhe bringen. Erst von einem Besuch bei ihm will ich sagen, und dann sein Leben betrachten, das so schlicht und so vornehm zugleich gewesen ist. Es war zwar »fremd gemacht«, doch das Band zwischen ihm und mir ist nicht mehr gerissen. –

Im Sommer 1882 kam eines Tages eine muntere Stadtgesellschaft in mein Landhaus geschwirrt und lud mich ein zu einer Gebirgspartie in die heimatlichen Wälder.

»Mit Vergnügen!« sagte ich tief atmend.

»Aber Sie seufzen ja!« rief ein ältliches, doch rührsames Fräulein, das sie Komtesse nannten.

»Ich habe nur aufgeatmet,« war meine Entgegnung.

Die Partie war reich an hübschen Naturbildern, zu denen ich den mündlichen Text zu liefern hatte. Ich tat's nach bestem Wissen und Dichten. Die Herren waren teils übermütig, teils gelehrt und teils geistreich. Die Damen waren überaus gefühlsselig und poetisch gestimmt; erst als auf dem Rückwege ein großer Durst in sie kam und wir kein Wasser fanden, trat die Natur in ihre Rechte und etliche der Hübschesten und Liebenswürdigsten wurden launenhaft. Nur das ätherische, alte Komteßchen blieb in seiner schwärmerisch bonhomen Stimmung und ließ das Herz ausfließen über die lieben, guten Leute, so oft ein[361] zerzauster Hirtenjunge vorüberhüpfte oder ein altes, keifendes Weib vorbeihumpelte. Ich hatte tüchtig zu tun, die fortwährenden Erinnerungen und Vergleiche der Dame zwischen meiner Vergangenheit und den gegenwärtigen Waldleuten zu schlichten.

Nun kamen wir zu einem kleinen, einsam im Walde stehenden Hause. Eine Schüssel Milch oder Trinkwasser heischend traten wir in die dunkle Stube, und da drinnen saß ganz allein und still niemand anderer, als mein alter Meister Naz beim Schneidertisch.

Ich war unbesonnen genug, in der ersten Freude des Wiedersehens seinen Namen auszurufen und den guten Alten als meinen voreinstigen Lehrmeister der Gesellschaft vorzustellen. Da hatte ich was Schönes angerichtet! Der Naz hatte sich anfangs gestellt, als sehe und kenne er mich nicht und hatte sein Haupt mit den weißen Haarresten tief auf sein Lodentuch niedergebeugt; als er nun aber doch auf die alte Bekanntschaft eingehen mußte und mir treuherzig die Hand reichte: »Grüß' Gott, Peter! Er ist halt wieder gewachsen!« da brach auf ihn der Ansturm der Frauen los. Sie überhäuften ihn mit Artigkeiten und Fragen; sie gaben ihm Blumensträuße, die sie im Walde gepflückt hatten, und die eine wollte dafür von ihm eine Nadel geschenkt haben, die andere einen Faden; die Komtesse fahndete gar nach einer Haarlocke und legte hingegen Semmel und Zwieback und Schokolade auf den Tisch zu seinen Gunsten. Der Naz wußte sich vor Verlegenheit nicht zu helfen; soviel Unschickliches auf einmal war noch niemals über den alten Mann gekommen, als jetzt, da der Rudel Städter sein ärmliches, bescheidenes Wesen umgaukelte. – Was denn das für Leute sind, die mir der[362] ins Haus bringt! mochte er sich denken, was diese stockfremden Herrlichkeiten doch mit mir für ein Getue haben! Das Leben kunnt ich ihnen gerettet haben, just so treiben sie's. Man weiß nicht, wie man's nehmen soll, ist's ihr Ernst oder wollen sie einen foppen. – Ich wußte es freilich, es war ein wenig Neugierde, und ein wenig Koketterie, und ein wenig Duselei, und ein wenig Fopperei, und ein wenig wirkliche Herzlichkeit – aber in dieser Fassung nimmt sie der Bauersmann nicht. Er nadelte und sagte kein Wort.

Ableitend tat ich nun die Frage, ob die Frauen nicht was zu trinken haben könnten?

»Die Hausleute sind halt auf der Wiesen,« sagte jetzt der Natz, »und ich bin nur auf der Ster da und fremd und darf nichts hergeben. In einer Stund' krieg' ich meine Jausenmilch; wenn ihr wollt, dann kann ich schon damit aufwarten.«

Die Komtesse hatte über ein solches Anerbieten schon Tränen im Auge, aber die übrigen entschieden sich für das Wasser, das in einem großen Kübel neben dem kalten Feuerherde stand.

Und als sie getrunken hatten, setzten sie sich um den Tisch, so daß der Meister mit seinem Arbeitszeug eng zusammenrücken mußte, und betasteten und beschauten Schere, Pfrieme, Nadelkissen und fragten, ob er im letzteren etwa nicht noch eine von dem poetischen Schneidergesellen stecken habe? Und beguckten das Bügeleisen, ob es noch jenes wäre, das der Waldbauernbub geschleppt? Und betrachteten die Elle, ob mit derselbigen etwa der Lehrling – ?

Jetzt ließ der Meister das Nähzeug auf dem Knie ruhen, erhob sein Haupt und sagte sehr ernst und ruhig:[363] »Ich habe mehr als ein halb' Dutzend Lehrlinge gehabt, aber geschlagen habe ich keinen.«

Da hatten sie denn einmal was Neues gehört, die klugen Städter, die sich keinen Lehrling ohne Prügel denken können.

Plötzlich fiel es jetzt einer Dame ein, ich sollte mich spaßeshalber einmal neben den Meister hinsetzen und versuchen, ob ich noch schneidern könnte. Beifallsjubel der anderen, und ich wollte mich schon anschicken, ihnen ein possierliches Schaustücklein zu bieten, erstens des Spaßes halber und zweitens, um zu zeigen, daß ich das Handwerk noch nicht vergessen hätte. Der Mittelfinger meiner rechten Hand dehnte sich schon nach einem Fingerhut und in die übrigen Finger kam sogleich die Bewegung und Empfindung des Nadeleinfädelns, als wären nicht siebzehn Stunden, geschweige siebzehn Jahre verflossen, seit ich das Zeug aus der Hand gelegt. Plötzlich aber und fast unwillkürlich zog sich mein Arm zurück. »Nein, ich tu's nicht, ich kann's nicht mehr.«

Der Meister rieb sich die Augen; es wollte nicht mehr recht gehen mit dem seinen Zwirn, auch zitterte seine Hand schon, so daß es nicht ganz mehr die glatten, gleichen Stiche wurden, die einst dem Lehrbuben so anstrebenswert erschienen waren.

»Es ist Zeit zum Ausbruch!« gab ich nun zu bedenken und half den Damen, daß sie wieder wanderfertig wurden. Mit Mühe gelang es mir nach vielem Drängen, den Meister zu befreien, und so führte ich hernach meine Truppe waldabwärts gegen das Tal der Mürz. Als ich sie auf die breite Straße des Alpsteiges gelenkt hatte, stellte ich ihr vor, daß sie sich jetzt nicht mehr verirren[364] könne, daß sie dieser Weg ganz sicherlich zum Bahnhof leiten würde; ich müsse mich hier verabschieden, da ich im Walde noch Verwandte aufzusuchen hätte. Da die Komtesse sofort wünschte, auch diese kennen zu lernen, so verlegte ich das Haus der Verwandten rasch auf einen so unwirtlichen Berg, daß die Besteigung desselben den Füßchen einer zarten Dame unmöglich zugemutet werden konnte.

Endlich war ich allein und eilte nun in das Haus zurück, wo mein alter Meister arbeitete, um mich für meine wunderliche Gesellschaft zu entschuldigen und ihm vielleicht sonst irgendwie zu zeigen, daß ein braver Geselle – er sei wo und was immer auf Erden – seines Meisters nimmer vergißt. Er saß noch allein dort, denn die Hausleute hatten sich draußen auf der Wiese so sehr in das Heu verbissen, daß sie des alten Schneiders vergaßen, der in der dunkelnden Stube seiner Jausenmilch wohl mit Geduld, aber gewißlich auch mit Verlangen entgegensah.

Ich setzte mich nun zu ihm und auf meine Bemerkung sagte der Meister: »Ah na, den Stadtleuten ist das nicht aufzumessen, aber du hättest gescheiter sein können, Peter, und drauf eingehen, wie ich getan hab', als täte ich dich nicht kennen. Aber du bist halt schon doch über deinen Namenspatron, der hat seinen Meister verleugnet, du hast es nicht getan, schau, und das freut mich doch wieder. – Und noch mehr hat es mich gefreut, daß du – ich sag' halt gleich noch alleweil du zu dir, ich mag dich nicht anders heißen – daß du, sag' ich, vorhin, wie sie dich haben schneidern sehen wollen, nicht gleich zur Nadel hast g'rissen. Du bist sonst jetzt schon stark mit den Stadtleuten und habe ich wohl etwelches von dir gehört, was mir nicht gefallen will. Aber eins hast gottlob doch noch: Die[365] Arbeit hast noch in Ehren, mit dem Handwerk, das dir vorzeit dein Brot gegeben, treibst keinen Spaß. Das gefreut mich von dir. Sie hätten woltern gelacht dazu und ihre Ergötzlichkeit gehabt und ich hätt's nimmer vergessen können, daß ich einmal einem das Handwerk gelernt, der nachher damit für andere den Lustigmacher gespielt!«

»Wissen möchte ich's aber doch, ob ich noch was kann,« meinte ich nun und machte mich bereit zum Nähen, denn mich dünkte, daß es weder mir noch dem Meister schaden könne, wenn ich ihm die paar Stunden etliche Nähte besorgte, während sich seine alten Augen und Finger ein wenig ausruhen möchten.

»Ist recht,« sagte er, »probier's mit dem Ärmling da. Schau, greifst es nicht schlecht an; flink bist alleweil gewesen bei der Arbeit. Ich weiß es recht gut, just in dieser Woche wird es zweiundzwanzig Jahr, seit du bei mir eingestanden bist. Was ich dir im Handwerk gelernt hab', heut' kann ich's schier selber nimmer. Wer fünfzig Jahr Meister ist, der verlernt's wieder. Und ich kann bei keinem Meister mehr einstehen als Lehrling, mich verlassen die Augen schon. Bei den jungen Leuten ist das ein ganz neumodisches Tragen heutzutag', das ich nicht versteh'. Den alten Leuten in der Hinter (in der Einöde), die es nicht heikel raiten, denen bin ich noch recht. – Peter, du hast jetzt den Loden verkehrt auf dem Knie liegen; auf solche Weise kriegt die Naht gern Falten; und nur fest anziehen, sag' ich alleweil, der Bauernzwirn reißt nicht.«

So war ich auf einmal wieder mitten in der Schneiderschaft – in der Lehrzeit. Fast überkam mich ein Gefühl, wie bei jenem phantastischen Traum, von dem erzählt worden. Eine lichte Welt versunken mit Qualen[366] und Freuden, ein Leben mit bunten Dingen versunken und nichts mehr um mich, als der kleine kümmerliche Alltagskreis des bäuerlichen Handwerkerlebens. Aber den Weltbrauch, das Sinnieren, konnte ich doch nicht mehr lassen. Und so berechnete ich nun, da ich den Greis im langen Tagwerk vor mir sitzen sah, wieviel dem fleißigen und tüchtigen Naz seine fünfzigjährige Meisterschaft eingebracht haben könne. Wenn's gut ging, im Jahre hundertfünfzig Gulden Arbeitslohn, wobei der Meisterprofit von Gesellen und Lehrlingen schon mitgerechnet ist! Wenn ich's jetzt dem Meister gesagt hätte, daß er sich in seiner Lebenszeit mehr als siebentausend Gulden verdient habe – er würde seine runzeligen Hände zusammengeschlagen haben über das viele Geld und sich für einen Verschwender ausrufen, der in fünfzig Jahren mehr als siebentausend Gulden verzehrt und verbraucht! Alle Sonntage ein Seidel Wein beim Hausteinerwirt oder sonst wo, wenn er schon einmal eine besonders lustige Welt im Kopfe haben wollte. Er würde sich darob bittere Vorwürfe machen, denn sein Alter, das bereitete ihm Kummer.

Sind das nicht schlimme Zustände, wo der tüchtige und fleißige Handwerker nach fünfzigjähriger Arbeit auf diesem Punkte steht!

»Dir ist ja mein Fingerhut zu groß worden!« rief der Meister, indem er sah, daß das Messingkäppchen auf meinem Finger allzu locker war, um der Nadel in den festen Loden hinein den nötigen Nachdruck zu versetzen. »Doch nicht etwan, daß es dir schlecht geht, Peter?«

»Mager wird der Poet, aber gottlob, abgehen tut ihm nichts.«

»Meinst, daß dir das Handwerk besser anschlagt, zu[367] jeder Stund' kannst bei mir einstehen. – Geh', zeig her deine Arbeit ein wenig.«

Er nahm den Rockärmel, den ich zusammengenäht hatte, zog die Naht auseinander, hielt sie mir vor die Augen und sagte ganz leise: »Schau her da!«

Die Naht klaffte, die Stiche des grauen Fadens grinsten hervor.

»Vergessen,« sagte er mit seinem guten Lächeln, »vergessen hast das Handwerk noch nicht, das sehe ich, du machst es noch wie früher. Da hast ein Messer. Wenn du acht gibst, daß du mir den Loden nicht zerschneidest, so kannst die Naht auftrennen, sonst tu' ich's.«

»Auf das möchte ich nur wissen, ob der Meister sein Wort noch anhält – wegen meinem Einstehen!« so sagte ich nun mit einer ganz merkwürdigen Mischung von Ärger und guter Laune.

»Warum denn nicht?« sprach er, »du bist noch jung, und wenn ich dort anheben darf, wo wir vor siebzehn Jahren aufgehört haben, so getraue ich mich einen richtigen Schneider aus dir zu machen.«

Die Verhandlung wurde unterbrochen, es kam die Bäuerin nach Hause, und als sie mit der Schüssel in die Stube trat und meiner ansichtig wurde, rief sie aus: »Uh, Halbesel! jetzt sind zwei Schneider da! Nachher hab' ich zu wenig Milch!«

Alsogleich versicherte der gute Meister, er trinke heute keine, er sei noch rechtschaffen satt vom Mittag her. Gott möge es vergelten, wie er noch satt sei! – Hierauf stritten wir eine Weile um das Recht, wer dem andern die Jausenmilch überlassen dürfe, bis wir uns endlich dahin einigten: Wir nehmen jeder einen Löffel beim Stiel und essen zusammen,[368] so lange was da ist. Das war ein langweiliges Essen! Der Meister machte sich dabei mit dem Loden, dem Zwirn, dem Nadelkissen zu schaffen, fuhr heute und morgen einmal in die Schüssel; füllte den Löffel kaum halbvoll und kaute und schluckte nach jedem Löffelzug derart lange, als ob die saure Kuhmilch aus eitel Zwieback wäre. Mich verdroß es, daß er mich überlisten wollte, ich warf den Löffel weg und rief: »Vorhin da draußen auf dem Rain Wildkirschen essen und jetzt saure Milch drauf – das kunnt eine hübsche Metten geben!«

»Ja, wenn sie sonst niemand ißt,« meinte er, »Gottesgab' soll der Mensch nicht verschmähen.« Und machte sich mit größerem Eifer über die Schüssel her.

So habe ich's doch endlich erreicht, daß er zu seiner Jause kam.

Nun hatte ich aber noch ein Anliegen. Es war wohl Zeit, daß ich mich auf den Weg machte, wenn ich noch vor der Finsternis mein Nest im Tale erreichen wollte. So mußte ich endlich hervorrücken.

»Meister,« sagte ich und machte mir mit meinem Hutband zu schaffen, das ich löste, um es wieder knüpfen zu können, denn es gibt Augenblicke im Leben, wo man dem Nächsten nicht offen ins Gesicht schauen mag. »Meister,« sagte ich, »hat sich der Meister das kleine magere Fräulein angesehen, das vorhin bei der Gesellschaft war?«

»Die ihre Haare wie ein Mannsbild geschnitten gehabt hat?«

»Dieselbige. Das ist ein merkwürdiges Weibsbild gewesen. Wenn sie in einem Buche stünde, man müßte sagen, sie wäre erdichtet. Eine steinreiche Gräfin ist sie[369] und die hat mir das da mitgegeben, für einen armen Menschen, hat sie gesagt.«

Damit schob ich ein kleines Ding über den Tisch hin, er schob es aber mit dem Zeigefinger zurück und sagte: Ihm gehöre es nicht, er sei kein armer Mensch.

»Habe ich gesagt ein armer Mensch?« wollte ich mich verbessern, »dann weiß ich nicht, wo ich heute meine Gedanken habe, einem arbeitenden Menschen, sagte die Gräfin, muß sie alle Tage was geben. 's ist so ihre Gewohnheit.«

»Ein Arbeitender? Der braucht's nicht,« entgegnete der Meister kurz. »Peter, vor lauter Gutheit unredlich sein, das mußt ein andersmal nicht tun. Schau, wenn du mir offen sagst: Meister, Er ist schon ein alter Mann, ich will Ihm was schenken, so werde ich offen antworten: Dank' dir Gott, Peter, so lang' ich arbeiten kann, ist's nicht vonnöten. Geht's einmal nicht und du hast mehr als ich, dann wird's für keinen eine Sch and' sein, wenn du mir einmal was Gutes tun willst – und brauchen wir keine merkwürdige Gräfin dazu.« –

Fast gedrückt verließ ich das einsame Haus, das ich so selbstbewußt betreten hatte. Was er leistete, konnte ich nicht; was ich konnte, brauchte er nicht. – Was ich sein mag und was erist, das muß ich mir sagen: Er ist trotz allem und allem bis auf den heutigen Tag mein Meister geblieben.

Und als wieder eine lange Reihe von Jahren dahingegangen war, hatten sie ihn unter den Rasen gebracht, du oben. –

Bis ums siebzigste Jahr war er ein frischer, rüstiger[370] Mann gewesen, und um diese Zeit, da andere ins Greisenalter eintreten, begann für ihn noch einmal eine Art froher, einfältiger und frommer Kindheit. Von der Mühsal des biblischen Alters hat er nicht viel erfahren. Mit 50 Jahren noch Junggeselle, beging er mit 87 Jahren lustig die Hochzeit seiner Tochter. Etliche Tage nachher legte er sich schlafen.

Obschon der Naz in seiner Waldverborgenheit während der ganzen 87 Jahre der Welt nicht ein einzigesmal aufs Hühneraug' getreten war, so ist doch öffentlich von ihm die Rede gewesen. Zuerst hatte ihn der »Waldheimat«-Schreiber in seiner Wahrheit und Dichtung aufgezeigt, den guten Ignaz Orthofer, Schneidermeister zu Kathrein am Hauenstein. Und derselbe, der das erste Wort über ihn gesprochen, möchte auch das letzte sagen.

Wie 1860 der siebzehnjährige Waldbauernbub als Lehrling eintrat beim »Schneidernaz«, war dieser ein zierliches, rühriges Männlein von 45 Jahren. Er hatte schon eine starke Glatze und das Haar des Hinterhauptes begann zu grauen. Das etwas magere Gesicht mit der »Stubenfarbe« und den gütigen, ausdrucksvollen Augen war stets glatt rasiert, auf das legte er Gewicht. Wie beneidete ihn der Lehrling um den Bart, den der Meister wöchentlich wegzuwerfen hatte, während der Junge alle Fenstergläser fragte, ob bei ihm nicht endlich das erste Gränchen zum Vorschein komme.

Mehr als auf den Bart hielt der Naz auf ein seines Gewand. Sein zumeist schwarzes Tuchgewand saß ihm wie angegossen. Er mußte für sein Gewerbe ja selber der Auslagekasten sein, um die Konkurrenz zu besiegen, die damals zum Beginne der Gewerbefreiheit allenthalben[371] auftauchte. Im nahen Mürztale gab es Schneider, die in ihren Schaufenstern ganze Weltausstellungen veranstalteten. Das schreckte den Meister Naz wenig. Nicht darauf komme es an, wie die Hosen im Fenster liegen, sondern wie sie am Leibe sitzen. Und damit konnte er sich schon sehen lassen. Wenn nun zu dem adretten Anzug die schneeweiße Wäsche kam, die an Hals und Ärmlingen und auch hinter der offenen Weste hervorschimmerte, da gab es gar nichts Zierlicheres als den Meister Naz, der flink wie ein Reh bei den Stergängen noch lieber bergauf als bergab lief. Als Knabe war er bei Holzknechten Ziegenhirt gewesen und daher sein antilopisches Hüpfen gar leicht zu begreifen. Auf sonnigem Berghange bewohnte der Naz (wenn er nicht in Bauernhöfen auf Arbeit war) ein gemietetes Holzhäuslein, das er sich selbst instand hielt. Er fegte, er wusch, er kochte und was am eigenen Herde schon einmal gar nicht zustande zu bringen war, das kaufte er um bares Geld bei nachbarlichen Bauernhöfen. Geld hatte er immer in der Brieftasche, manchmal sogar bis zu zwanzig Gulden! Und dazu die Mär, daß der Naz noch ganz andere Reichtümer besitze, was er weiter nicht bestritt, weil sie ihm niemand nehmen konnte, denn das Sparkassebüchel war auf seinen Namen festgemacht. Er durfte das Büchel verlieren, es konnte ihm gestohlen werden, kein Mensch bekam in der Sparkasse zu Graz die zweihundert Gulden samt Zinsen, als der Herr Ignaz Orthofer, Schneidermeister zu Kathrein am Hauenstein. Nein, da konnte ihm niemand an, nicht einmal das Steueramt. Leute mit seinem Jahreseinkommen sind noch Freiherren. Nur, daß durch den Verrat eines neidischen Berufsgenossen der gute Ignaz, nachdem er 25 Jahre lang die menschlichen[372] Blößen unangefochten verhüllt hatte, für dieses christliche Werk der Barmherzigkeit plötzlich eine Erwerbssteuer von fünf Gulden zahlen mußte. Diese Neuerungen, die Gewerbefreiheit einerseits und die Erwerbssteuer anderseits, hatten dem Meister die »Segnungen der Neuzeit«, denen er sonst nicht feind gewesen, etwas verleidet. Geldgierig war der Mann nicht. Anf der Ster rechnete er im Tage höchstens fünfzig Kreuzer für sich und zehn Kreuzer für den Lehrling. Das Geschäftshaus Orthofer und Kompagnie brauchte also gerade keinen Buchhalter. In früheren Zeiten hatte er manchmal ja Wanderburschen aufgenommen, doch seit solche Schneidergesellen sich dann allmählich in der Gegend einnisteten und als selbständige Meister zu arbeiten begannen, schenkte er jedem anklopfenden Burschen einen Kreuzer und den Rat, sich davon zu machen. Und begnügte sich mit einem Lehrling, der nicht jeden Tag seine zehn Kreuzer wert war.

Wie aus Gesagtem schon ersichtlich ist, eine Gesellin hatte er nicht. Denn dieser Meister war, wie jemand launig sagte, selber Geselle, nämlich Junggeselle. Obschon er zeitweise recht gerne mit hübschen Mädchen schäkerte und tanzte, überlegte er sich's doch bei jeder länger, als sie warten wollte. Unter den Ortsgenossen war er einer der Angesehensten. Er warf sich nicht an den Erstbesten weg, hielt etwas auf sich und war sogar Kirchenmusikant! Das Flügelhorn blies er und man spottete oft lobend, daß es merkwürdig sei, wie dieses Schneiderlünglein aus dem Blech so helle Klänge hervorbringen könne. Seine liebste Körperübung und Zerstreuung – er gönnte sich solche aber nur an Sonntagnachmittagen – war das »Kegelscheiben« (Kugelschieben).[373]

Er war der beste Schieber in der ganzen Gegend und der verwegenste »Rater«, aber es ging nicht immer glatt dabei ab. Einmal verlor er an einem einzigen Nachmittage sechs Gulden. Das war der blutige Verdienst von zwei langen Wochen. Er weinte an demselben Abend über die abscheuliche Gewohnheit, Kugel zu schieben – gab sie aber nicht auf. Nicht lange Zeit nachher gewann er an einem Nachmittage mit Schieben und Raten einem armen Holzknechte den ganzen Monatslohn von neunzehn Gulden ab. Der Holzknecht zahlte seinen Verlust aus, sagte lachend, jetzt gehe er ins Wasser – und ging. Sein Lachen war so gewesen, daß dem Naz ein Schauder kam, er lief ihm nach, am Mühltümpel rangen sie eine Weile, denn der Holzknecht wollte sich von einem Schneider keine Spielschuld schenken lassen; endlich hatte er den Geldknollen doch fast meuchlings in seinem Rocksack, schob also das Inswassergehen auf. Der Naz floh wie ein Verbrecher und schwor sich pathetisch, das Kugelschieben aufzugeben. Am nächsten Sonntag war es derselbe Holzknecht, der ihn einlud zu einem »Bot Kegelscheiben«. Das nahm der Meister so, als hätte der Herrgott ihn des Schwures entbunden, und er kegelte. Die Kameraden spotteten, er habe sich nur das Kugelschieben verschworen, aber nicht das Kegelscheiben.

Bei der Arbeit pflegte der Naz wenig zu sprechen, wohl aber – wenn beim Zuschnitt das Tuch reichte und beim Anprobieren die Joppe paßte – lustig zu pfeifen. War das Tuch knapp oder die Joppe ein wenig uneben, was dem besten Schneider passieren kann, wenn die Leute an unrechter Stelle Höcker haben, dann pfiff er nicht, dann schwieg er mäuschenstill und suchte den Schaden mit Sorgfalt[374] zu decken. Schelten oder Fluchen habe ich nie von ihm gehört, höchstens daß er brummte: »Ein verdanktes G'frött!« aber da mußte der Schaden schon stark sein. So ernst er mit mir bei der Arbeit war, so gesprächig wurde er am Samstagfeierabend, wenn wir selbander durch Wald und Flur nach Hause trippelten, jeder einen Ranzen um, ich noch extra das Bügeleisen und die Elle in der Hand, und am Stock über der Achsel im blauen Sacktuch den Brotlaib, den uns die Sterbäuerin mitgegeben hatte. Dieser »Sterlaib« ist nach alter Sitte eine Aufbesserung, wenn der Handwerker mindestens eine Woche in einem Hause gearbeitet hat. Mein Lehrmeister pflegte – besonders wenn der Weg weit war – statt des Brotlaibes sich zwanzig Kreuzer auszubitten. Diese enthielten zwar weniger Nahrung, bedurften aber auch weniger Kraft zum Tragen. Auf solchen Heimwegen nun, im Angesicht des bevorstehenden Sonntags, waren wir beide lustig und der würdige Lehrmeister plauderte und scherzte mit dem windigen Lehrling wie mit seinesgleichen. In der Abenddunkelheit an Bauernhöfen vorbeikommend, geschah es sogar, daß wir zärtlich an die Fensterscheibe klopften, hinter welcher ein sauberes Dirndel geahnt wurde. Der Erfolg solch sinniger Abendgrüße war spärlich – ein bißchen Gekicher drinnen – das war alles. Zum Glück sind siebzehnjährige und fünfundvierzigjährige Schneider nicht auffallend unbescheiden.

An Sonntagen ging's in der Kirche zu St. Kathrein allemal hoch her. Mindestens eine Klarinette, eine Trompete und ein Flügelhorn gab's immer, und weil das Blasen nicht bloß volle Backen, sondern auch Durst macht, so gönnte sich mein Ignaz darauf gerne beim Hausteinerwirt[375] ein Seidel Wein. Wenn da nun etliche muntere Gesellen zusammenkamen, so gab's bisweilen, aber nicht oft, das Mißgeschick. Lustig war's, geplaudert, gelacht, gesungen wurde, dabei um ein Seidel zuviel, und am nächsten Tage war – Kopfwehmontag. Hätte er ihn zu einem blauen gemacht, so würde niemand etwas davon erfahren haben. Doch der fleißige Mann ging in die Arbeit, und so tapfer er den Kater unterzukriegen trachtete, das Beest guckte doch überall hervor. Und dann knurrte er wohl auf: »Der Wein ist schlecht!« da er doch tags zuvor gerade das Gegenteil gefunden hatte.

Unsere Verpflegung in den unterschiedlichen Bauernhäusern war stets ungleich gewesen. Hier die Fleischtöpfe Ägyptens, dort das Kraut- und Bohnenhäferl. Wo letzteres in wirklicher Armut seine Ursache hatte, litt unser Humor nicht darunter, wir halfen den Leuten fröhlich fasten und trachteten nur, mit der Arbeit ehestens fertig zu werden. Anders, wenn Geiz uns den Tisch kümmerte, da wurde der Meister unwirsch und einmal sogar dreist. Als solch eine geizige Bäuerin, bei der wir arbeiteten, eines Tages ins Dorf ging, um Tuch, Knöpfe und Zwirn einzukaufen, drückte ihr der Naz ein Sechserl in die Hand: »Wenn du so gut wärst, Bäuerin, und uns vom Bäcker etliche Semmeln tätest mitbringen. Aber nit gar z'lang ausbleiben!« Semmeln brachte sie nicht, doch die Kost war von diesem Tage an wesentlich zureichender. Am besten erging es uns stets beim Hausteinerwirt, da gab's des Morgens Kaffee, mittags und abends Fleisch, vormittags und nachmittags Wein. Da beeilten wir uns nie sonderlich, mit der Ster fertig zu werden. Einmal nach einer solchen üppigen Hausteiner Zeit waren ein paar[376] rührende Tage. Der Lehrmeister sagte mir, daß er in einer Hütte des Fischbacher Waldes etliche Tage lang zu tun habe, wo es etwas arm zugehen werde, weshalb ich derweil zu meinen Eltern heimgehen könne. Da antwortete ich: »Wegen dem, daß es arm zugeht, das macht mir nix. Wenn's der Meister kann aushalten.« – »Recht ist's mir schon, wenn du mitgehst!« sagte er, und wir gingen in die Fischbacher Gegend zum »Waldpeter«. Dieser Waldpeter war ein alter Taglöhner, der erst vor kurzem geheiratet hatte, und zwar eine alte Frau mit einem runzeligen, freundlichen Gesicht. Diese Frau war aber niemand anderes als die Mutter meines Lehrmeisters, von der er mir bisher nie gesprochen hatte. Wir machten den alten Leuten Lodenkleider. Die Verpflegung war einfach, aber voller Güte, nie ist mir das Bohnenhäferl so lieb gewesen, wie in dieser Waldhütte. Der betagte Sohn war mit seiner greifen Mutter kindlich zart und mit mir, dem Lehrling, ganz ausnehmend freundlich, dankbar dafür, daß ich die Ärmlichkeit so fröhlich mit ertrug. Als wir mit der Arbeit fertig waren, ging ich nicht weniger schwer als der Meister von der trautsamen Hütte fort. Die alte Frau machte ihm zum Abschiede mit dem Daumen das Kreuz übers Gesicht und tat dann dasselbe mir, als ob auch ich ihr Kind geworden wäre.

Das nur so etliche Beispiele davon, wie der Ignaz Orthofer gewesen während der vier Jahre, als ich bei ihm in Lehr und Arbeit gestanden. Viele Schilderungen dieses Buches hat Meister Naz noch gelesen; manchmal soll er dabei etwas sonderbar dreingeguckt haben. Verdenken kann ich ihm's nicht. »Das Zuschneiden hat er nicht bei dir gelernt, aber das Aufschneiden,« soll einmal jemand zu ihm[377] gesagt haben. Er hat die Echtheit des Bauernlodens bei meinen literarischen Joppen nie bestritten, nur mag ihm hie und da etwas zuviel Aufputz vorgekommen sein. Was das Zuschneiden anbelangt, das müssen, wie schon früher in diesem Buche dargetan, die Jungen den Alten heimlich abgucken. Mein Lehrmeister merkte wohl, daß mir dazu die Findigkeit fehlte, und hat öfters als einmal die papierenen Zuschneidemuster bei mir vergessen, als er fortging. Ich habe dieses bedruckte Papier wohl gelesen, aber nicht nachgeschnitten, und so hat er es mir öfter als einmal vorausgesagt: »Peter, aus dir wird nichts. Ich habe schon im zweiten Lehrjahre meinem Meister die Muster gestohlen!«

Eine so hohe Meinung Meister Naz von der Handarbeit hatte, an mir hat er sie als Lehrmeister und Erzieher nie geübt. Nicht ein einzigesmal versuchte er die Elastizität meiner Ohrläppchen, und so oft er über mich auch den Kopf geschüttelt haben mochte, mir hat er ihn nie geschüttelt. Mehr als mit einem gütigen Wort hätte er gewiß auch nicht mit einem Handschlag erreicht. Ich hatte vor dem Meister Naz einen großen Respekt, widersprach ihm nie mit einem einzigen Wort und machte die Arbeit, so gut es meine unermeßliche Zerstreutheit zuließ. Diese Zerstreutheit bei der Schneiderarbeit aber war nichts anderes als ein zu großes Gesammeltsein in der Poeterei oder in der »Peterei«, wie ein Jugendfreund, auf meinen Namen anspielend, bemerkte. Während der Lehrmeister manchmal fast händeringend bei mir auf gänzlichen Mangel an Intelligenz schloß, war doch ein Geistlein in mir tätig. Im Laufe der vier Jahre meiner Schneiderzeit sind über zwanzig Bände »Dichtungen« entstanden[378] – die sich alle noch vorfinden, während von den Gewandstücken aus meiner Hand Freund Schruf in Mürzzuschlag nur noch eine einzige alte Weste aufzeigt.

Als die Lehrjahre endlich vorüber waren, stand es trotz alledem so, daß der Meister mir per Woche neunzig Kreuzer versprach, wenn ich als Geselle bei ihm verbleiben wolle. Da kam nun das Unerhörte. Alles, was der Lehrling in langen Jahren und mit vieler Mühe erlernt hatte, warf er plötzlich von sich und lief davon. Und wurde ein Bettelstudent.

Wir gingen auseinander, kamen uns nun aber erst näher. Er war damals an die fünfzig Jahre und da schrieb er mir einmal in die Stadt, daß ihn der Kopf friere. Sein Haar war fast alle geworden. Der liebe Gott würde es nicht übelnehmen, wenn er Sonntags in der Kirche, wo andere mit ihrem Haarpelz dasäßen, eine Perücke trüge. Sie könne schwarz sein oder grau oder »suchsad«, das sei ihm gleich – nur nicht zu teuer. Ich schickte ihm aus Graz eine billige Perücke mit braunen Jünglingslocken. Wenige Wochen später kam die Nachricht, daß der Naz – geheiratet habe. Als ich ihn nachher in seinem jungen Eheglück einmal besuchte, erschien er mir mindestens um zehn Jahre jünger, aber nur von vorne gesehen. Am Nacken guckten die Reste des grauen Haares hervor, denn die Perücke war zu seicht. Obschon ich mich für einen Austausch einsetzte und obschon sein Eheweib soweit ganz gern einen gleichfärbigen Mann gehabt hätte, gab er die Perücke mit den braunen Jugendlocken nicht mehr zurück, sondern wußte sich anders zu helfen. Er stückelte hinten einen Streifen Katzenpelz an. Um diese Zeit erst, wo andere zusammenpacken und Feierabend machen, ging des[379] guten Orthofers eigentliches Leben an. Der Himmel segnete ihn mit zwei frischen, hübschen Kindern, einem Knaben und einem Mädchen, zur Freude und Stütze seines Alters. So spät sie gekommen waren, er lehrte ihnen noch sein Handwerk und erlebte ihre Versorgung. Während der kleine, noch immer behendige Greis daheim in der Waldhütte, wo sie zur Miete wohnten, der Nachbarschaft die Kleider ausbesserte, ging sein ebenso fleißiges Weib ins Tagewerk aus und seine Kinder schneiderten in Bauernhöfen und brachten ihren Erwerb dem Vater heim. Sein Sohn ist heute Postmeister zu St. Kathrein.

Zur Sommerszeit haben wir uns häufig gesehen und auch dem Achtzigjährigen war der fünf Stunden lange Weg nicht zu weit, um wieder einmal mit seinem längst verwichenen Lehrling über alte, schöne Zeiten zu plaudern. Schöne Zeiten! Wahrlich auch für mich! Das Leben war ja so jung, so einfach, so hart und so sorglos gewesen wie ein antikes Schäfergedicht. Wenn man so gar nichts besitzt, als sich selber und seine Jugendlust, und so gar nichts weiß von der glotzäugigen, heißhungerigen und doch so übersatten Welt – wenn man so ganz sich selbst ist, daß man kaum merkt, wie die Zehen frieren im schadhaften Schuh – das heißt Mensch sein! Mensch sein heißt ich sein. Später, wenn die Verhältnisse und Kreise sich weiten und verwirren, ist man alles Mögliche, nur nicht ich. Nur so selten ich. Wenn sie hätten Leben tauschen können, der alte Orthofer und der »berühmte Schriftsteller«, letzterer würde es kaum gewagt haben, sein in alle Weiten flachgezerrtes Leben dem Alten anzubieten für dessen einheitliches, kindliches, friedsames Seelensein. – Aber davon sprachen wir nie. Solch spießige Gedanken haben[380] im Gottesfriedenkreise eines alten Waldkindhauptes nicht Platz.

Das letztemal war es, daß der Naz von Freunden eingeladen wurde, nach Mürzzuschlag zu kommen, um sich dort einige gute Tage anzutun. Flink kam der Alte herüber in sein aus früheren Zeiten geliebtes Mürztal. Aber das war auch anders geworden. Der gewaltige Eisenbahnverkehr, die großartige Industrie, die Wunder der Elektrizität, die Fremden aus aller Welt, die sich an ihn drängten und allerlei krauses Zeug schwatzten – alles das und anderes ward ihm unheimlich. Obschon dankbar für die Gastfreundschaft, machte er sich bald aus dem Staube, um wieder in die reine Luft seines stillen Waldlandes zu kommen. Damals ist er auch, das erstemal im Leben, photographiert worden, und als sein Bild dann gar in den Zeitschriften aller Welt erschien und ihm diese zugeschickt wurden, war er geradezu erschrocken – was er denn angestellt habe, daß sie es plötzlich so mit ihm trieben! Da waren auch Gönner aufgetaucht, die dem Alten durch mancherlei Aufmerksamkeit Freude bereiteten. Ach, wie leicht war er zu erfreuen und wie dankbar sind solche Menschen! Hatte er gleichwohl in den Zeiten seiner tüchtigen Arbeitskraft großes Ansehen genossen in der Gegend, so wird doch ein alter, armer Mann bald der Niemand. Aber jetzt auf einmal, als sein Konterfei durch die Welt ging, als Fremde nach St. Kathrein kamen und dem Herrn Ignaz Orthofer nachfragten, da suchten die Einheimischen ihn hervor aus dem Winkel und staunten darüber, daß ihr kleiner, bescheidener Alter der Berühmteste der ganzen Pfarre war. Doch der Naz hatte über all diese Anfechtungen seinen Humor nicht[381] verloren. Es sei gerade ein bißchen zu spät, meinte er einmal, jetzt gehe ihm schon der Faden aus. Früher, wenn er so noble Kunden gehabt hätte, würde er sie nicht verschmäht haben.

Im nächsten Herbst fiel es ihm ein, er wolle das Berghaus auf der Pretuler Alm sehen, das den Namen seines einstigen Lehrlings trägt. In Begleitung seines Sohnes stieg der Sechsundachtzigjährige hinauf und wurde dort vom fürsorglichen Hauswart mit Jubel empfangen und beherbergt. In derselben Nacht erhob sich ein wilder Sturm, der den Berg mit Regen und Schnee überschüttete, so daß am nächsten Tage Vater und Sohn durch Gestöber und Windbrüche nur unter großen Anstrengungen zu Tale gelangen konnten. Einen launigen Brief schickte er mir, er sei stärker gewesen als der Sturm und auch ohne Bügeleisen festgestanden.

Im darauffolgenden Winter lud er mich zur Hochzeit seiner Tochter ein. Wir sollten, so schrieb er, doch noch einmal einen lustigen Tag miteinander begehen. Der Alte soll dabei zu den Fröhlichsten gezählt und weit über Mitternacht in der jubelnden Gesellschaft ausgehalten haben; ich habe nicht dabei sein können, der Schnee war zu tief, in den das Alpendörfchen eingebettet lag, kein Schlitten wollte fahren und kein Wagen konnte fahren. Im Frühjahre, so ließ ich sagen, würde mein Besuch nachgeholt werden.

Ja, dieses Frühjahr! Das war gerade die Zeit, wo der Rasen zu grünen anhub über dem alten Meister Naz.[382]

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 360-383.
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