Im Felsentale

[86] An den Lehnen der Voralpe und an den Hängen des Hochzahn und seiner Gletscherketten ziehen sich fort und fort die Waldberge hin in der Richtung gegen Abend. Von oben gesehen, liegen sie da in der Bläue, wie ich mir das Meer denke, bergend in ihren Gründen die ewigen Schatten und die seltsamen Menschen.

Eine Tagreise vom Tale der Winkel gegen Abend hin, fernab von der letzten Klause, ist jene Stelle, von der die Waldleute sagen, da sie die Welt mit Brettern verschlagen.

Mit Steinen vermauert, wäre besser gesagt. Senkrecht aufsteigende, tiefklüftige Wände schließen hier das[86] Waldland ab. Es beginnt der Urstock der Alpen, in welchem die Felsschichten nicht mehr liegen noch lehnen, sondern fallrecht gegen Himmel ragen. Ein Meer von Schnee und Eis mit Klippen, an denen ewige Nebel hängen, soll unabsehbar hingebreitet sein über die Riesenburgen, die da oben ragen und vormaleinst ein Eden gewahrt haben, das heute versteinert und in Starrnis versunken ist. So die Sage. Daß doch dieser wundersame Traum von einer einstigen verlorenen Glückseligkeit die Herzen aller Völker und Volksschichten durchdämmert!

Daß jenseits des Alpenstockes wieder menschenbewohnte Gegenden beginnen, das wollen mir viele Leute hier gar nicht glauben. Nur ein alter, schlau blinzelnder Kohlenbrenner sagt, sein Großvater hätte wohl einmal erzählt, es seien da hinten drüben Menschenwesen, die so hohe und spitze Hüte trügen, daß, wenn sie des Nachts auf den Bergen herumgingen, sie nicht selten damit einen Stern vom Himmel stechen täten. Und der Herrgott müßt des Abends jedmal sorgsam die Wolken vorschieben, sonst hätt' er längst mehr kein einzig Sternlein an seinem Himmel.

Der Schalk hat die Spitzhüte der Tiroler gemeint.

Wo nun dieses Waldland von dem Felsgebirge begrenzt wird, sind verrufene Stellen. Dort hat man schon manchen toten Gemsjäger gefunden, dem ein Körnlein Blei durch die Brust gegangen. Auch bricht, sagen die Leute, aus einer der zahlreichen Felsenhöhlungen zuweilen ein Ungeheuer hervor, das alles verschlingt, das aber im Gebirge einen unermeßlichen Schatz von Edelgestein bewacht. Wenn das Waldland noch eine Weile besteht, so muß ein heldenhafter Mann kommen, der das Ungeheuer[87] besiegt und die Schätze hebt. Bislang ist noch kein solcher dagewesen.

Ich meine, ich wollte es erkennen und nennen, das Ungeheuer ...

Den finsteren Sagen angepaßt ist jene Gegend. Sie ist ein totes Tal, in welchem kein Finklein will singen, keine Wildtaube will glucken, kein Specht will hacken, in welchem die Einsamkeit selbst ist eingeschlummert. Auf dem grauen Sandmoosboden liegen zerstreut Felsblöcke umher, wie sie von dem hohen Gewände niedergebrochen sind. Dort und da ist ein vorwitziges Fichtenbäumchen hinangeklettert auf einen solchen wettergrauen Klotz und blickt stolz um sich, und meint, es sei nun besser, als die anderen, halb verkommenen Gewächse unten auf dem Sandboden. – Wird nicht lange dauern, so wirst du verhungern und verdursten auf dem dürren Felsboden und herniederfallen. Hierum kann der Wald nicht gedeihen, und steigt doch wo eine schlanke, kerzengerade Fichte empor, so sind ihre Tage gezählt. Jählings kommt ein Sturmwind niedergefahren von den Felsmulden und legt den schönen jungen Stamm mitsamt der losgelösten Wurzel fast sanft hin über den Boden. Und da tut er jetzund, als wollte er eine kleine Weile sich nur ausrasten und bald wieder aufstehen mit seinen grünen Zweigen und weiter wachsen; und indessen fallen ihm schon die Nadeln ab und es schrumpft und springt die Rinde, und die Käfer lösen sie los, und nach einer Zeit liegt das nackte, bleiche Gerippe da, das immer mehr und mehr in die Erde hinein versinkt, aus der das Bäumchen einst hervorgewachsen war.

Und doch muß eine Zeit gewesen sein, in welcher der Wald hier glücklicher gediehen ist; es ragt ja noch[88] hier und da der graue, gespaltene Rest eines gewaltigen Tannenbaumes empor, oder eines uralten Ahornes, in dessen Höhlen das Wiesel wohnt, oder durch die der Fuchs den Eingang hat zu seiner unterirdischen Behausung.

Die Kiefer allein ist noch kampfesmutig, sie will die steilen Lehnen hinanklettern zwischen den Wänden, will wissen, wie es da oben aussieht bei dem Edelweiß, bei den Alpenrosen, bei den Gemsen, und wie weit es noch hinauf ist bis zum Schnee. Aber die gute Kiefer ist dich keine Tochter der Alpen, balde faßt sie der Schwindel und sie bückt sich angstvoll zusammen und kriecht mühsam auf den Knien hinan, mit ihren geschlungenen, verkrüppelten Armen immer weiter vorgreifend und rankend, die Zapfenköpfchen neugierig emporreckend, bis sie letztlich in den feuchten Schleier des Nebels kommt und in demselben planlos umherirrt zwischen dem Gestein.

Auf einem der niedergestürzten Felsblöcke dieses letzten Tales des Waldlandes steht ein Kreuz. Es ist unbeholfen aus zwei rohen Holzstücken gezimmert; es hängt stellenweise noch die Rinde daran. Still steht es da in der verlorenen Öde; es ist, wie die erste Kunde von dem Welterlöser, welche der heilige Bonifaz vormaleinst in den deutschen Wildnissen aufgepflanzt hat. Die Eidechse schlüpft auf dem Felsengrunde dahin; ein Reh trippelt heran mit seinen schlanken Füßen und blickt mit hochgehobenem Kopf und klugen Augen zu dem Kreuzbilde empor. Es will ihm schier bedünken, das Ding sei nicht so geradewegs gewachsen auf dem Stein; es hebt ängstlich an, hin und her zu lugen, es schwant ihm von jenem schrecklichen Wesen, das schlank wie ein Baum auf zwei Beinen einherzieht und den knallenden Blitzstrahl schleudert[89] nach ihm, dem armen, harm- und wehrlosen Tiere. Des Entsetzens voll schlägt es seine Beine aus und eilt von dannen.

Ich habe schon mehrmals nach der Bedeutung jenes Kreuzes gefragt. Seit Gedenken steht es auf dem Stein, kein Mensch kann sagen, wer es aufgestellt. Der Sage nach sei es gar nicht aufgestellt worden. Alle tausend Jahre flög ein Vöglein in den Wald und das brächte ein Samenkorn mit aus unbekannten Landen. Alle anderen Körner seien bislang verloren gegangen, oder man wisse nicht, sei die Giftpflanze mit der blauen Beere, oder der Dornstrauch mit der weißen Rose oder ein anderes Schlimmes oder Gutes daraus entwachsen. Das letzte Korn aber habe jenes Vöglein auf den Klotz im Felsentale gelegt, und daraus sei das Kreuz entsprossen. Man gehe zuweilen hin, um davor zu beten; manchmal habe das Gebet daselbst schon Segen gebracht, manchmal aber sei auch ein Unglück darauf gekommen. Man wisse also auch vom Kreuze nicht, ob es zum Heile oder zum Unheile sei. Den Einspanig sehe man noch am öftesten im Felsentale und er verrichte seine Andacht vor dem Bilde; aber man wisse auch vom Einspanig nicht, ob er Gutes oder Schlimmes bedeute.

Nach mehreren Tagen der Wanderung bin ich wieder einmal zurückgekehrt in mein Haus an der Winkel. Mehrmals über das Kreuz im Felsentale und den Einspanig nachdenkend, hab' ich im Winkel ein weniges erfahren.

Erstlich, wie ich eintrete in das Haus, wundere ich mich daß, daß meine sonst recht gutmütige Hauswirtin heute gar aufgebracht ist. Die Sache soll so gewesen sein: am Försterhause geht der Einspanig vorüber. Die Haushälterin[90] schaut just zur Tür hinaus und denkt: Ei, wenn sich nur mit diesem seltsamen Menschen einmal ein kleines Plaudern anheben ließ, daß eins doch ein bißchen was von ihm erfahren könnt'. Und kaum er so zufällig sein Haupt gegen die Tür wendet, lädt sie ihn artig ein, an der Bank ein wenig abzurasten. Er tut's, sie bringt ihm eilig Milch und Brot herbei und frägt ihn in ihrer Weise: »Ihr guter Mann Gottes, wo kommt Ihr denn her?«

»Von dem Felsentale hernieder,« ist die Antwort.

»Ihr Närrchen!« ruft das Weib aus, »das soll ja so viel eine böse Gegend sein. Da oben im Felsental ist die Welt mit Brettern verschlagen.«

Darauf der Einspanig: »Wo ist die Welt mit Brettern verschlagen? Gar auf keinem Fleck. Die Berge gehen weit, weit zurück hinter den Hochzahn, dann kommen die Hügelländer, dann kommen die Ebenen, dann kommt das Wasser. Viele tausend Stunden breitet sich das Wasser, dann kommt wieder Land mit Berg und Tal und Hügeln, und wieder Wasser, und wieder Land und Wasser und Land und Land –«

Hat ihn die Haushälterin unterbrochen: »Jesus, Einspanig, wie weit denn noch?!«

»Bis heim, bis in unser Land, in unseren Wald, in das Winkel, in das Felsental. – Ehrsame Frau, gibt Euch Gott Flügel und Ihr fliegt fort gegen Sonnenuntergang, und fort und immerfort, der Nase und der Sonne nach, so kommt Ihr eines Tages von Sonnenaufgang her geflogen gegen Euer friedsam Haus.«

Darauf die Hauswirtin: »O du Fabelhans, fable wen andern an, ich bin die Winkelhüterin. Die Milch schenk' ich Euch und redlicher alter Leut' Wort dazu: es[91] ist ein Fleck, da ist die Welt mit Brettern verschlagen. So ist der alte Glauben und in dem will ich leben und sterben.«

Der Mann soll darauf gesagt haben: »Weib, Eueren alten Glauben hoch in Ehren! Aber ich bin den Weg schon gegangen, gegen Niedergang hin und von Anfang her.«

Und dieses Wort hätte das Weib vollends erbittert; »Du bist eine Lugentafel!« soll sie gerufen haben, »auf dich hat der Teufel seinen Heimatschein geschrieben!«

Und hierauf sei der Mann kopfschüttelnd davongezogen.

Das gute Weib muß schon schwer auf mich gewartet haben, um sich weiters Luft zu machen. Als ich nach Hause komme, ruft sie mir über den Gadern (Bretterzaun) her entgegen: »Mein Eid, mein Eid! Was es doch auf der lieben Erde Gottes für Leute gibt! Jetzund glauben sie gar nimmer ans End' der Welt! Ich aber sag: unser Herrgott hat's recht gemacht, und ich bleib' bei meinem alten Glauben, und die Welt ist mit Brettern verschlagen!«

»Freilich, freilich Winkelhüterin!« gebe ich bei und steige über die Bretter des Hausgaderns: »Wohl richtig – mit Brettern verschlagen!«

Und so bleiben wir beim alten Glauben!

Quelle:
Peter Rosegger: Die Schriften des Waldschulmeisters. Leipzig 1913, S. 86-92.
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