Zweiter Akt

[615] Mutter Lückels Wohnstube.

Morgen. Rauch und Ruß vom Werke umdüstern die Szene. Draußen der Lärm der Arbeit. Das Zimmer wie am Tage vorher. Ein Korb Wäsche steht beim Ofen. – Über die Koloniestraße gehen Trupps Bergleute zur Zeche. Mutter Lückel hantiert mit Wäsche. Pittjupp steht in seinem Arbeitsanzug und schweren Stiefeln vorn am Tisch, ißt ein Stück Brot und trinkt dazu aus einem irdenen Topfe Kaffee. – Langgedehntes Tubengeheul.


MUTTER LÜCKEL. Da ... hörste? Mach hurtig!

PITTJUPP. Je ja ... Mißlaunig. Verdammdig noch mal! Immer die Schufterei ... Wo is denn mien Gezähe?

MUTTER LÜCKEL. Wo de's gestern hingeschmissen hast, du Fläz!


Pittjupp geht mürrisch zur Türe und hängt sein da liegendes Werkzeug über den Rücken.


MUTTER LÜCKEL. Nu vorwärts. Da trapst schon der Han-Franz und der Pittermann vorbei. Dat sünd immer die letzten.[615]

JAN BIGGEN Arbeitskittel, Gezähe auf dem Rücken, Mütze, schwere Stiefeln, guckt zum Fenster herein. Mudder ...! Tag, Mudder. Is Pittjupp ...? Ach, da bist du ja' noch. Kommt herein. Feder, Jung. Der Wittbräuke hat die Kontrolle, un der Schleicher meld' jeden, der zu spät kommt.

MUTTER LÜCKEL. I, fährst du auch ein ... wohl? Ich dacht doch, du gingst in die Gießerei.

JAN BIGGEN. Pscht ... Mudder, tu mir bloß den einzigen Gefallen un segg zu Trina nix. Sie will ja nich, dat ich einfahren soll.

MUTTER LÜCKEL. Nu drum ...

JAN BIGGEN. So 'n aaler Weibertratsch. Wo man Arbeit findt, muß man zupacken.

MUTTER LÜCKEL. Aber du wölkst doch in die Gießerei ...?

JAN BIGGEN. Se brauchen jetzt keine Leute. Da hat mich der Wittbräuke derweilen als Häuer angenommen. Der Lüüskirchen hat 'n Gedinge abgeschlossen, da helf ich. Wenn die Gießerei den großen Brückenauftrag makt, soll ich gleich rüberkommen.

MUTTER LÜCKEL. So is's doch gut.

JAN BIGGEN. Je ja ... aber der Trina sollst du nix seggen ... wohl? Se soll meinen, ich arbeit schon in der Gießerei, verstehst du? Sie hat so 'ne dumme Angst vor der Zeche.

MUTTER LÜCKEL. Gut, gut. Tube. Da, hört ihr?

JAN BIGGEN. Los, Pittjupp.

PITTJUPP. Och ... un wenn m'r nu mal nich ging' ...? Mal blaumachen möcht ich. Weißt du wat, Jan? Smiet dien Gezähe daher un geh mit upp die Wiesen. Mir lassen uns mal die Sonne in den Hals kieken.

MUTTER LÜCKEL. Nu ... so wat ... nu hört bloß den snack'gen Schlingel!

JAN BIGGEN gibt ihm einen Stoß. Nu, so 'n Fuullenzer! Los! Wenn du 'ne Fruu un zwei Kinners durchzufüttern hast, wer'n dir die Mucken vergehn ... Glück auf! Stößt Pittjupp[616] vor sich her und geht mit ihm über die Koloniestraße davon.

MUTTER LÜCKEL. Glück auf! Sie guckt ihnen durchs Fenster nach. Tube. Nu, hurtig, hurtig! Sie smieten euch noch dat Tor vor der Nase zu. Kommt zurück. Hähähä ... Die Sonne will er sich in den Hals kieken lassen. Dat möcht ihm so passen, dat Nixtun, hähä.


Hannchen und der alte Schniermann kommen herein. Hannchen wirft ein Kopftuch hin, welches sie umgebunden hatte. Der alte Schniermann stellt einen Tragkorb an den Arbeitstisch und beginnt Bündel Tabakblätter auszupacken.


HANNCHEN UND DER ALTE SCHNIERMANN. Ta-a-g.

MUTTER LÜCKEL. Tag zusammen. Nu, wat is ...? Hat er abgenommen, der Herr Finkensiep?

HANNCHEN Geld aufzählend. Ja ... alles hat er abgenommen. Aber sechs Groschen hat er affgetreckt.

MUTTER LÜCKEL. Sechs Groschen ...

DER ALTE SCHNIERMANN. Nu, se waren ihm zu schlecht gewickelt, seggt 'r –

MUTTER LÜCKEL. Zu schlecht gewickelt? Ja, wenn dat fuule Stück so liederlich arbeit't ...!

HANNCHEN. Wenn doch die Deckblädder alle zerfressen sünd ...

MUTTER LÜCKEL. Nee, wenn du keine Obacht upp die Arbeit hast. Aber ich werd dir mal dat Füür stakeln. Dat Rumtollen upp den Abend hat jetzt ein Ende, sonst kommt der Knüppel ...! Holt den Stock hervor.

HANNCHEN. Mudder ...! Mudder ...!

DER ALTE SCHNIERMANN. Aber Mudder, sie makt doch schon ihre Arbeit. Und hier ... Matrial hat sie auch. Zwei Mille Pflanzen soll sie maken, seggt d'r Herr Finkensiep.

MUTTER LÜCKEL. Da mak dich nur gleich dran. Vorwärts an dienen Disch! Ich wer dich man wedder zu Zucht un Ordnung bringen!


[617] Hannchen setzt sich weinend an ihren Tisch und beginnt Tabakblätter zu rippen.


DER ALTE SCHNIERMANN. Wo is denn mien Kaffee, Mudding?

MUTTER LÜCKEL stellt ihm einen irdenen Topf hin. Dahier.

DER ALTE SCHNIERMANN kauend und trinkend. Hähä ... Wat so die Kaufmannslüüt sünd, die wissen schon Bescheid ... hähä. Un nu der Finkensiep! Da poddelt er in die Sigarrn rum un lamentiert über die schlechten Preise, un denn makt 'r einen zum Spitzbuben un seggt, mir hätten die hälftigen Deckblädder weggeklaut, un denn soll's nich seine Einlage sein ... und dabei treckt er man immer einen Groschen nach dem annern ab ... hähä.

MUTTER LÜCKEL zählt das Geld auf den Tisch und steckt es zaghaft ein. Un von die paar Groschen soll man euch nu durchfüttern. Wenn ich den Jung nich hätt un dat Lies ...

DER ALTE SCHNIERMANN wichtig. Na, un miene Pension, Mudder Lückel.

MUTTER LÜCKEL grob. Ach, du mit diene paar Groschens! Die ißt du ja so glatt upp, da blievt auch nich ein Penning för mich.


Der alte Schniermann knurrt verdrießlich in sich hinein.


LANGENSCHEIDT vor der Türe, Reitgerte, Zigarre; spricht mit seinem Hunde. Da, geh los ... Und verlauf dich man nich, sonst ... Gertenbieb. He, dat ihr mir den Hund gehen laßt, ihr verflüchtigen Bengels, sonst setzt et wat ... wohl? Kommt herein. Tag zusammen.

DER ALTE SCHNIERMANN wischt eilig einen Stuhl ab. Tag, Herr Langenscheidt ... Wenn Sie zu sitzen belieben, Herr Langenscheidt ...?

LANGENSCHEIDT. Danke, Vadder Sniermann, na bist du auch noch immer upp diene alten Beine, he?

DER ALTE SCHNIERMANN. Je ja, Herr Langenscheidt, et geht man so von einem Dag upp den annern, herr Langenscheidt.

LANGENSCHEIDT Zigarre. Da ... haste 'ne Zigarre.[618]

DER ALTE SCHNIERMANN nimmt sie. Schön' Dank, Herr Langenscheidt, schön' Dank.

LANGENSCHEIDT. Tag, Mutter Lückel.

MUTTER LÜCKEL mürrisch. D-a-g.

LANGENSCHEIDT steht bei Hannchen, auf deren Arbeitstisch gelehnt. Nu, Hannchen ... hähä ... hähähä.

HANNCHEN verschämt in sich hineinlachend. Hihihi.

LANGENSCHEIDT. Wickelst du schon wieder dat Giftzeug ... he? Mußt du dir denn deine Lunge ruinieren, dat die Arbeiters wat zu smöken ham ... wat? Wie könnt Ihr dat bloß dulden, Mudder Lückel?


Mutter Lückel brummelt etwas.


HANNCHEN. Je ja ... Wenn ich nich müßte, Herr Langenscheidt ... Aber wenn man doch nu einmal muß ... nich wahr? Na, sehn Se.

MUTTER LÜCKEL wütend. Wirst du den Mund halten! Wat du tun sollst, hat dien Mudding zu seggen. Un jetzt pack dien Sach un geh naus!


Hannchen packt ängstlich ihr Gerät zusammen und läuft in die Nebenstube links. Der alte Schniermann macht verstohlen Zeichen großen Schreckens.


LANGENSCHEIDT. Na nu ... dat geht wohl auf mich, Frau Lückel? Wissen Sie vielleicht, wen Sie vor sich ham? Wenn man mit euch mal 'n bißken betulich ist, dann denkt ihr gleich, ihr könnt frech werden. Ich bin kein Bergmannsjung, verstanden!

MUTTER LÜCKEL eingeschüchtert. Ich ... ich hevv bloß mien Kind nausgeschickt, Herr Langenscheidt. 'ne Frechheit wollt ich mir nich erlauben.

LANGENSCHEIDT. Das will ich mir auch ausgebeten ham! Schlägt wütend mit der Gerte auf den Tisch; geht zur Türe, kehrt plötzlich wieder um. Mutter Lückel, was is denn in Euch gefahren, he?

MUTTER LÜCKEL bricht in Tränen aus. Gar nix, Herr Langenscheidt ...[619] gar nix. Ich will bloß, daß mien Döchter ... un se sollen ehrbarlich aufwachsen, dat uns keiner wat vorwerfen kann. Un ... un dat's nich richtig, Herr Langenscheidt, daß Sie uns' Hannchen abends hier aus der Wohnung holen.

LANGENSCHEIDT verlegen. Verflucht ... Scherzend. Aber. Mutter Lückel, nu tun Sie man nich so dumm, wohl? Wat is denn dabei? 'n bißken spazieren waren wir. Dat wird man doch noch dürfen. Et war ja Vollmond, Mudder Lückel ... hähä.

MUTTER LÜCKEL. Je ja ... ich weiß Bescheid.

LANGENSCHEIDT. Nu seien Se man wieder betulich, Mutter Lückel. Patscht ihr auf die Schulter und schüttelt sie gemütlich. Seien Se wieder gut ... Segg mal, Vadder Sniermann, is dat nich 'ne snack'ge Fruu ... he?

DER ALTE SCHNIERMANN. Nu, Herr Langenscheidt ... Sie wer 'n mich dat nich iebelnähmen, aber ... 'n jeder Mensch hat seinen Dummstolz, sehn Sie. Un ... un mir Arbeitsleute ham auch unsern Dummstolz. Ihr Vadder will, dat Sie 'n braver Mensch werden sollen ... dat is Ihm Vadder sein Dummstolz. Un ... un mir wolln nu, dat die Mädchens ehrbarlich blei'm sollen, sehn Sie ... dat is unser Dummstolz ... ja.

LANGENSCHEIDT. So, segg mol, weißt du, wo die Koloniekneipe is?

DER ALTE SCHNIERMANN. Jawoll, Herr Langenscheidt, jawoll.

LANGENSCHEIDT gibt ihm. Hier ... haste fünf Groschens. Geh zum Deufel.

DER ALTE SCHNIERMANN. Jawoll, Herr Langenscheidt, jawoll. Geht ängstlich hinaus.

LANGENSCHEIDT zündet neue Zigarette an; sitzt da. Wissen Sie, Mutter Lückel, ich wollt schon lange mal mit Ihnen reden ... wegen Hannchen, ja. Dat geht doch nich, Mutter Lückel. So 'n hübsches Mädel, un sitzt den ganzen geschlagenen Tag bei der Giftarbeit.

MUTTER LÜCKEL. I, wat da, Herr Langenscheidt. Sie muß doch[620] wat arbeiten. Hier in der Gegend sitzen schon die kleinen Kinners beim Sigarrnwickeln.

LANGENSCHEIDT. Un wenn sie sich die Schwindsucht dabei holt, ham Sie se auf dem Gewissen. Jawoll, Mudder Lückel.

MUTTER LÜCKEL. Ja aber ... wovon sollen wir leben?

LANGENSCHEIDT. Gibt's denn gar keine andre Arbeit, Deufel noch mal! Geht umher.

MUTTER LÜCKEL. Ich wüßt nix. Uns' Trina verdient ja mit 's Waschen einen schönen Batzen Geld. Aber dazu is Hannchen zu schwächlich. So sünd wir aufs Sigarrnwickeln gekommen, denn die Sigarrn, sehn Sie, die wird sie bald los ... ja.

LANGENSCHEIDT. Na ... kann sie sich denn in Dortmund nich 'nen Erwerb suchen?

MUTTER LÜCKEL. Ach, dat ham wir alles schon versucht. Aber da sünd upp so 'ne Stelle mit leichte Arbeit auch immer mehr, wie sie bräuken.

LANGENSCHEIDT. Wissen Sie, Frau Lückel ... ich würd mich ja mal für Sie um Ihr Hannchen umtun ...

MUTTER LÜCKEL. Sie ...? Herr Langenscheidt, da segg ich, dat war ja so edel von Ihnen ...

LANGENSCHEIDT. Na, laßt man, Mutter Lückel, hähä. Es kostet doch bloß 'n Wort ... also. Ich hab sogar schon so wat ... wenn ich bloß wüßt, wie Sie darüber denken, Mudder Lückel.

MUTTER LÜCKEL. Hm. So, so. Mißtrauische Blicke.

LANGENSCHEIDT. Da kenn ich in Dortmund 'ne Putzmacherin. Die sucht 'n anstelliges Mädchen, die dat Hüteputzen lernen möcht. Ob dat nix für Hannchen wäre?

MUTTER LÜCKEL abwehrend. Eh ... eh ...

LANGENSCHEIDT. Seien Se nich dumm, Mutter Lückel. So 'ne Putzmacherin in den großen Städten am Rhein verdient viel Geld. Jawoll. Da gibt's welche, die bettelarm waren, und auf einmal ham sie 'n Bankkonto un fahren auf Gummirädern.[621]

MUTTER LÜCKEL. I, hört bloß man ...! Un dat alles ham sie an die Hüte verdient?

LANGENSCHEIDT. Na, woran denn sonst?

MUTTER LÜCKEL ängstlich. Nee, Herr Langenscheidt, dat is nix für uns' Hannchen. So veel Geld, dat verdient sich nich ehrbarlich. Nee, nee ... da bleibt sie besser in ihren armseligen Verhältnissen.

LANGENSCHEIDT. Na, wie Sie wollen, Mutter Lückel. Ich hab ja nix dabei. Ich mach bloß 'nen Vorschlag. Ach, ich meine, wenn 'nem Menschen so die Gelegenheit geboten wird, höher zu kommen, da soll er doch zupacken. Wat?

MUTTER LÜCKEL. Je ja ... da is uns' Hannchen auch nich anstellig genug, denk ich.

LANGENSCHEIDT. Dat Putzmachen lernt Hannchen in 'n paar Monaten ... Wie? ... Wohl?

MUTTER LÜCKEL überlegend und zaghaft. Sehn Sie, Herr Langenscheidt, dat dürfen Sie von mir nich denken, dat ich mienem Kind im Wege stehen wollte, wenn et sich verbessern kann. Da müßt Mudder Lückel eine schlechte Mudder sein, un dat bün ich nich. Aber mien Kind darf auch kein schlechtes Kind sein, un wenn wir doch den Arbeitslohn förs Sigarrnwickeln nich entbehren können ...

LANGENSCHEIDT. Na, nu hört schon auf, Mudder Lückel, haha! Die paar Kröten ...! Soviel hab ich immer in der Westentasche, wie dat is.

MUTTER LÜCKEL stutzt. Nee, Herr Langenscheidt, da muß ich danken, sehn Sie. Geld schenken ... för uns' Hannchen Geld schenken, dat weiß ich wohl, wie man dat nennt. Und dat sollen Sie bei Mudder Lückel nich.

LANGENSCHEIDT steht beschämt, wirft dann wütend den Zigarettenstummel hin, zündet eine neue an und geht verdrießlich umher; stehenbleibend. Na, Mutter Lückel, nu sind Sie wieder böse ... he? Hähä.

MUTTER LÜCKEL an ihrer Wäsche hantierend. Nee, Herr Langenscheidt, dat nich ... aber ... kein Wort mehr möchten Sie davon seggen, Herr Langenscheidt.[622]

LANGENSCHEIDT. Gut, gut ... hähä. Umhergehend. Seggt mal, wat macht Pittjuppche ... he?

MUTTER LÜCKEL. Nu, eifrig is er. Aber er verdient man zuwenig als Schlepperjung. Ja, wenn sie ihn als Häuer nähmen, ja dann ...

LANGENSCHEIDT. Na, dat sollt sich doch machen lassen. Da wer' ich mal mit dem Steiger reden, der hat dat doch in der Hand.

MUTTER LÜCKEL. Ach, wenn Sie dat tun könnten, Herr Langenscheidt ...

LANGENSCHEIDT. Natürlich. Gleich wer' ich mit Wittbräuke reden. Der seggt schon ja, darauf können Sie sich verlassen.

MUTTER LÜCKEL. Herr Langenscheidt, ich würd Ihnen so dankbar sein ...

LANGENSCHEIDT. Schon gut, Frau Lückel, schon gut. Kein Wort weiter ... Ja, ja, als Karrenschieber bringt er nich viel nach Hause, aber als Häuer ... da kann er doch, wenn er 'n bißchen hurtig is, dat Doppelte auf dem Lohnzettel ham.

MUTTER LÜCKEL. Nu, dat wird wohl sein. Un dat wär eine Hülfe för uns arm Lüüt.

LANGENSCHEIDT. Wat die Hannchen am Zigarrenwickeln verdient, bringt 'r doch sicher. Der Hannchen ihre paar Pfenning habt Ihr dann nich mehr nötig.

MUTTER LÜCKEL stockend. Ja, ja ... dat wohl! ... hm.


Pause.


LANGENSCHEIDT Lache. Sie denken nu: wat er wohl haben mag mit Hannchen ... wat? Aber nix, Mudder Lückel; 's is bloß so 'ne Marotte von mir. Ich möcht wat för dat arm Mädel tun, sehn Sie.

MUTTER LÜCKEL. Herr Langenscheidt, wenn Sie dat mit Hannchen so ehrlich meinen wie mit uns' Pittjupp, da sollen Sie nich denken, ich wollt Hannchen im Wege stehn. Nee, dat nich, un wenn sie will ...[623]

LANGENSCHEIDT. Na, dat wird sie schon wollen, Mudder Lückel.

HANNCHEN kommt herein. Ich wollt mir bloß 'ne Lage Deckblädder holen, Mudding.

LANGENSCHEIDT. Nu segg mol, Hannchen; dien Mudding frögt dich: möchst du nach Dortmund, Putzmachen lernen ... wohl?

HANNCHEN. Ob ich möchte ... ich darf je doch nich, Herr Langenscheidt.

MUTTER LÜCKEL. Ja, sühst du, Hannchen. Dien Mudding will bloß, dat du brav un rechtschaffen bleibst Un wenn du dat büst, dann will sie dich nich hindern ... nee, nee, dann segg ich: Gottes reichsten Segen.

LANGENSCHEIDT. Also, Hannchen ...

HANNCHEN. Nu, ich möcht schon ...

MUTTER LÜCKEL. So geh und sieh, dat du wat Tüchtiges lernst.

LANGENSCHEIDT. Hahaha. Na, dat war endlich mal 'n Wort, Mutter Lückel –

HANNCHEN in die Hände klatschend. Ach nee ... soll dat sein, Mudding! Mien leev Mudding! Da kann ich gleich heute miene Sachen packen un nach Dortmund rüber gehn?


Langenscheidt macht ihr vergebens Zeichen.


MUTTER LÜCKEL stutzt. Diene Sachen packen ... Ei wie?

HANNCHEN. Nu ja ... weil ich doch nun nach Dortmund zur Putzmacherin zieh.

MUTTER LÜCKEL. Du sollst aus dem Hause ...?

HANNCHEN. Herr Langenscheidt seggt doch ...

LANGENSCHEIDT verlegen. Nee, nee, Mudder Lückel, hähä. Dummes Gerede ...! Dacht hab ich mir ja freilich, dat Hannchen gleich nach Dortmund zöge, aber ... Wirft die Zigarette weg. Verdammt!

MUTTER LÜCKEL. Dat lütte Ding soll aus dem Hause. Fast weinend. Herr Langenscheidt, dat geht doch nich ... nee, dat geht nich.[624]

LANGENSCHEIDT. Ich meine ja bloß ... nich wahr? Denn wenn sie hierbleiben soll, ja, da lernt sie dat Putzmachen im Leben nich. – Und nu ham Sie doch mal ja seggt, Mudder, nu seggen Sie noch mal ja, un alles is in Ordnung ... wohl? Hähä.

MUTTER LÜCKEL. Nee, dat kann ich nicht zugevven. Aus dem Hause? Wat mach ich denn bloß? Dat sünd so 'ne dumme Sachen.

KÖRTING tritt ein. Gott zum Gruß zusammen. Erblickt Langenscheidt und macht ein finsteres Gesicht.

LANGENSCHEIDT. Ach verflucht ...

MUTTER LÜCKEL. Herr Diakonus, Sie sünd's! Da bün ich Ihnen ja so dankbar! Klammert sich förmlich an ihn.

KÖRTING. Aber was haben Sie denn, mien lew alt Mudding?

MUTTER LÜCKEL. Sie solln einer aalen Fruu Ihren Rat gevven, Herr Diakonus. Herr Langenscheidt will eine Gnade an uns arm Lüüt tun, er will uns' Hannchen wat lernen lassen, dat sie nich die Schwindsucht bei 's Sigarrnwickeln kriegt. Putzmachen soll sie lernen ...

KÖRTING. Ja aber ... das ist ja ... das ist ja natürlich sehr gütig von Herrn Langenscheidt ...

LANGENSCHEIDT schroff. Ach, das ist ja bloß 'ne Idee von mir. Es ist mir nicht recht, daß Frau Lückel überhaupt davon redet.

KÖRTING. Die arme Frau muß Ihnen natürlich sehr dankbar für das Interesse sein ...

MUTTER LÜCKEL. Uns' Hannchen soll aber aus dem Hause, Herr Diakonus. Sie soll nach Dortmund ...

KÖRTING. Wie ...

MUTTER LÜCKEL. Nich wahr? Ich hevv's gleich seggt, dat is nich richtig.

KÖRTING. Ja, das muß man sich natürlich zunächst überlegen ... Herr Langenscheidt ...

LANGENSCHEIDT. Überlegen ... Ich will ja gar nichts. 's is ja bloß 'n Vorschlag. Plötzlich aufbrausend. Überhaupt sind[625] das meine Privatsachen, und ich verbitte mir jede Einmischung!

KÖRTING. Nun, nun ... ich will mich natürlich nicht unterfangen ... aber, sehen Sie, ich bin der Freund dieser armen Leute, und da wird man doch noch seinen Rat ...

LANGENSCHEIDT. Was mich anbelangt, ich danke für Ihren Rat. Setzt zornig seine Mütze auf und will gehen.

KÖRTING allmählich fest werdend. Ich muß sagen ... bei aller schuldigen Achtung vor Ihnen, Herr Langenscheidt ... ich finde Ihren Vorschlag sehr sonderbar.

LANGENSCHEIDT. So. Höhnische Lache.

KÖRTING. Ich bitte Sie um eine Unterredung, Herr Langenscheidt.


Langenscheidt zuckt verächtlich die Achseln, lacht kurz, setzt sich halb auf den Tisch rechts.


MUTTER LÜCKEL faßt den Wäschekorb; scheu zu Hannchen. Da faß zu, Hannchen, wir wolln die Wäsche der Nachbarin zur Bleiche bringen. Geht mit Hannchen rasch über die Koloniestraße.

KÖRTING. Herr Langenscheidt, wollen Sie mir eine Frage gestatten.


Langenscheidt zuckt spöttisch die Achseln.


KÖRTING. Ist es Ihnen wirklich ernst mit Ihrem Vorschlage?

LANGENSCHEIDT. Das soll wohl so 'ne Art Verhör werden?

KÖRTING. Keineswegs.

LANGENSCHEIDT jähzornig. Dann würd ich Sie auch in Ihre Schranken zurückweisen!

KÖRTING. Bitte, haben Sie doch die Güte, mich wenigstens anzuhören. Ein so spottjunges Ding aus dem Elternhause wegnehmen und damit allen Fährnissen des Lebens preisgeben, das dünkt mich doch eine so verantwortungsvolle Handlung ...


Langenscheidt zündet gleichmütig eine Zigarette an.
[626]

KÖRTING. Ja ... sind Sie sich denn dieser Verantwortung nicht bewußt, Herr Langenscheidt?

LANGENSCHEIDT. Das werden Sie doch zugeben: ich erweise den Lückels lediglich 'ne Wohltat.

KÖRTING. Die ihnen zum Fluche werden kann ... jawohl, Herr Langenscheidt.

LANGENSCHEIDT. Sparen Sie sich doch diese getragenen Redensarten für die Kanzel auf.

KÖRTING. Ich finde diese Worte in Ihrem Munde sehr bedauerlich.

LANGENSCHEIDT. Sie halten es also für zweckmäßiger, das junge Mädchen hier sitzen zu lassen, bis der eingeatmete Tabakstaub ihre Lunge so weit verwüstet hat, daß sie fürs Spital reif ist?

KÖRTING. Das will ich nicht gesagt haben.

LANGENSCHEIDT. So ... hähähä.

KÖRTING. Herr Langenscheidt, ich glaube, Sie sind noch den Beweis schuldig, daß Ihre Absicht einem reinen und edlen Motiv entspringt, denn ...

LANGENSCHEIDT. Was ...?


Körting bekämpft sich.


LANGENSCHEIDT. Wie ...?

KÖRTING. Ich werde gegenüber dem Sohne des Geheimen Kommerzienrats Langenscheidt, dessen Namen ich hochachte, niemals die Achtung beiseite setzen.

LANGENSCHEIDT. Das wollt ich Ihnen auch geraten haben! Wirft wütend die Zigarette hin.

KÖRTING. Indessen kann ich die Bemerkung nicht unterdrücken: wenn Ihr Herr Vater, der Geheimrat, von Ihrer Absicht wüßte, die Unerfahrenheit eines jungen Mädchens und die materielle Abhängigkeit einer armen Witwe ... ich will nichts weiter sagen.

LANGENSCHEIDT. Sagen Sie's doch geradeheraus, was Sie denken! Bitte! Es liegt Ihnen ja auf der Zunge. Ich will mir in Dortmund 'n Verhältnis hinsetzen. Ich will die Kleine[627] aushalten! Sagen Sie's doch, sagen Sie's doch! Hustenanfall.

KÖRTING. Wenn Sie es denn wissen wollen ... das ist in der Tat meine Meinung.

LANGENSCHEIDT verächtliche Lache. Und wenn's so wäre, dann ging's Sie doch gar nichts an. Wendet sich zum Gehen.

KÖRTING empört. Ich muß sagen, daß ein solcher Zynismus ...

LANGENSCHEIDT. Was ... Hörn Sie mal, passen Sie auf Ihre Worte auf, verstehn Sie mich! Sie können mir nämlich nich imponieren. Und überhaupt sind Sie der letzte, der sich mokieren darf.

KÖRTING. So.

LANGENSCHEIDT. Mit Ihnen ist noch fertig zu werden. Das wäre gelacht!

KÖRTING. Dann möchte ich wissen ...

LANGENSCHEIDT. Das können Sie wissen. Glauben Sie, es war nich bekannt, was für 'ne Sorte Diakonenarbeit Sie in der Kolonie leisten?

KÖRTING. Meine geistliche Tätigkeit ...

LANGENSCHEIDT. Die Werksverwaltung wird vielleicht Ursache haben, Ihnen das Betreten der Kolonie zu verbieten, und was Sie dann anfangen, das kann uns ja egal sein.

KÖRTING. Mir verbieten ...

LANGENSCHEIDT. Glauben Sie, man weiß nich, daß Sie in der Kolonie mit den Werksleuten Schnaps getrunken und sie dann gegen die Werksverwaltung aufgehetzt ham ...!

KÖRTING. Ich ...

LANGENSCHEIDT. Und daß Sie seit Jahr und Tag in allen Koloniehäusern herumschüren und hetzen. Das nimmt mal 'n böses Ende, das sag ich Ihnen. Was Sie den Leuten lehren, das steht in keiner Bibel und in keinem Predigtbuch. Wenn das 'n an derer wäre, da hätte man längst zugegriffen, aber Sie verschanzen sich hinterm Theologen! Theologe ...! Hä ... Sie taugen zum Theologen wie der Esel zum Violinspielen. Will gehen.[628]

KÖRTING fäusteballend. O du ...!

LANGENSCHEIDT höhnische Ruhe. Wat seggste ...? Lufthieb mit der Gerte. 'n Morgen. Geht langsam hinaus. Draußen pfeift er dem Hunde. Da komm her. Gertenhieb. Verfluchtes Vieh! Geht die Koloniestraße hinunter.


Körting steht da und kämpft seine Erregung nieder; dann setzt er sich seufzend hin und stützt den Kopf in die Hände.


LIESA kommt herein, freudig überrascht. Ach ... guten Morgen, Herr Diakonus. War das nich Herr Langenscheidt ... wohl?

KÖRTING. Guten Morgen, Liesa ... Ja, er war hier. Aufbrausend. Ach, daß man sich so beschimpfen lassen muß, und darf nicht wider den Stachel locken ...!

LIESA. Wat is vorgefallen, Herr Diakonus?

KÖRTING. Ihre Mutter hat mich zu Hilfe gerufen ... Ach, ich mag Ihnen das nicht sagen, Liesa.

LIESA. Ich glaube, ich weiß ... Blickt sich nach Hannchen um.

KÖRTING. Nein, das wissen Sie nicht Mit unterdrückter Stimme. Er benutzt Hannchens Unerfahrenheit. Er will sie aus dem Hause schleppen, damit er sie in der Gewalt hat!


Liesa zuckt die Achseln und setzt sich an den Tisch.


KÖRTING. Denken Sie doch, solch ein hilfloses Ding, das ihm blind vertraut, wird von ihm belegen und betrogen, verlockt und verleitet, bis ins Unglück ... Stellen Sie sich das vor, Liesa!

LIESA. Herr Diakonus, ich gläuv, Hannchen weiß wohl gut, wat Langenscheidt mit ihr vorhat.

KÖRTING steht starr. Liesa ...! Ja, wissen Sie, was Sie da gesagt haben? Sie beschuldigen Ihre Schwester einer Verworfenheit ...

LIESA. Ach nein, Herr Diakonus.[629]

KÖRTING. Ja, Liesa.

LIESA. Sie halten uns immer för Engel und ... sehen Sie, dat sünd wir nich, Herr Diakonus.

KÖRTING. Liesa, es mag sein: ich bin so sehr Idealist, daß ich oft den Wirklichkeitsblick verliere, aber wenn das wahr wäre, was Sie von Hannchen sagen ... wenn solch ein blutjunges Ding ... ja, an was soll man denn da noch glauben?

LIESA. Hannchen is nich schlecht ... dat nich, aber ... Sehen Sie sich doch um bei uns, Herr Diakonus. Dat armselige Leben, die schmutzige Kolonie ... nich ein bißken Freude. Un dann die Arbeit, bei der sie sich die Lunge ruiniert. Dat muß man doch begreifen, wenn sie da heraus will.

KÖRTING. Aber auf solche Weise, Liesa.

LIESA. Ach, da frögt man nich lang. Wenn man nur herauskommt.

KÖRTING. Das heißt ... da erscheint Langenscheidt in der Tat als ein Wohltäter ... als ein Wohltäter! Schneidende Lache. Plötzlich auffahrend. Liesa ...! Da kommt mir mit einem Male ein gräßlicher Gedanke. Wenn Sie nur nicht auch einmal ... Liesa!

LIESA starrt vor sich hin, dann. Herr Diakonus, ein jedes wehrt und stemmt sich, bis es den Mut verliert.

KÖRTING. Das dürfen Sie nicht, Liesa. Glauben Sie nicht, daß ich blind bin gegen all den Kummer, den Sie haben. Wir armen Leute tragen alle dasselbe Joch ... ich muß es auch tragen, Liesa.

LIESA. Ja, Sie ... aber ein Mädchen hat nicht so starke Schultern wie ein Mann.

KÖRTING. Liesa, der Gedanke ist mir unerträglich, daß Sie einmal den Weg der Sünde gehen sollten ... denn es wäre die Sünde, das wissen Sie wohl, Liesa. Einmal muß sich doch alles wenden, und darum sollten Sie stark sein, Liesa, bis ... Er stockt.

LIESA. Bis ...?

KÖRTING. Ich finde nie den Mut, es auszusprechen ...[630]

LIESA leise und verlangend. So sagen Sie es doch.

KÖRTING sieht sie an. Mir scheint ... Ich bitte Sie, Liesa ... Tritt förmlich furchtsam von ihr weg. Ich muß noch nach Dortmund hinüber.


Liesa seufzt und setzt sich traurig hin.


HANNCHEN kommt herein, ohne Körting zu bemerken. Tag, Liesa. Is Herr Langenscheidt weg?

LIESA. Ja, Hannchen ... Segg mal, Hannchen, is dat richtig, dat Langenscheidt dich hier wegholen will?


Hannchen mault.


LIESA. Un dat willst du machen, Hannchen?

HANNCHEN maulig. Ich darf ja doch nich.

LIESA. Aber, wenn du dürftest, denn ...


Hannchen steht schweigend da.


LIESA. Un wenn er dich nu in die Schande bringt, Hannchen?

HANNCHEN kommt langsam zu Liesa, kniet am Tische auf einen Stuhl, Liesa unbeholfen und nachdenklich ausfragend. Segg mal, Liesa, du büst doch älter als ich ... du mußt dat doch wissen.

LIESA. Wat denn, Hannchen?

HANNCHEN. Wat denkst du wohl, wat aus uns zwei Lückel-Mädchen mal werden soll ... he?

LIESA. Nu, wat soll werden? Wir werden immer düchtig arbeiten müssen, dat Mutter Geld ins Huus kriegt.

HANNCHEN. Hm ... m. Jawoll ... ja ... da hast du wohl recht. Aber nu sieh, nu is doch d'r Vadder gestorben ... wohl? Un uns' Mudding, die wird doch auch mal sterben.

LIESA. Aber Hannchen, wer wird sich dat ausdenken.

HANNCHEN. Ich meine bloß, Liesa ... es könnt doch mal möglich sein, nich wahr?

LIESA. Nu ja, aber wat soll dat?[631]

HANNCHEN. Nu sieh auch, wenn Mudding mal stirbt, dann müssen wir hier aus dem Huus ... wohl?

LIESA. Dat kann schon sein.

HANNCHEN. Hm ... m. Un wat wirst du dann maken, Liesa?

LIESA. Ach, wat du nicht alles frögst.

HANNCHEN. Nee, nee, dat mußt du mir seggen, Liesa ... jawoll. Also, wat uns' Trina is, die hat schon einen Mann, einen Häuer hat sie. Un, so denk ich, wirst du dir auch einen Mann aus der Kolonie suchen, nich wahr?

LIESA betroffen. Aus der Kolonie ...? Nie würd ich einen Mann aus der Kolonie nehmen.

HANNCHEN. Ei, warum denn nich, Liesa?

LIESA. Warum ...? Warum ...? Hannchen, hör up mit dienen Fragen.

HANNCHEN springt auf. Du mußt mir dat seggen, Liesa. Denn sühst du, jetzt merk ich wohl, du willst auch aus der Kolonie ruus, so gut wie ich. Du wartst bloß, dat der Richtige kommt, der dich holt!

LIESA. Aber Hannchen ...!

HANNCHEN. Je ja, jetzt hevv ich's wohl merkt. Un soll ich dir seggen, wer's is ...? He ...?

LIESA. Hannchen ...! Du ...! Hand zum Schlage.

HANNCHEN Grimasse. Bä-ä äh! Sich umwendend, sieht sie Körting. Herr Diakonus ... ach Gott, Herr Diakonus ...

KÖRTING der beiseite gestanden, verwirrt. Es ist gut, Hannchen ... es ist gut ...


Körting und Liesa stehen da und sehen sich wortlos an. Hannchen huscht auf den Zehenspitzen scheu zu ihrem Arbeitstisch – Lärm draußen. Hinundherrufen. Man sieht aufgeregte Koloniebewohner, Männer, Frauen und Kinder, hin und her laufen.


MUTTER LÜCKEL kommt herein, blickt sich um. Tag zusammen ... Langenscheidt is fort ...? Ham Sie mit ihm gesprochen, Herr Diakonus?[632]

KÖRTING. Ja, Mudding, und ich glaube, er wird es nicht wieder wagen, Ihnen mit solchen Plänen zu kommen.

MUTTER LÜCKEL. Nich wahr ...? Dat darf er sich nich wagen, mir mien Kind aus dem Hause zu holen. Da muß man mir helfen ... Sie mag schaffen, dat sie ein braves Mädchen wird. Hab ich nich auch mien Mudding gehorchen müssen, wat?

KÖRTING. Lassen Sie's gut sein, Mutter Lückel. Er wird Sie nicht wieder ängstigen.

LIESA. Wat is denn för 'n Lärm in der Kolonie?

MUTTER LÜCKEL. Ach, da geht 'n Gerede, et soll wat passiert sein upp der Zeche, un nu laufen sie auch schon alle.

KÖRTING. Was könnte denn geschehen sein?

MUTTER LÜCKEL. Man weiß nich. Die einen seggen, dat Drahtseil am Förderkorb is wieder gerissen, die annern, an der Fördermaschine soll wat passiert sein. Dat is immer gleich 'ne Aufregung, un nu kommt man ans Förderhuus, denn is's gar nix gewesen.

KÖRTING. Nun, es werden doch keine Menschenleben in Gefahr sein?

MUTTER LÜCKEL. Ach nee, so leicht passiert doch nix. Höchstens sie kommen nich zum Schichtwechsel, weil sie nich ausfahren können.

LIESA die zum Fenster hinausgesehen hat. Wenn Menschenleben in Gefahr wären, dann würde man doch wat wissen. Aber auf dem Werk wird fortgearbeitet.

MUTTER LÜCKEL. Ja, wenn dat Werk geht, dann is et nix Schlimmes. Erst wenn sie dat Werk stillestehn lassen ... ja denn. Menschenleben ... I du mien Gott, Herr Diakonus, Pittjupp is heut morgen auch eingefahren.

KÖRTING. Na, wenn es so steht, dann wird ja wohl kein Grund zur Besorgnis sein.

MUTTER LÜCKEL. Nu wollt ihr wohl essen, wat?

HANNCHEN. Ja, dat möchten wir wohl, Mudder.

KÖRTING. Und ich werde nach Dortmund hinübergehen.[633]

DER ALTE SCHNIERMANN kommt angeheitert herein. Hähähä ... hähähä ... Tag zusammen ... Tag, Herr Diakonus. Sie dürfen mich dat nich ievelnähmen, Herr Diakonus, aberst ... hähähä ... ich bring einen mit nach Hause, hähähä.

KÖRTING. Am Morgen schon, Vadder Sniermann? Dat dünkt mich nich recht.

DER ALTE SCHNIERMANN. Wat d'r Herr Langenscheidt is ... hähä ...

KÖRTING. Ach so, Langenscheidt ...

DER ALTE SCHNIERMANN. Pscht, Herr Diakonus, pscht. Upp den Langenscheidt laß ich nix kommen. Dat is 'n Mann, wie er in die Welt paßt, hähä. Der hat immer die Hand in der Tasche. Da hast fünf Groschens, seggt 'r, geh zum Deubel. Hähähä. Un da, da is d'r Vadder Sniermann gangen ... Wo der Deubel 'nen Arm ruutreckt, da is 'r reingangen. Hähähä, hähähä.

MUTTER LÜCKEL gibt ihm einen Stoß. Sitz in diener Ecke, aaler Saufaus!

KÖRTING. Nicht doch, Mudder, nicht doch.


Der Lärm draußen wird lauter. Wiederum sieht man aufgeregte Menschentrupps über die Straße laufen.


LIESA beugt sich zum Fenster hinaus. He, wat is denn ...? He ...?

TRINA kommt, ihre beiden Kinder Hinnäck, Anngret an der Hand führend, herein. Tag zusammen.

ALLE. Tag.

TRINA. Ei, Mudder, du büst hier? Ich dacht, du seiest schon upp dem Zechenplatz.

MUTTER LÜCKEL plötzliche Angst. Wat ... Trina ... ja, wenn du so sprichst ...?

TRINA. Is Pittjupp eingefahren?

MUTTER LÜCKEL. Ja, heut morgens is 'r eingefahren. Is wat Schlimmes passiert, Trina?

TRINA. Nu, sie reden von einem Unglück.[634]

KÖRTING. Ein Unglück ...! Ja, wissen Sie denn etwas Zuverlässiges, Frau Biggen?

TRINA. Nu ... ich weiß nich. Der eine seggt dies, der annere das ... die meisten seggen: et war 'ne Streckenverzimmerung zu Bruche gegangen.


Alle erschrocken.


HANNCHEN am Fenster. Mudder, aber so veel Menschen! Et stehn 'n paar hunnert Menschen am Zechenplatz.

MUTTER LÜCKEL. Trina, du machst mir 'ne Angst ...! Wenn du nix Sicheres weißt, denn sollst du dien aal Mudding nich Sorge machen.

DER ALTE SCHNIERMANN. Sie ham gleich kein' Kopp nich, Herr Diakonus. Wißt ihr wat ...? Also. Wat zerbrecht ihr euch den Kopp.

KÖRTING. Aber Vadder Sniermann, das ist doch wohl begreiflich, wenn man da Angst hat ... wohl?

TRINA. Ich sah den Steiger Wittbräuke nach Dortmund laufen. Et hieß, er holte den Dokt'r Vonderscheer.

MUTTER LÜCKEL steigende Angst. Ja, aber wenn sie den Betriebsarzt holen, denn muß doch wat passiert sein ...?


Stimmengewirr draußen.


LIESA hastig vorkommend. Mudder ... ich wer' mir mal wat überwerfen. Sie drängen die Leute ruus, sie schließen dat Hoftor ...!

KÖRTING. Gott im Himmel möge uns behüten ...!

MUTTER LÜCKEL. Wohl, Liesa. Wirf dir ein Tuch über un sieh mal, dat du wat erfährst ... Aber dat segg ich dir, Liesa, dräng dich nich so vor, daß dich die Steigers nich sehn, dat et nich heißt: na ja, die Lückeis, dat sünd auch immer die ersten ... Halt dich zurück, Liesa ...

LIESA hat ein Tuch übergeworfen, stürzt hinaus. Ich weiß schon, Mudder ...


Über die Straße eilen aufgeregte Menschentrupps.
[635]

MUTTER LÜCKEL fast weinend. Nee, dat kann mir doch keiner verdenken, dat man da Angst kriegt, Mien Pittjupp is upp der Zeche ... der Jung is kaum us d'r Schul, Herr Diakonus ...

KÖRTING. Nun, nun. Ängstigen Sie sich nicht zu früh, Mutter. Am Ende ist's alles blinder Lärm.

TRINA. Je ja.

DER ALTE SCHNIERMANN. Sie ham kein' Kopp nich. Wer weiß, am Ende lassen sie 'n abgebautes Feld zu Bruche gehn, und da ham die Kerls, die dat Holz rauben, nit upppaßt, un dat Gebirge hat die Pfeiler indrückt ... hä.

KÖRTING. Ja aber ... wenn Menschenleben in Gefahr kommen, Vadder Sniermann ...?

DER ALTE SCHNIERMANN. I ja. Uns' aal Häuers können sie nich bange maken. Bei mir war auch mal einer verschütt', un wie mir 'n ausgraben, upp einmal reckt der Dote den Arm uus dem Loche un schreit: »He, gevvt erst mal 'n Snäpsken rin, dat ick mich stärken kann!« Hähähä, hähähä!

KÖRTING. Ja, wenn Sie denken, es habe keine Gefahr ...

TRINA. Wat die aal Berglüüt sünd, Herr Diakonus, die sünd roh, die sprechen erst von einem Unglück, wenn die ganze Zeche ersoffen oder zu Bruche gangen is. Nee, nee ... dat is wohl schlimm; da drüben is schon mancher umgekommen ...

MUTTER LÜCKEL. Je ja, da hast du wohl recht. Da is euer Vadder umkommen, un sien Bruder is umkommen ...

TRINA. Die Zeche, die holt sich alle Jahr 'n paar Lüüt us der Kolonie ruus.

KÖRTING. Sie machen mich nun allmählich auch besorgt ...

TRINA. Dat hat auch Grund, Herr Diakonus, denn da is so leicht wat geschehn. Da sünd sie morgens schon eingefahren un ham sich nix Schlimmes erwartet, sünd vor Ort gangen un ham ihre Kohle abgebaut. Da will die Grubenlampe nich brennen, wie sie auch schrauben und plustern, et zischt un braust ihnen um die Ohren. Upp[636] einmal gibt's 'nen Blitz un Knall, un denn is auch dat Unglück schon da, und dat Wedder hat sie erschlagen.

MUTTER LÜCKEL. Trina, du sollst nich so sprechen. Ich hevv mit eins so 'ne Angst kriegt ...

DER ALTE SCHNIERMANN. Sie macht die aal Mudder ganz verwirrt mit ihre Geschichten.

TRINA. Je ja, ich weiß, wat ich weiß. Un deshalb hevv ich auch nich gelitten, daß mien Jan einfährt ...

MUTTER LÜCKEL tödlich erschrocken. Dien Jan ...?

TRINA. Ja ... Jan. Er darf mir nich mehr upp die Zeche, er geht in die Gießerei. Wenn er auch nich so veel verdient wie als Häuer, dat 's egal. »Jan«, hevv ich seggt, »wat nützt et uns, dat mir 'n bißken mehr Brot ham, wenn einem bei jedem Bissen die Angst die Kehle zuschnürt ... Geh du in die Gießerei, setz du dien Leben nich upp't Spiel ... Laß die annern gehn, aber du denk an diene Fruu und diene Kinners.« So hevv ich seggt, Herr Diakonus.

KÖRTING. Ja ... eigentlich ... muß ich sagen, Sie haben ganz recht getan.

MUTTER LÜCKEL. Dien Jan ...

TRINA. Wat is auch, Mudder?

MUTTER LÜCKEL fällt weinend auf einen Stuhl. Ach Gott, ich hevv solche Angst ...!


Aufgeregter Menschentrupp auf der Straße.


KÖRTING. Aber, Mutter Lückel ... Hören Sie, Frau Biggen, unterlassen Sie diese Erzählungen.

DER ALTE SCHNIERMANN am Fenster. Sie rennen wie doll ... Sie ham kein Kopp nich.

HANNCHEN. Da läuft d'r Wittbräuke mit 'm Dokt'r.


Der Steiger Wittbräuke kommt mit Doktor Vonderscheer hastig vorbei.


VONDERSCHEER draußen. Sie ... Steiger. Da is ja der Diakonus. Ach, auf ein Wort, Herr Diakonus.[637]

WITTBRÄUKE Steiger, Militärmütze mit Schlägel und Eisenzeichen, lange Stiefeln, besserer Arbeitsanzug, springt aufgeregt herein. Herr Diakonus! Wir suchen Sie schon überall. Wir bräuken Sie.

VONDERSCHEER kühler, mürrischer Mann, eintretend. Herr Diakonus ... ich bin der Betriebsarzt Doktor Vonderscheer ... auf einen Augenblick ... Nimmt Körting beiseite und flüstert ihm etwas zu.

KÖRTING erschrocken, ergreift Hut und Stock. Mein Gott ...! Aber gewiß, Herr Doktor, ich komme sofort mit. Zu den Lüchels. Gott befohlen.

DIE LÜCKELS plötzlich von großer Angst befallen; Trina und Mutter Lückel suchen den Diakonus festzuhalten. Wat is dat ... Herr Diakonus, wat soll dat ... Et is wat Schreckliches passiert ... Sie machen uns so 'ne Angst ... Seggen Sie's uns, Herr Diakonus ...!

KÖRTING. So laßt mich doch nur ... ich bitt euch ... Ich schwöre euch, es ist nichts ...

VONDERSCHEER. Herrgott, Leute, nehmt doch Verstand an! Wißt ihr denn, ob's euch betrifft? Haltet uns doch nich auf!

WITTBRÄUKE macht den Diakonus frei und stößt die Frauen zurück. Loslassen, zum Dunnerwedder ...! För dat Gewinsel is jetzt keine Zeit. Laßt los, segg ich ...!

VONDERSCHEER. Kommen Sie ... rasch, rasch ...


Vonderscheer und Körting eilen hinaus. Die Frauen halten Wittbräuke fest.


DIE LÜCKELS. Herr Wittbräuke ... wat is passiert ...? Seggen Sie's uns ... seggen Sie's!

WITTBRÄUKE. Laßt mich, ich muß zur Zeche. Freilich is wat passiert, 'ne Streckenzimmerung is zu Bruche. Die elendigen Zimmerlinge ham wieder mal 'ne Luderarbeit makt.

MUTTER LÜCKEL. O Gott, et sünd Minschen verunglückt! Wohl, Wittbräuke ...? Ihr hevvt Dote![638]

WITTBRÄUKE. Wat weiß ich. Wir können nich dazu ... So laßt mich ...!

TRINA. Wo is sie zu Bruche?

WITTBRÄUKE. Wo der Lüüskirchen sien Gedinge hat,

MUTTER LÜCKEL Aufschrei. A ... h! Da arbeit't uns' Pittjupp.

TRINA. Mien Bruder ...!

WITTBRÄUKE. Freilich, dien Bruder un dien Mann. Drum laß los ...!

TRINA prallt zurück. Mien Mann ...? Dat lügst du! Er geht in die Gießerei!

WITTBRÄUKE. Ja, wenn du besser weißt, wo dien Mann arbeit't, wie der Steiger ...


Mutter Lückel packt ihn am Arm, zwingt ihn zum Schweigen.


WITTBRÄUKE stockend. Ach so ... nu ja ... nu ... kann sein, ich weiß nich ... denn arbeit't er in der Gießerei ... Adjüs. Will gehen.

TRINA die starr dagestanden, schreit. Steiger ...! Steiger, du bleibst!

WITTBRÄUKE scheu. Wat willst du von mir?

TRINA mit schrecklicher Ruhe. Wo is mien Mann?

WITTBRÄUKE. Ich ... ich weiß nich ... du seggst, er war in der Gießerei ...

TRINA. Is Jan Biggen eingefahren ...? Ja oder nein?


Wittbräuke schweigt ratlos. Trina klammert sich am Tisch an, fällt stöhnend auf einen Stuhl. Wittbräuke eilt scheu hinaus.


MUTTER LÜCKEL müht sich um Trina. Trina ...! Trina ...!

TRINA stößt ihre Mutter zurück, springt auf, schlägt um sich. Dat's ja all dumm Züg! Er hat mir die Hand gevven heut in der Früh un hat seggt: »Trina, ich geh in die Gießerei.« In die Gießerei, in die Gießerei un nich upp die Zeche! Jan lügt nich, Jan seggt, wie's is.

MUTTER LÜCKEL. Ja denn ... denn wird er wohl in der Gießerei[639] sein ... ja. Aber ich muß nach Pittjupp sehn. Ach Gott, ach Gott, mien Jung! Wirf dir wat über, Trina, komm.

TRINA. Wat, Pittjupp! Ich hevv selver Kinners. Packt ihre Kinder. Hier sünd unsre armen Würmer, ich frög: wo is mien Mann?

MUTTER LÜCKEL. Nu, komm nur, Trina, denn sühst du, 's könnt sein, Jan wäre doch upp der Zeche ...

TRINA sieht sie durchdringend an. Du ...! Packt sie und schüttelt sie. Mudder, weißt du, wo Jan is, so segg mir's! Raus damit! Schniermann ...! Hannchen ... Ihr wißt's!


Der alte Schniermann und Hannchen wehren ängstlich ab.


MUTTER LÜCKEL. Trina, laß mich ... sühst du, er war doch heut morgen hier ...

TRINA aufschreiend. Er war hier, un ...?


Mutter Lückel schweigt.


TRINA schreckliches Weinen. Mudder, um des Himmels Barmherzigkeit ...! Du weißt, wo Jan is. Er is nich eingefahren ... wohl! Er is in der Gießerei ... wohl? Mudder ... Mudder, segg mir's. Nich wahr, dat kann ja gar nich möglich sein, dat Jan upp der Zeche is ... Mutter! Sie zerrauft sich das Haar und bricht in ein irres Gelächter aus, das in heiseres wildes Schreien übergeht, wobei sie mit den Armen um sich schlägt; dann wendet sie sich und rennt schreiend hinaus.


Draußen hört man ihren gellenden Schrei: »Jan ...! Jan ...! Jan ...!


MUTTER LÜCKEL. Sie wird sich ein Leid antun. Ach Gott, ach Gott!

DER ALTE SCHNIERMANN. Wir wolln nach Pittjuppche sehn, Mudder ... wohl?


Aus der Ferne hört man eine dumpfe, allen Lärm übertönende Tube. Andere Tuben setzen ein. Dann tiefe[640] Stille. Das Rollen der Kohlenzüge hat aufgehört, das Hämmern und Pochen aus dem Werke ist verstummt, die Triebräder auf dem Förderstuhl stehen still.


DIE LÜCKELS haben angstvoll gehorcht. Wat is dat ...? Wat is dat?

DER ALTE SCHNIERMANN. Dat is ja plötzlich eine Stille wie auf dem Kirchhove.

MUTTER LÜCKEL sieht zum Fenster hinaus; Schrei. A ... h! Sie lassen dat Werk stehn! Dat Werk steht still!

DER ALTE SCHNIERMANN. Um Gottes willen ...!

MUTTER LÜCKEL. Ich muß nach Pittjupp sehn ... nach mien Pittjupp ...! Läuft weinend hinaus.

HANNCHEN. Vadder Sniermann, bliev bei die Kinners ...!

DER ALTE SCHNIERMANN. Wirst du lüttes Ding hierblieven!

HANNCHEN. Etsch ...! Ich will auch dabei sein, wenn sie die Doten ruutbringen. Bä-ä-h! Rennt hinaus.

DER ALTE SCHNIERMANN. Dat dich der Düvel ...! Fort is se. Düvelsding! Steht ratlos.


Pause. Draußen ist es jetzt totenstill. Man sieht niemanden mehr vorüberlaufen. Während des Folgenden zieht sich, durch das Stilliegen des Werkes, der Rauch auf, und langsam bricht die Sonne durch, die am Schlüsse die ganze Szene überstrahlt.


HINNÄCK weinerlich. Vadder Sniermann, is dat wahr, dat mien Babba upp der Zeche is?

DER ALTE SCHNIERMANN. I ja, Hinnäck, das 's ja all Dummheitenzüg. In der Gießerei is 'r. Die Mamma seggt's doch ... wohl? Also ... kommt her, Kinners, setzt üch. Er setzt sich auf die Ofenbank, nimmt Anngret auf die Knie, Hinnäck vor sich; singt.


Hans Michel, de wohnt in der Lämmergaß,

Kann maken, wat he will.

He makte sich en Fidelken,[641]

»Violin« seggt dat Fidelken,

Un mien Mäken heißt Kathrin ...


Hähähä ... hähähä ...! Angstvolle Miene.

ANNGRET. Vadder Sniermann, du sollst nich singen.

DER ALTE SCHNIERMANN. Nu, worum denn nich, du dummes Ding. He?

ANNGRET weinerlich. Wenn nu mien Babba dot is ...?

DER ALTE SCHNIERMANN erschrickt; zwingt sich zur Heiterkeit. I, hört nur dat dumme Ding ... Hähä. Sie weiß nich, dat sie mit dem Glöcksken läuten ... Wenn ein Bergmann dot blievt upp der Zeche un sie holen ihn ruus, denn läuten sie mit dat Totenglöcksken. Dat is westfälische Bergmannssitte ... ja. Bim-bam. Bim-Bam ... hörst du wat ...? Also ... Hähä.

HINNÄCK. Kiek man, Vadder Sniermann, die Sonne ...

DER ALTE SCHNIERMANN. Ei, die Sonne ... kiekt ... ei, wie schön. Je ja, da sie dat Werk stehn lassen, zieht der Rauch weg, un nu kommt die Sonne durch ... ei, ei. Wenn du nu am alten Tagesschacht wärst un fein achtgäbst, denn könntst du dat Kobolderchen sehn.

DIE KINDER. Dat Kobolderchen ...?

DER ALTE SCHNIERMANN. Ja, das Kobolderchen. Wenn die Sonne scheint, denn kömmt's ruut aus dem Schacht Wißt ihr dat nich? ... Das Kobolderchen is ein Zwerg, drunten im Bergwerk. Da bewacht's die verborgenen Schätze. Un wenn die Berglüüt ein neues Flöz anschlagen, denn schleppt der Zwerg die Schätze immer tiefer in die Erde, so habgierig is 'r ... hähä. Aber wenn er in seiner Dunkelheit sitzt, denn packt ihn wohl eine Sehnsucht nach dem Licht. Un wenn nachts Vollmond is, denn huscht er ruus aus dem alten Schacht un hockt sich ins Buschwerk un guckt heimlich den Irrlichtern zu. Die Irrlichter, mit ihren weißen Gewand un einen leuchtenden Diadem, tanzen upp dem großen Teich beim Tagesschacht, un denn rufen sie den Froschkönig:
[642]

Froschkönig im Schilfrohr, segg uns einmal,

Sünd wir so schön wie ein Sonnenstrahl?


Und der Froschkönig kömmt uus dem Schilf geplustert:


Ihr Irrlichter seid zwar die schönsten allhier,

Doch die Sonnenstrahlen sünd noch viel schöner als ihr.


Hähä ... hähähä. Da hat's dem Kobolderchen keine Ruh lassen. Er wollt die Sonnenstrahlen sehn, die noch veel schöner sünd wie die Irrlichter. Und wie zu Middag die Sonne am höchsten steht un die Sonnenstrahlen sich im Froschteich baden, kommt er aus sienen Schacht gekrochen. Aber wie die Sonne den garst'gen Zwerg sieht, da macht sie ... kieks, kieks ... un sticht ihm beide Augen aus ... hähähä. Da sitzt er nu im Buschwerk un hört, wie die Sonnenstrahlen upp dem Teiche vorm Froschkönig danzen un rufen:


Ach wie schön wir sünd, wie schön wir sünd ...!


Und dat Kobolderchen tastet so mit die Hände un seggt immer:


Wenn ich sehn euch künnt, wenn ich sehn euch künnt ...!


Hähähä ... Ja, un wenn nu die Sonne scheint, denn müßt ihr an den alten Tagesschacht gehn und müßt ihn ausspotten. Singt.


Kobolderchen, ei du garst'ger Zwerg,

Mußt sitzen in deinem finstern Berg.

Jungfer Sonnenstrahl möcht deine Liebste sein,

Wo hast du denn deine Guckäugelein?


Hähähä ... hähä!


Die Kinder singen mit ihm das Verslein.


DER ALTE SCHNIERMANN. Ei, nu kickt mal ... die Sonne.


[643] Sie stehen in der voll hereinbrechenden Sonnenpracht. Plötzlich ertönt aus der Ferne ein dumpfer, langgezogener Wehruf, wie von einer großen Menschenmenge.


DER ALTE SCHNIERMANN tief erschreckt. Wat war dat ...? Wat war denn dat ...?


Auf die Szene dringen die leisen Klänge des Totenglöckleins. Die Kinder horchen. Schniermann aber schlürft langsam nach vorn, sinkt auf einen Stuhl, nimmt die Mütze ab und faltet betend die Hände.


Quelle:
Naturalismus_– Dramen. Lyrik. Prosa. Band 2: 1892–1899, Berlin und Weimar 1970, S. 615-644.
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