Dritter Akt

[644] Mutter Lückels Wohnstube.

Es ist heller Tag. Die Koloniestraße ist leer, und das Werk ruht. Während der folgenden Vorgänge hört man aus der Ferne die feierliche Weise eines Männerchores, die sich langsam verliert. Nach einer Weile von weit her ein Posaunenchor: »Jesus meine Zuversicht«. Dazu von ferne ununterbrochen das Läuten der Kirchenglocken der Stadt Dortmund, bis die Leidtragenden über die Koloniestraße zurückkommen. Hannchen liegt im Fenster und blickt mit langem Halse die Koloniestraße hinab. Ans der Stube rechts dringt Gestöhne.


HANNCHEN springt auf und öffnet die Türe, in Pausen. Wat is auch, Pittjuppche? Laß dien Bein ruhig, dann dut's nich weh ... Soll ich dir Wasser gevven? Hä? Nich? Nu, denn sei still, Pittjuppche, Mudding kommt bal', un d'r Dokt'r kommt auch ... Jetz is der Zug schon upp dem Kirchhofe, nu dauert's vielleicht noch 'n halv Stund, dann is Mudding da. Schließt behutsam die Türe und huscht auf den Zehenspitzen fort.

LANGENSCHEIDT schaut hastig zum Fenster hinein. Hannchen!

HANNCHEN. Ach, Herr Langenscheidt ...![644]

LANGENSCHEIDT. Du bist allein ... wohl?

HANNCHEN. Pscht, pscht! ... Pittjupp liegt nebenan. Der hört alles.

LANGENSCHEIDT. Un diene Mudder ...?

HANNCHEN. Sie sünd doch alle mit zum Begräbnis.

LANGENSCHEIDT kommt herein, wirft sich abgespannt auf einen Stuhl. Mädel, gevv m'r 'n Glas Wasser!

HANNCHEN reicht es ihm furchtsam hin. Da ... Herr Langenscheidt.

LANGENSCHEIDT nachdem er es hinuntergestürzt hat. Ah, ganz elend is mir zumute ... verflucht noch mal. Ich bin gleich davongelaufen, wie der Zug kam. Ich kann so wat nich sehn. Zehn Särge ... un die Menschen! Die Weiber un Kinder heulen, die Männer schleichen dahin mit solchen Wachsgesichtern ... Äh! ...! Speiübel wird einem bei der Geschichte!

HANNCHEN Schürze vor dem Gesicht. Uns' Trina ... uns' Trina heult schon gar nicht mehr. Ich gläuv, se hat den Verstand verloren.

LANGENSCHEIDT. Deufel auch, 's is kein Spaß. Nu sitzt se da mit den Kindern, un der Mann liegt auf dem Kirchhofe. Wie lange waren se verheiratet?

HANNCHEN schluchzend. Zwei Dag vorm Unglück sünd se getraut.


Langenscheidt starrt vor sich hin. Gestöhne aus der Nebenstube. Langenscheidt springt auf.


HANNCHEN. Dat 's 'uns' Pittjupp. Er kann sich nich lassen vor siene Schmerzen. Dat rechte Bein war zwischen die Stempel eingeklemmt. Ooch, dat sieht schlimm aus, Herr Langenscheidt, et wird ganz schwarz.

LANGENSCHEIDT. Es is 'ne Schande. Mein Vater hat doch auch 'ne Zeche, und unser Werk an der Saar is bald so groß wie dat ... Bei uns kommen so viele Unglücksfälle nich vor ... Aber dat is der Wittbräuke! Der Bengel läßt die Zimmerlinge murksen un guckt nich hin.[645]

HANNCHEN. Pscht, nicht so laut, Herr Langenscheidt. Pittjupp bräukt nich zu hören, dat Sie da sünd.

LANGENSCHEIDT. Na, nu hör man auf mit Weinen, Hannchen. Dat Unglück is nu mal geschehn, dat machen keine Tränen wieder gut ... Hannchen. Klopft ihr auf den Rücken. Nu sei auch gut, Mädel ... Komm mal her. Zieht sie auf den Schoß.

HANNCHEN. Nee, nee, Herr Langenscheidt ...

LANGENSCHEIDT. Na, komm nur. Zieht sie hin. Such mal, ich hab dir wat mitgebracht. Zieht ein Schächtelchen mit Ohrringen aus der Tasche. Echte Diamanten, vom Juwelier in Essen. Kosten mich 'n Mordsgeld. Da hast se.

HANNCHEN sitzt auf seinem Schoß; außer sich. Herr Langenscheidt, un dat 's mien ... dat 's mien? Ach Gott, ach Gott! ...

LANGENSCHEIDT. Hähä, wie die sich noch freuen kann, hähä!


Hannchen läßt in kindlicher Freude die Steine funkeln; plötzlich gibt sie sie enttäuscht zurück.


LANGENSCHEIDT. Na nu ...

HANNCHEN. Ach Gott, ich darf sie ja doch nicht dragen. Mudder schlug mich halvtot.

LANGENSCHEIDT steht überlegend da, pfeift durch die Zähne. Nu segg mal, soll ich dien Mudding nich noch mal anreden, dat du nach Dortmund ziehn darfst?

HANNCHEN. Sie läßt mich nich. Sie wissen doch, der Diakonus ...

LANGENSCHEIDT. Der verdammte Pfaffe ...! Nu, Hannchen, wenn du nu einfach wegziehst un frögst dien Mudder gar nich?

HANNCHEN. I, da kennen Sie mien Mudder schlecht. Die läßt mich mit d'r Polizei wedder holen. Langenscheidt geht verdrießlich im Zimmer umher.

HANNCHEN kniet auf dem Stuhl, neckt ihn. Hihihi, wat ham Sie denn eigentlich an mir, Herr Langenscheidt? Gehn Sie doch zu 'ner annern, hihi. Ich hab ja schon lang 'nen[646] Schatz ... jawoll ... un einen hübschen, mit einem Schnauzer ... so ... hihi! Wenn der einen küßt, dat krabbelt so unter der Nase, hihihi!

LANGENSCHEIDT will sie fassen. Mädel, ich bin ganz verrückt auf dich!

HANNCHEN hüpft wie ein Kind in der Stube umher. »Mein, Schatz, das ist ein Reitersmann, er wohnt nicht weit von hier« ... Lassen Sie mich gehn, ich schrei ...! Passen Sie upp. Jetzt zieh ich hier einen Strich – Zieht mit dem Absatz einen Strich. so-o-o ... Un nu dürfen Sie bloß noch bis an den Strich gehn, hihihi. Hüpft auf dem Strich und springt zurück, wenn Langenscheidt kommt. Etsch. Dat is verboten ... Da ham Sie mich ... nu, da ham Sie mich ... Etsch ... Herr Langenscheidt, Herr Langenscheidt ...!


Langenscheidt hat sie in seinen Armen und küßt sie stürmisch. Gestöhne aus der Nebenstube. Die beiden fahren auseinander.


HANNCHEN. Herr Langenscheidt, nu solln Sie gehn, oder ich geh.

LANGENSCHEIDT. Hannchen, hör ... da hast du diene Diamanten.

HANNCHEN. I wat soll ich damit.

LANGENSCHEIDT. So nimm sie nur. Zwingt sie ihr auf. Hannchen, nu sei mal nich wie 'n kleines Kind ... hör mal. Ich hab meinem Vater geschrieben, ich will wieder nach Hause. Ich mag nich länger in der elenden Gegend bleiben.

HANNCHEN. Ach, un da gehn Sie wedder nach Haus?

LANGENSCHEIDT. Interessiert dich dat?

HANNCHEN guckt vor sich hin, wirft plötzlich das Diamantenschächtelchen in die Stube. Ich mag Ihre Ohrringe gar nich ham. Weint.

LANGENSCHEIDT hebt das Schächtelchen auf, sieht, daß sie weint, preßt sie stürmisch in seine Arme. Hannchen ... Hannchen ...!

HANNCHEN. Ach, lassen Sie mich doch gehn, lassen Sie doch![647]

LANGENSCHEIDT. Hannchen, hör upp mich. Mein Vater hat geschrieben, ich müßt meine Volontärzeit aushaken. Aber ich bleib einmal nich. Ich pack meine Sachen un geh auf und davon.

HANNCHEN schmollt. Dat is mich ganz egal.

LANGENSCHEIDT. Nein, Hannchen, dat darf dir nich egal sein. Denn siehst du, Hannchen, ... du mußt mitkommen!

HANNCHEN fährt erschreckt auf, dann lachend. Hahaha, dat wer' ich bliebenlassen, Herr Langenscheidt.

LANGENSCHEIDT mit überstürzter Hast. Nein, du mußt mit, Hannchen. Siehst du, ich hab viel Geld, und ich hab bei jeder Bank Kredit. Wir können machen, was wir wollen. Ich kauf dir schöne Kleider, ich mach dich zu 'ner Dame, du kommst hier für immer raus ... Hannchen!

HANNCHEN überlegt. I ja ... ich wer' so dumm sein. Upp einmal ham Sie 'ne annere, und dann sitz ich da.

LANGENSCHEIDT ergreift fast weinend ihre Hände. Hannchen, ich will ja von keiner was wissen als von dir. Mir laufen sie alle nach, aber ich mag sie nich. Ich bin ganz toll auf dich, ich kann nichts mehr denken, als dich ...! Wirf dir was über, Hannchen, geh mit!

HANNCHEN rennt ängstlich umher. Nee, nee, ich tu dat nich ... ich hab so 'ne Angst ...!

LANGENSCHEIDT. Hannchen, wenn du nich willst, dann is mir alles egal, dann bring ich mich um ...! Reißt sein Taschenmesser heraus. Dann schneid ich mir hier vor dir die Pulsadern auf ...!

HANNCHEN entreißt ihm schreiend das Messer. Herr Langenscheid ...! Herr Langenscheidt ...! Ach Gott, ich will ja alles tun, wat Sie von mir verlangen ... Dat Messer her ...!


Gestöhne aus der Nebenstube.


HANNCHEN. Pscht ...! Pschtl Rennt zum Fenster und schaut hinaus.


Draußen gehen sonntäglich gekleidete Arbeiter und Koloniebewohner vorbei.
[648]

HANNCHEN. Da kommen sie vom Begräbnis. Mien Mudder kommt ... gehn Sie!

LANGENSCHEIDT. Wenn du mitgehst.

HANNCHEN. Ja, Herr Langenscheidt Ach Gott, ich bün Ihnen ja auch so gut ... ich hab bloß so 'ne Angst ...!

LANGENSCHEIDT sie umarmend. Hannchen ...!

HANNCHEN. Mien Mudder kommt!

LANGENSCHEIDT. Paß auf ... hier hast du Geld ... da. So nimm's doch, zum Deufel! Nötigt es ihr auf. Um sechs Uhr geht vom Dortmunder Bahnhof der Kölner Schnellzug. Komm hin, ich steh am Bahnhof, hörst du? Und wenn du nicht kommst ...! Schüttelt sie wild. Wenn du nich kommst!

HANNCHEN. Ich komm, ich komm ... aber nu gehn Sie, Herr Langenscheidt.


Langenscheidt rennt zur Türe.


HANNCHEN stößt die Stubentüre links auf. Laufen Sie hier naus ... springen Sie durchs Fenster, un dann durch die Kohlgärten upp die Straße ...

LANGENSCHEIDT. Adjüs, Hannchen ... Wenn du nich kommst! Hinaus.

HANNCHEN. Ich komm! Schlägt die Türe hinter ihm zu.


Draußen ziehen unablässig Trupps vom Begräbnis kommender Koloniebewohner vorbei. Der alte Schniermann, sonntäglich gekleidet, kommt, Hinnäck und Anngret führend, gebeugten Hauptes herein. Hinter ihm kommen langsam Trina und Mutter Lückel. Trina ist ganz schwarz gekleidet, hat ein schwarzes Kopftuch übergeworfen und wird von ihrer Mutter gestützt.


MUTTER LÜCKEL führt Trina zu einem Stuhl beim Tisch. Da ... setz dich her, Trina ... so-o-o. Na, un nu denk mal an wat anners. Du mußt da drüber wegzukommen suchen. Laß ihm sienen Grabesfrieden. Weinend. Bün ich denn[649] nich auch getroffen. Mien Schwiegersohn dot, mien Jung zu Schaden ... Du mußt et dragen, Trina.


Trina sitzt apathisch da.


DER ALTE SCHNIERMANN. Je ja, dat is schwer zu dragen, aber nu heißt's, nich den Kopp verleeren.

MUTTER LÜCKEL plötzlich rasend, gibt ihm einen Stoß. Aaler Stiesel!! Du hast gut Muul machen! Konntet du't nich sinn? Mußten's die lütten Kerls sinn? Ob se diene dürren Knochen 'n Johr früher fortschafften, dat käm doch upp eins ruut!

DER ALTE SCHNIERMANN. Pscht, Mudder Lückel, um Gottes willen! Dat sollt Ihr nich seggen. Jeder hat sien Levven leev, ob's nu 'n Junger oder 'n Aaler is.

MUTTER LÜCKEL. Gevv den Kinners wat zu essen, Hannchen. 'n bißken Milch und 'ne Brotschnitte.


Hannchen gibt den Kindern Milch und schneidet ihnen Brot ab.


MUTTER LÜCKEL an der Stubentüre rechts. Nu, Pittjuppche, mien leev arm Jung. Wie steiht et denn? Haste geschlafen? Nich ...? Ach Gott, ach Gott, er kann för siene Schmerzen nich schlafen. Nu wart nur, mien Jung, gleich kömmt d'r Dokt'r ... er wird dir Linderung schaffen ... ja, dat wird er, Pittjuppche ... Steht vor Trina. Trina ... mien leev Trina. Schüttelt sie und schreit. Trina, sitz nich so da, ich kann dat nich ansehn!

TRINA. Wat is denn, Mudder?

MUTTER LÜCKEL. Du sollst nich so dasitzen. Du wirst den Verstand verlieren, wenn du dich nich uppraffst.

TRINA. Ich raff mich schon upp, Mudding.

MUTTER LÜCKEL. Wie euer Vadder gestor'm is, da hab ich auch geschrien un geheult. Aber denn gab ich mir einen Ruck und hab mich för euch gesorgt. Un sähst du, Trina, du mußt an diene Kinners denken, dann wirst du't tragen.[650]

TRINA. Miene Kinners ... miene Kinners ... Beginnt leise zu weinen. Miene Kinners ...

MUTTER LÜCKEL. Trina ...

DER ALTE SCHNIERMANN. Pscht, laß sie. Laßt sie sich ausweinen.

TRINA. Ich hab ihm so dringlich seggt. »Jan«, hab ich seggt, »fahr nich inn. Jetzt gehört dien Levven diener Fruu un dienen Kinners. Setz dien Levven nich upp't Speel.« Un da is er doch gangen ... dat mir zu essen ham, dadrum is 'r gangen. All die Jahr hab ich mich upp die Zeit gefreut, wo ich 'nen Mann hab un die Kinners 'nen Vadder. Gewaschen hab ich, dat ich all Dag mit verbundnen Händen rumleef, so war mir die Haut runter. Un wie ham mir uns gefreut, wenn mir wedder dat Geld zusammen hadden för 'n Schaap oder 'n Bedde oder 'n Stuhl. Immer erregter. Un gleich beim erstenmal schlägt's ihn dot, schlägt den kräft'gen Mann dot, dot! Wild herausschreiend. Ich gläuv an nix mehr! Et gibt keine Gerechtigkeit un keine Barmherzigkeit mehr!! Sie wirft wild schreiend den Kopf auf den Tisch; ihr Geschrei geht in krampfhaftes Schluchzen über.


Pause. Gestöhne aus der Nebenstube.


MUTTER LÜCKEL. Trina, faß dir Mut. Komm, geh mal zu Pittjuppche ... wohl? Er is dien Bruder, er will dich sehn in siene Schmerzen. Geh zu ihm, Trina.


Trina geht, auf ihre Mutter gestützt, mit dieser in die Nebenstube.


DER ALTE SCHNIERMANN will sich eine Pfeife anzünden, legt sie aber schmerzbewegt wieder hin. Je ja ... dat wird jetzt 'ne Not werden bei uns.

HANNCHEN. So ... denkst du, Vadder Sniermann?

DER ALTE SCHNIERMANN. Mir wer 'n för Trina un ihre Kinners sorgen müssen, denn mit die paar Penning, die ihr die Werksverwaltung gevvt, kommt se nich hin. Und der[651] Jung ... uje, uje, dat bißken Unfallrente. Da werd' ihr Mäkens düchtig ranmüssen.

HANNCHEN. Ich wer' noch mehr Sigarrn wickeln müssen, wohl?

DER ALTE SCHNIERMANN. Dat wirst du wohl müssen. Dat Bummeln hat nu 'n Ende.

HANNCHEN. Un mir die Lunge ruutarbeiten müssen, dat ich auch upp den Kirchhof komme ... wohl?

DER ALTE SCHNIERMANN. Dat geht ja so schnell nich.

HANNCHEN steht überlegend am Tische. Dat wer' ich blievenlassen, Vadder Sniermann.

DER ALTE SCHNIERMANN. I ja, dat wirst du wohl müssen.

HANNCHEN fußstampfend. Wenn ich aber nich will!


Der alte Schniermann zuckt die Achseln.


HANNCHEN. Ich weiß, was ich tu. Geht in die Krankenstube.

DER ALTE SCHNIERMANN. Wat willst du auch dun, dummet Dings.


Diakonus Körting und Liesa erscheinen, von einem Arbeitertrupp umgeben, unter der Tür.


KÖRTING draußen zu den Leuten. Und nun geht heim, ihr Leute, aber seid eingedenk des Schrecklichen. Vergeßt es nicht! Und laßt euch nicht sagen: es war eine Fügung. Eine solche Fügung gibt es nicht! Der klügelnde Verstand sagt: es war eine Fügung, aber das Gewissen schreit: es war ein Verfehlen! Und hört auf das Gewissen. Leute!


Stimmen draußen: »Dat wollen wir dun, Herr Diakonus. Jawoll, Herr Diakonus.«


KÖRTING. Gott mit euch, ihr Leute.


Stimmen draußen: »Adjüs, Herr Diakonus ... Herr Diakonus!« – Der Trupp entfernt sich. Körting und Liesa treten ein.
[652]

KÖRTING. Gott zum Gruß.

DER ALTE SCHNIERMANN. Tag, Herr Diakonus.

KÖRTING hockt vor den Kindern, drückt sie an sich. Nu, ihr Kinderchen ... ihr armen lieben Kinderchen ... Aufsehend. Wo sind die andern?

DER ALTE SCHNIERMANN. Sie sünd beim Pittjuppche.

KÖRTING. Und Trina?


Der alte Schniermann ratloses Achselzucken.


KÖRTING. Ich bin in einer Stimmung ...! Ach, ich könnte wie ein Rasender durch die Kolonie laufen und schreien, schreien ... schreien! ... Liesa ...!

LIESA die teilnahmslos dagesessen hat. Dat war nich richtig, wat Sie draußen zu den Leuten seggt ham, Herr Diakonus.

KÖRTING. Wie ...?

LIESA. Ich kann mir nich helfen, aber ... Ich hätt Ihnen am liebsten die Hand vor den Mund gehalten, sehen Sie.

KÖRTING bittere Lache. Da soll ich mich also hinstellen wie der Superintendent an den zehn offenen Gräbern und soll sagen: »Das alles ist eine Fügung, das müßt ihr ruhig hinnehmen, niemanden trifft ein Verschulden.« Und dabei stehen die Schuldigen dicht vor ihm.

LIESA. Ich versteh ja von alldem nix, aber dat weiß ich: wenn die Leute den Trost nich mehr ham, dann werden sie sehr unglücklich sein.

KÖRTING. Ach.

LIESA. Jawoll, Herr Diakonus.


Mutter Lückel kommt weinend herein.


KÖRTING. Mudder Lückel ... mien leev alt Mudding.

MUTTER LÜCKEL. Ach, Herr Diakonus.

KÖRTING. Sie dürfen nicht mehr weinen, Mudding. Sie müssen die Zähne zusammenbeißen, ja das müssen Sie.

MUTTER LÜCKEL. Ja, dat hätt ich auch wohl nun mögt, Herr Diakonus. Aber, wie ich denn am Grabe stand un d'r[653] Herr Superintendent so schön seggt hätt: »Es is eine Fügung ...", da dacht ich: Wat nützt dir's, dat du dich wehrst un stemmst. Wie's bestimmt is, so kommt's, da wird alles Menschenwerk zuschanden. Ja, wenn't so nich wäre – Wild die Arme erhebend. – ja, dann möcht man ... dann ...! Weich. Aber's is 'ne Fügung, und da muß man sich in Demut beugen.

KÖRTING steht starr. Ja, Mudder Lückel ... ja ...


Liesa sieht ihn an, geht dann schweigend in die Krankenstube.


MUTTER LÜCKEL. Pittjuppche hat schon nach Ihnen frögt, Herr Diakonus. Sie möchten ihm Trost sprechen ...

KÖRTING. Ich komme schon, Mutter ... Geht gebeugten Hauptes ins Krankenzimmer.


Mutter Lückel ihm nach. – Nach einer Weile kommen Werksdirektor Klönne, Doktor Vonderscheer und der Steiger Wittbräuke über die Koloniestraße.


WITTBRÄUKE einfacher Sonntagsanzug, tritt diensteifrig ein. Bitte, Herr Direkt'r ... hier wohnt die Familie Lückel.

KLÖNNE robuster älterer Mann, mehr derb als vornehm. Glück auf ... Der Sohn ist verunglückt, nich wahr?

WITTBRÄUKE. Und der Schwiegersohn, der Häuer Biggen.

KLÖNNE streckt Schniermann väterlich die Hand hin. Ach, Sie sind wohl der Vater Lückel, mein lieber, alter ...

WITTBRÄUKE. Nein ... der alte Lückel is dot. Wie wir noch mit der Fahrkunst arbeiteten, is 'r abgestürzt Die Witwe bezieht Pension.

KLÖNNE. So, so, ... Na, ihr Kinderkens, ihr kleinen Lückels.

WITTBRÄUKE. Biggen heißen sie, Herr Direkt'r,

KLÖNNE unangenehm überrascht. Was, ich denke, der Biggen hatte eben geheiratet?

WITTBRÄUKE. Ja, aber die Kinder sind sein, für die hatte er zu sorgen.

KLÖNNE. Hm ... wo is denn die Frau Lückel?[654]

DER ALTE SCHNIERMANN der in höchster Verlegenheit unablässig Verbeugungen gemacht hat. Ich werde sie man gleich rufen, ergebenster Herr Direktor. Ich bitte Euer Wohlgeboren einen Augenblick.

KLÖNNE. Schon gut, schon gut.


Der alte Schniermann schlürft in die Krankenstube.


WITTBRÄUKE. Schniermann heißt 'r. 'n Werksinvalide. Bezieht schon seit 'n paar Jahren 'ne kleine Pension.

VONDERSCHEER kühler mürrischer Mann. T-hä! Mir scheint, die halbe Kolonie lebt von der Pensionskasse.

KLÖNNE rennt umher. 's is zum Deubelholen! Wenn wir vom diesjährigen Betriebsüberschuß nich mindestens dreißigtausend Mark nehmen, is die Pensionskasse bankerott. Die Aktionäre werden mir keine Schmeicheleien sagen. Zu Wittbräuke. Und das alles durch solche liederliche Aufsicht ...!

WITTBRÄUKE. Ich bitte, Herr Direkt'r ...

KLÖNNE. Ruhig. Ich will nichts hören.


Mutter Lückel kommt verängstigt herein.


KLÖNNE streckt ihr die Hand entgegen. Guten Tag, liebe Frau Lückel. Betriebsdirektor Klönne ... Sie kennen mich doch? Ich wollte Ihnen mein herzlichstes Beileid ausdrücken über den schweren Schlag, der Sie betroffen hat. Die Generaldirektion hat bereits die strengste Untersuchung angeordnet. Ist ein Verschulden vorhanden, so wird niemand geschont ... Blick auf Wittbräuke. Niemand.

MUTTER LÜCKEL. Ich danke ... ich danke. Et is eben 'ne Fügung, da läßt sich nix dun.

KLÖNNE. Ja, da haben Sie ganz recht. Sehen Sie, das freut mich von Ihnen, meine liebe Frau Lückel ... Na, Doktor, dann untersuchen Sie mal den Mann. Und bitte, ein recht eingehendes Gutachten.

VONDERSCHEER. Ja, mehr wie untersuchen kann ich nich. Übrigens können Sie sich ja selbst überzeugen ...[655]

KLÖNNE. Nein, danke.

VONDERSCHEER. Also. Zu Mutter Lückel. Da drinnen liegt 'r, hä? Schön. Geht ins Krankenzimmer.

MUTTER LÜCKEL angstvoll. Herr Direkt'r ... un Sie möchten's nich ievelnehmn ... ich wollt Sie gebeten ham .... Sorgen Sie för uns, Herr Direkt'r!

KLÖNNE. Aber natürlich, meine liebe, beste ... übrigens, ich habe gehört, Sie beziehen schon Unterstützung für Ihren toten Mann?

MUTTER LÜCKEL. Ja, aber dat sünd man bloß 'n paar Penning.

KLÖNNE. Na, es is doch wenigstens etwas, nich wahr? Man muß sich eben einrichten. Unsereiner hat auch noch immer zu wünschen.

MUTTER LÜCKEL. Wenn mien Jung nich mehr arbeiten kann ... mir ham kein Stücksken Brot mehr, Herr Direkt'r.

KLÖNNE. Beruhigen Sie sich nur, liebe Frau. Unsere Pensionskasse ist ja reich dotiert; unsere Aktionäre sind freigebige Leute. Das wird alles geregelt werden.


Mutter Lückel geht mit zaghaften Gebärden in die Krankenstube.


KLÖNNE zu den essenden Kindern. Nu, ihr Kinderkens, dat merk ich, an Appetit fehlt's euch nich, he? Hähähä. Geht sorgenvoll umher.

WITTBRÄUKE. Herr Direkt'r, erlauben Sie mir zwei Worte ...

KLÖNNE barsch. Nein.

WITTBRÄUKE. Herr Direkt'r, ich hab schon Vernehmung upp d'r Staatsanwaltschaft gehabt; man wollte mich verhaften. Herr Direkt'r, ich hab 'ne Fruu un veer Kinners ... helfen Sie mir, Herr Direkt'r!

KLÖNNE. Ich werde mich hüten. Tragen Sie nur die Verantwortung. Warum haben Sie solche liederlichen Verzimmerungen machen lassen.

WITTBRÄUKE. Herr Direkt'r, wenn Sie dat seggen ... Auf dem Betriebsbüro hieß's den ganzen Dag: »Vorwärts,[656] Wittbräuke, et muß mehr gefördert werden. Wir müssen die Konjunktur ausnutzen ...«

KLÖNNE. Was ... und das wagen Sie nun so auszulegen ...!

WITTBRÄUKE. Herr Direkt'r, ich bitte um Entschuldigung, aber ...

KLÖNNE. Ruhig jetzt. Hier stehen Tür und Fenster offen. Es herrscht überdies eine Aufregung in der Kolonie ... Die Leute sehen einen an mit Blicken ...

WITTBRÄUKE. Herr Direkt'r, dat is die Folge von Hetzereien. Die Leute wer 'n aufgewiegelt.

KLÖNNE. Ach, gehn Sie.

WITTBRÄUKE. Jawoll, Herr Direkt'r. Der Diakonus Körting rennt rum. Der Mensch hetzt im Wirtshaus, in den Stuben. Dat is 'n ganz gefährlicher Aufwiegler. Der wird der Werksverwaltung noch zu schaffen machen.

KLÖNNE. Diakonus Körting ...? Man hat mir von diesem Menschen schon erzählt. Ich bin direkt vor ihm gewarnt worden ...

WITTBRÄUKE. Der hetzt überall. Und gläuven Sie mir, Herr Direkt'r, wie eben die Düre uppging, sah ich ihn schon wieder beim Krankenbette stehn.

KLÖNNE. Was! Mit solcher Frechheit ... Rufen Sie mir den Menschen mal raus!

WITTBRÄUKE geht. Jawoll, Herr Direkt'r.

KLÖNNE plötzlicher Einfall. Halt, Wittbräuke. Lassen Sie mal ... Das will überlegt sein. Da schaden wir uns am Ende mehr, als wir uns nützen. Geht umher, bleibt stehen. Nach allem, was ich über den Mann gehört habe, muß man ihn vorsichtig anfassen ... Bitten Sie doch den Herrn Diakonus auf einen Augenblick zu mir heraus.


Wittbräuke geht in die Krankenstube.


KLÖNNE bleibt vor Hannchens Arbeitstisch stehen; jovial zu Hinnäck. Nu, Jungelken, wie heißte denn?

HINNÄCK. Hinnäck.[657]

KLÖNNE. Sieh mal an. Hat eine Zigarre vom Tisch gegriffen. Machst du die Sigarrn?

HINNÄCK. Nee, die Hannchen ... för 'n Herrn Finkensiep.

KLÖNNE. Finkensiep, Finkensiep? Wat du nich alles weißt. Wat kosten se denn, he?

HINNÄCK. Ich gläuv, vier Penning.

KLÖNNE. So, so. Plötzlich interessiert. So-o-o? Hat eine Zigarre aus der Tasche gezogen und vergleicht sie scharf mit der andern, wirft diese plötzlich hin und steckt seine wieder ein. Na, meine sind doch besser.


Wittbräuke und Körting kommen herein.


KLÖNNE nachdem er den Diakonus einen Augenblick gemustert hat. Betriebsdirektor Klönne.

KÖRTING sehr zurückhaltend und verbissen. Diakonus Körting.

KLÖNNE. Herr Diakonus, verzeihen Sie, wenn ich Sie in Ihrer seelsorgerischen Tätigkeit gestört haben sollte, aber ... sehen Sie, ich habe das Bedürfnis, mich einmal mit Ihnen auszusprechen.


Körting rührt sich nicht.


KLÖNNE. Ich gehe eben mit unserem Betriebsarzt durch die Kolonie, um mich selbst von der Lage zu überzeugen und den Unglücklichen Hilfe zu bringen. Das betrachte ich als meine Menschenpflicht.

KÖRTING zögernd. Hilfe tut dringend not.

KLÖNNE. Gewiß ... und ich kann Ihnen sagen, die gesamte Werksverwaltung ist geradezu konsterniert über das schreckliche Unglück, welches uns betroffen hat. Sind Schuldige da, sie sollen keine Schonung finden.

KÖRTING. Wie ... Sie glauben also selbst an ein Verschulden, Herr Direktor?

KLÖNNE. Nun ... das heißt ... ich möchte nicht falsch verstanden sein. Wer darf wagen, es jetzt, da die Untersuchung noch schwebt, bereits zu behaupten, und wer darf wagen, es ohne weiteres zu bestreiten?[658]

KÖRTING. Ja ... ganz recht.

KLÖNNE. Auf alle Fälle bin ich Ihnen dankbar, Herr Diakonus.

KÖRTING. Wie ...?

KLÖNNE. Nun, wir können schließlich nichts bringen als materiellen Trost; Sie aber bringen den höheren, den geistigen. Nach allem, was ich gehört habe, sollen Sie vor unsern Leuten den richtigen, zu Herzen gehenden Ton gefunden haben.

KÖRTING mit Hohn. Ja, wenn mir das der Herr Betriebsdirektor sagt ...

KLÖNNE. Bitte, kein Mißverständnis, Herr Diakonus ... Vertraulich. Offiziell würde ich dies ja nicht sagen, aber inoffiziell ... Ergreift mit Wärme seine Hände. Mein verehrter Herr Diakonus ...!

KÖRTING unsicher geworden. Ich bin förmlich in Verlegenheit, Herr Direktor ... ich hatte eine ganz andere Vorstellung von Ihnen und ... ich sehe in Ihnen einen so humanen und freimütigen Mann ...

KLÖNNE. Aber ich bitte Sie, warum sollte ich denn anders sein? Schließlich bin ich doch auch nur ein Angestellter des Werkes, nicht wahr ...? Zwar in höherer sozialer Stellung, aber ... Die Werks Verwaltung kann mich fortjagen wie jeden ändern, hahaha! Man ist eben auch ergriffen durch solchen schrecklichen Unglücksfall.

KÖRTING unsicher. Ich möchte Sie fast um Verzeihung bitten ... Herzlich. Man hat Ihnen noch nicht einmal einen Stuhl gegeben, Herr Direktor.

KLÖNNE. Aber bitte, lassen Sie nur, liebster ... bester Herr Diakonus.

KÖRTING. Herr Direktor, da Sie so offen zu mir geredet haben, will auch ich nicht anstehen zu sagen, wie empört ich bin über diese Art, mit Menschenleben umzugehen, als ob sie nichts gälten.

KLÖNNE. Nun, nun ... so darf man freilich auch nicht sprechen. Sehen Sie, gerade weil wir uns nun gegenseitig verstehen,[659] erlauben Sie mir als dem Älteren und vielleicht auch Erfahreneren, Ihnen zu sagen: wie wir auch sonst denken mögen, in unserm Urteil müssen wir stets zurückhaltend sein.

KÖRTING. Wie ...?

KLÖNNE. Ich meine, wir müssen stets das Bewußtsein haben, daß unser Urteil schwerer wiegt als das der andern.

KÖRTING. Nun, gerade deshalb muß man auch den Mut haben, zu sagen, was ist.

KLÖNNE. Gewiß, gewiß. Indessen ... daß sich unser Urteil nicht einmal gegen uns selbst wendet.

KÖRTING. Jetzt verstehe ich Sie nicht.

KLÖNNE. Bester Herr Diakonus, ich begreife vollkommen die Gefühle, die Sie zu Ihrem Urteil leiten. Ich war auch einmal jung wie Sie; arm wie Sie; verbittert und radikal wie Sie. Das schärfste Wort war mir gerade gut genug. Wenn man dann aber in eine andere Lebenslage kommt ...

KÖRTING. Ich wüßte nicht, wie das bei mir sein könnte. Sie sagten, ich sei arm. Es ist wahr. Ich bin ein Bettler, und ich schäme mich dessen nicht Dann müssen Sie aber auch begreifen, daß ich nicht die Gefühle des Direktorialzimmers haben, sondern die Auffassung dieser unglücklichen Kolonie ...


Klönne abwehrende Handbewegung, geht lächelnd umher.


KÖRTING. Verzeihen Sie ... aber diese Auffassung werde ich mein Leben lang behalten, so gut ich mein Leben lang ein Bettler bleibe!

KLÖNNE. Ihr Leben lang ... Lache. Herr Diakonus, mit Ihren Fähigkeiten bleibt man kein Bettler. Für Sie wird ebenso die Stunde des Glücks kommen, wie sie für mich gekommen ist.

KÖRTING. Entschuldigen Sie, aber ... für Redensarten sind wir beide denn doch wohl zu ernsthafte Männer.

KLÖNNE legt beruhigend die Hände auf Körtings Schultern. Es ist mir gerade, als ob ich mich selbst sprechen hörte,[660] als ich noch zwanzig Jahre jünger war. Und es ist doch alles anders gekommen, als ich es mir damals gedacht habe. Es wird auch für Sie anders kommen ... jawohl. Eindringlich. Jahrelang sitzen Sie vielleicht in der Nacht Ihres Kummers und Ihrer Not und wissen sich keinen Rat. Und gerade wenn Ihre Not am größten und schon Ihre letzte Hoffnung begraben ist ... klopft es an Ihre Pforte. Sie gehen hin, öffnen, und ... da steht das Glück! ... Und wenn Sie dann hinaustreten in den Sonnentag des Glückes und werfen Ihren Blick zurück auf die, die im Schatten leben und mit denen Sie selbst einmal gelebt haben, dann bereuen Sie jedes harte Wort, jedes vorschnelle Urteil. Es sind tödliche Pfeile, die Ihnen nachfliegen.

KÖRTING steht eine Weile wortlos. Ich muß sagen ... noch niemand hat sich die Mühe gegeben, so mit mir zu sprechen Man verachtet mich ...

KLÖNNE. Ach!

KÖRTING. Jawohl!

KLÖNNE. Ihre Verbitterung spiegelt Ihnen das vor.

KÖRTING. Sie haben da eine Hoffnung in mein Herz gepflanzt ...


Klönne sieht ihn an.


KÖRTING träumerisch. Ich möchte auch so gerne einmal in der Sonne stehen ...

KLÖNNE bedeutsam. Das ist in Ihre Hand gegeben.

KÖRTING sieht ihn unsicher an, dann nimmt er langsam zögernd Hut und Stock vom Tische, reicht dem Direktor unschlüssig die Hand. Gott befohlen.

KLÖNNE. Adieu, Herr Diakonus.


Körting geht langsam und gebeugten Hauptes hinaus.


WITTBRÄUKE der ihm durchs Fenster nachsieht. Er verläßt die Kolonie!

KLÖNNE wegwerfende Handbewegung. Der sagt nichts[661] mehr ... Sehen Sie, man muß die Leute zu nehmen wissen.

VONDERSCHEER kommt herein. Also, Herr Direktor ... nun habe ich den Lückel eingehend untersucht. Es ist bloß das Bein, sonstigen Schaden hat er nicht genommen. Aber der Mann muß noch heute ins Krankenhaus. Das Bein muß abgenommen werden.

KLÖNNE. Himmeldonnerwetter! Wütender Blick auf Wittbräuke.

VONDERSCHEER. Nu, wenn schon, so is's doch besser, 's kost' bloß 'n Bein als gleich den Kopf.

KLÖNNE. Schon recht, indessen ... wir haben einen Invaliden mehr.

VONDERSCHEER. Ganzinvalide wird der Mann nich. Und überhaupt ... die Knappschaftsberufsgenossenschaft muß ihm eben Unfallrente zahlen.

KLÖNNE. Ja, da ham Sie recht. Ich werde doch mal hineingehen.

VONDERSCHEER. Bitte.

KLÖNNE barsch zu Wittbräuke. Sie bleiben hier und warten auf mich.


Klönne und Vonderscheer gehen ins Krankenzimmer.


WITTBRÄUKE unterwürfig. Jawohl, Herr Direktor. Allein, mit Zeichen der Angst umhergehend. O Gott ... o Gott ...!

DER ALTE SCHNIERMANN kommt aus dem Krankenzimmer, leise. Je ja, dat is 'ne schlimme Sach, Herr Wittbräuke. Ich gläuv, se wollen ihn dat Bein affsnieden.

WITTBRÄUKE. Wat geht's dich an, aaler Dööskopp! Plötzlicher Einfall. Halt, Aaler! Du kannst mal wat för mich dun. Hier – Gibt ihm. – haste fünf Groschen für Schnaps, verstanden?

DER ALTE SCHNIERMANN zögernd. Jawoll, Herr Wittbräuke.

WITTBRÄUKE. Die sünd dien, »die kannste verdrinken. Nu gehste naus un holst dir 'n paar Kinners un aal Lüüt zusammen. Dann stellt ihr üch hier vor der Düre upp, un[662] wenn der Direkt'r Klönne ruuskommt, so schreist du so laut, wie du kannst: »Der Herr Direkt'r soll leben ho-o-ch!« Verstanden?

DER ALTE SCHNIERMANN. Jawoll, aber ... Herr Wittbräuke ...

WITTBRÄUKE stößt ihn hinaus. Lauf schon, zum Donnerwedder! Du leevst hier upp Werksunkosten, du kannst auch mal wat dun.


Schniermann geht. – Hannchen, Trina, von Liesa unterstützt, kommen aus der Krankenstube.


TRINA erblickt Wittbräuke. O du ...!

WITTBRÄUKE zieht sich furchtsam zurück. Wat is denn? Wat hab ich dir gedan? Ich könnt et ebensogut sein wie dien Mann. Upp mich haut jetzt alles ein; ich bün der Sündenbock, nach die annern fragt keiner.


Trina sitzt in sich versunken am Tische. Klönne, Vonderscheer und Mutter Lackel kommen herein. Klönne geht mit verdrießlichem Gesicht umher.


VONDERSCHEER zieht Papier und Schreibzeug aus der Tasche und füllt auf dem Tische einen Krankenschein aus. Wie heißt Ihr Jung, hä?

MUTTER LÜCKEL. Pitter Jausepp ...

VONDERSCHEER schreibend. Peter Joseph ... Lückel ... Karrenschieber, wat?

MUTTER LÜCKEL. Ja.

VONDERSCHEER. Alter?

MUTTER LÜCKEL. Achtzehn wird 'r.


Klönne schnalzt mit der Zunge, wütender Blick auf Wittbräuke.


VONDERSCHEER. So-o-o. Schreibt noch etwas. Doktor Vonderscheer ... Un nu unterschreiben Sie dat mal, Frau Lückel.

MUTTER LÜCKEL nimmt die Feder; erschrickt. Wat, das is 'n Krankenhuusschein ...?

VONDERSCHEER. Nu natürlich ... Hier können Se den Jungen doch nich pflegen ... wohl?[663]

MUTTER LÜCKEL. Ja aber ... ins Krankenhuus ...? Wat wolln Sie denn mit ihm machen?

VONDERSCHEER. Dat müssen die Krankenhausärzte feststellen.

MUTTER LÜCKEL. Im Krankenhuus sünd se man immer gleich mit dem Operieren bei der Hand ...

VONDERSCHEER. Wenn's nötig is ... Grob. Also, wolln Se unterschreiben oder wolln Se nich unterschreiben?

MUTTER LÜCKEL. Ach Gott, ach Gott ... wat mach ich bloß ... Herr Diakonus ... Sieht sich um.

KLÖNNE. Der Diakonus ist eben weggegangen.

LIESA fährt auf. Weggegangen ...? Er sagte doch, er wollte ... Wo ist er hin?

KLÖNNE gleichgültig. Mir scheint, er hat die Kolonie verlassen.


Liesa sieht ihn durchdringend an.


KLÖNNE interessiert. Kennen Sie den Diakonus näher, Fräulein?

LIESA schreckt zusammen. Nein ... nein ...

KLÖNNE. Der Diakonus verkehrt wohl oft bei Ihnen?

LIESA. Nein, er lieh mir nur manchmal Bücher ...

KLÖNNE. So, so.


Liesa setzt sich, starr vor sich hin blickend, auf die Ofenbank.


VONDERSCHEER. Nu sein Se mal verständig, Frau Lückel. Wenn 's Bein runter muß, muß's doch runter, un besser, Ihr Junge hat bloß noch ein Bein, als Sie ham überhaupt keinen Jungen mehr ... wohl?

MUTTER LÜCKEL. Herr Direkt'r, ich bitt Sie ... helpen Sie einer aalen Fruu ...?

KLÖNNE. Ja, liebste Frau ... ich kann darin leider gar nichts tun ... Vertrauen Sie nur unsern Ärzten. Wir wollen Ihnen doch Ihren Sohn erhalten ... daß das Unglück für Sie nicht noch größer wird ... nich wahr? Na, und dann ... unsere Betriebskrankenkasse bezahlt ja auch dreizehn[664] Wochen lang für Ihren Jungen die Kurkosten ... Na und nun unterschreiben Sie mal ... – Hat sie sanft genötigt. so ... o ... o.


Mutter Lückel sitzt, nachdem sie unterschrieben hat, leise weinend am Tische.


VONDERSCHEER faltet den Schein zusammen; Na, nu werd ich mich nach 'nem Wagen und 'n paar Transportleuten umsehn ... Und was ich noch sagen wollte, Frau Lückel, da drinnen is 'ne ganz verdorbene Luft. Setzen Sie den Jungen 'n bißken hier ans Fenster, dat schadt ihm gar nix. Und ... sagen Sie ihm nix, damit er sich nich unnütz aufregt ... Herr Direktor ...

KLÖNNE. Gut. Wir wollen gehn. Adieu, Frau Lückel. Gibt die Hand. Suchen Sie es zu tragen. Die Werksverwaltung wird, soweit als möglich, zu helfen suchen. Gibt Trina die Hand. Adieu, Frau Biggen ... Kopf hoch, Frau Biggen. Solchen schrecklichen Ereignissen stehen wir schwachen Menschen ratlos gegenüber. Es war eine Fügung.


Trina fährt auf.


KLÖNNE erschrocken, mit stotternder Stimme. Nun ... wenigstens sagte Ihre alte Mutter ... und Sie wissen, alte Leute soll man ehren ...

TRINA wendet sich ab; harte Stimme. Hinnäck! Anngret! Sie nimmt ihre Kinder bei der Hand und schleicht langsam hinaus.

LIESA stützt sie. Ich wer' dich zu Huus begleiten, Trina.

KLÖNNE. Ja, gehn Sie mit ihr, Fräulein ... Stützen Sie sie ...


Trina, Liesa, die Kinder gehen langsam über die Koloniestraße.


KLÖNNE wütender Blick auf Wittbräuke. Es ist empörend!


Die Männer wenden sich zum Gehen. Als Klönne unter der Tür erscheint, hört man Schniermanns Stimme: »Der Herr Werksdirekt'r soll leben ...!« Einfallende Hochrufe.
[665]

KLÖNNE freudige Überraschung. Aber das ist doch zu nett von den Leuten ... ganz überraschend ...! Ich danke Euch, Ihr Leute, ich danke!

WITTBRÄUKE kriecherisch. Sehen Sie, Herr Direkt'r, die Stimmung in der Kolonie is ganz vorzüglich!


Die Männer entfernen sich über die Koloniestraße.


DER ALTE SCHNIERMANN kommt verstört herein, tritt sacht auf Mutter Lückel zu und legt das Fünfgroschenstück vor ihr auf den Tisch. Da ... Mudder.

MUTTER LÜCKEL. Wat soll ich mit den fünf Groschens?

DER ALTE SCHNIERMANN leise. Pscht. Wat kaufen sollt Ihr Euch davor, Mudder.

MUTTER LÜCKEL. Behalt du auch diene fünf Groschens. Du kannst se besser bräuken als ich.

DER ALTE SCHNIERMANN energische Abwehr. Nee, nee ... Kauft Euch wat, Mudder.

MUTTER LÜCKEL sich erhebend und das Geldstück einsteckend. Kom'sche Mucken haste ... du kannst mal helfen den Pittjupp an't Fenster setzen, Vadder Sniermann.


Mutter Lückel und Schniermann gehen in die Krankenstube. Hannchen, die hinterm Tische gesessen, springt auf, sieht sich vorsichtig um und guckt zum Fenster hinaus. Dann holt sie Langenscheidts Geld hervor und betrachtet es. – Geräusch in der Krankenstube, steckt das Geld ein und springt behend in die linksseitige Nebenstube. Mutter Lückel und Schniermann schieben einen hochlehnigen, ledergepolsterten, altertümlichen Holzstuhl aus der Krankenstube heraus. Darinnen sitzt, ganz in Decken verpackt, Pittjupp, mit

todbleichem Gesicht und schwarzumränderten Augen. Er wimmert leise vor sich hin. Sie schieben den Stuhl zum Fenster, rücken einen gewöhnlichen Holzstuhl heran, auf den sie ein Kissen legen, um dann vorsichtig Pittjupps zerschmettertes, mit Bandagen umwickeltes Bein darauf zu strecken.
[666]

MUTTER LÜCKEL während dieser Vorgänge. So- o-o, Pittjuppche, nu komm, nu setzte dich an't Fenster, so-o-o. Kickste, da kannst upp die Straße kieken, wie die Kinderkens speelen. Die Luft schadt dir gar nix, hätt d'r Dokt'r seggt. So-o-o- Na, nu sei zufrieden, Pittjuppche ... mien leev Jung.

PITTJUPP apathisch dasitzend, schwache Stimme. Ich soll in't Krankenhuus, Mudding?

MUTTER LÜCKEL. Ja ... nu ... wat is auch, Pittjuppche? Sühste, dat hätt d'r Dokt'r so seggt. Da hast du ein besseres Bette, gute Luft un Pflege ... nu, sühst du ... Zeichen der Sorge.

PITTJUPP. Un mien Bein, Mudding?

MUTTER LÜCKEL. Nu, wat wird sinn? Sie machen dir einen Gipsverband, seggt d'r Dokt'r, un denn kannst du in 'n paar Wochens wedder rumtollen. Wohl, Vadder Sniermann?

DER ALTE SCHNIERMANN. Ja, ja. Wischt sich die Augen, abwehrende Bewegung; geht langsam hinaus aber die Straße.

MUTTER LÜCKEL kramt eine Flasche hervor. Da hat mir Vadder Sniermann fünf Groschens gevven. Un nu paß upp, Jung, wat du för 'n goot alt Mudding hast ... Nu geh ich zum Wirt un käuf mien Jung einen Schoppen roden Wein. Der wird dich stärken, der wird mien kranken Jung smecken, wohl? ... Hannchen ...! Hannchen!


Hannchen kommt zögernd herein.


MUTTER LÜCKEL. Wat auch treibst du ... hä?

HANNCHEN maulig. Nix.

MUTTER LÜCKEL. Wirst du an diene Arbeit gehn? Diene Mudder bräukt dat Geld!

HANNCHEN. Ich mag nich!

MUTTER LÜCKEL. Wat ...? Stock suchend. So soll dich gleich der Düwel ...

HANNCHEN frech. Ich laß mich nich mehr hauen! Un ich mag mir nich die Schwindsucht upp den Hals arbeiten! Verstehste mich![667]

MUTTER LÜCKEL läßt erschreckt den Stock fallen. Ja nu ... je ja ... Och Gott, wat soll ich da bloß machen! ... Wenn du mir auch nich mehr gehorchst, wat soll ich da bloß machen in all dem Unglück! Geht laut weinend mit ihrer Flasche über die Koloniestraße.

HANNCHEN sieht ihr nach; hastig. Pittjuppche, horch, wo is Mudding hin?

PITTJUPP. Ich gläuv ... Wein holen.

HANNCHEN. Hm ... Da kommt sie fix wedder ... Pscht, Pittjuppche. Huscht ins Nebenzimmer. Gleich darauf stürzt sie wieder mit einem Arm voll Kleidungsstücke heraus, wirft sie auf ihren Tisch, kramt in wilder Hast darin; setzt einen Hut auf, zieht ein altes Jackett an.

PITTJUPP. Wat tust du, Hannchen?

HANNCHEN. Ich ... hm. Sühst du, ich muß zum Finkensiep nach Dortmund, Deckblädder holen.

PITTJUPP. Da bräukst du dich doch nich anzuziehn.

HANNCHEN schaut fortwährend hastig zum Fenster hinaus. Je ja, sühst du ... Wütend. Dat geht dich doch überhaupt nix an!

PITTJUPP. Wenn ich uppstehn könnte ... schmiß ich dir wat in't Gesichte.

HANNCHEN Zunge blakend. Bä-ä-äh! Hastig herumsuchend. Pittjuppche, horch ... Sei mir nich bös, Pittjuppche, ich muß doch nach Dortmund ... Weißt du nich, wo Papier is ...? Da is welches. Greift ein Stück Papier, beschreibt es auf ihrem Arbeitstische mit fliegender Hast, legt es dann auffällig hin; Blick zum Fenster hinaus. Da ... so ... Un nu muß ich fort ... Dat du Mudding nix seggst, Pittjuppche, wohl? Ich hab't ihr uppschrieven ... sie liest's schon.

PITTJUPP angstvoll. Hannchen, wat willst du dun?

HANNCHEN. Nix, nix. Adjüs, Pittjupp. Küßt ihn. Un dat du wedder gesund wirst.

PITTJUPP hält sie fest. Hannchen, ich laß dich nich. Ich schrei, dat die Mudder kommt ...![668]

HANNCHEN. Pscht, pscht. Laß mich los ...! Sühst du, wenn du schreist, dann ...!

PITTJUPP. Ich halt fest ...! Ich schrei ...!

HANNCHEN versucht vergebens sich loszureißen. Pscht, Pittjupp, so laß doch ...! Pittjupp, paß upp. Wenn du mich gehn läßt un seggst Mudder nix, denn ... denn segg ich dir, wat du noch nich weißt.

PITTJUPP. Wat ich noch nich weiß ...?

HANNCHEN. Denn segg ich dir, wat se mit dir machen wollen.

PITTJUPP tödliche Angst. Mit mir ...?

HANNCHEN. Läßt du mich los ...?

PITTJUPP. Wenn du mir's seggst.

HANNCHEN. Un du schreist auch nich nach Mudder?

PITTJUPP läßt sie los. Nee, nee ... segg mir's, segg mir's!

HANNCHEN. Denn paß upp. Mit unterdrückter Stimme. Du sollst in't Krankenhuus ... sie wolln dir dat Bein affsnieden.


Pittjupp gellender Aufschrei; fällt matt in den Stuhl Zurück.


HANNCHEN. Pittjupp ... Pittjupp ...! Steht ratlos da, greift plötzlich in die Tasche und will ihm ihre Goldstücke aufdrängen. Weine nich ... hörst du. Kiekste, wieveel Geld ich hab; wenn du nich weinst, denn gevv ich dir dat Geld ... da ... nimm's nur ... hier. Legt das Geld auf den Arbeitstisch; steht unschlüssig, rafft sich dann zusammen und huscht mit angstvollen Blicken auf den Bruder hinaus und über die Straße davon.

DER ALTE SCHNIERMANN draußen. Hannchen ...! Hannchen ...! Eintretend. Nu segg mol, Pittjupp, wo springt denn dat Hannchen hin ... hä? Mit 'n Hut upp 'm Kopp? Wenn dat die Mudder wird sehn, hähähä ... da gibt et wat aus d'r Armenkasse, t-hähähä.

MUTTER LÜCKEL kommt mit dem Wein herein. So-o-o, mien Jung, nu sollst du mal 'ne Stärkung ham. Holt ein Glas,[669] schenkt dem Jungen ein und rührt Zucker in den Wein. So-o-o. Sie ham alle Mitleid mit mien armen Jung. Wat d'r Wirt is, d'r Schmatz, der hat mir noch mal soveel Wein gevven, weil 'r förs Pittjuppche is. Probiert. Ei ... hm ... m ... Na, da komm, da drink, mien Jungelche.

PITTJUPP stößt sie zurück. Ich mög dienen Wein nich!


Der alte Schniermann und Mutter Lückel staunen wortlos.


MUTTER LÜCKEL. Wat ... un dat dust du diener aalen Mudder? Ich hol dir Wein, un du stößt mich weg! Kann ich daför, dat du unter die Stempel kommen büst, hä? Denn sich auch, wo du bleibst!

PITTJUPP in wahnsinniger Angst, sie umschmeichelnd. Mudder, sei mir nich bös ... komm, mien leev Mudder, komm, ich drink ja schon dienen Wein ... sühst du, so-o-o ... ich folg ja schon, Mudding ...

MUTTER LÜCKEL flößt ihm den Wein ein. Nu, sühst du. Wat is bloß in dich gefahren? Nu büst du wedder mien leev Jung.

PITTJUPP. Un, Mudder, wenn ich wedder upp die Beine bin, denn wer' 'ch för dich arbeiten ... Dag un Nacht, Mudding. Kein Dröpken Schnaps wer' ich drinken, kein Prümtabak wer' ich mehr kaufen. Jeden Penning sollst du kriegen, Mudding ...!

MUTTER LÜCKEL. Ja doch, ja doch, aber nu reg dich man nich upp, Pittjuppche ...

PITTJUPP gesteigerte Angst. Aber, Mudder ... nicht wahr, ich bräuk nich in't Krankenhuus ... wohl? Ich bliev zu Huus, bis ich wedder gesund bün, Mudder ...!

MUTTER LÜCKEL. Ja, sühst du ... dat geht doch nich ... dat is doch nu alles abgemacht mit 'n Dokt'r. Er holt schon den Wagen ...

PITTJUPP wild herausschreiend. Mudder, laß mich mien Bein nicht affsnieden ...!!!! Schlägt die Hände vors Gesicht, fällt in die Kissen.


Mutter Lückel und der alte Schniermann stehen zu Tode erschrocken da.
[670]

MUTTER LACKEL. Wer hat dich dat seggt ...? Pittjuppche, wer hat dich dat seggt ...? Ihn liebkosend. Mien Jung, das is ja dumm Tuch. Wer will dich denn dien Bein affsnieden? Hab nur keine Angst nich. Sie wolln dir 'nen Gipsverband machen un dich pflegen un nix weiter. Komm, drink dienen Wein ... so-o-o. Komm, mien Jung.


Vonderscheer kommt mit ein paar Arbeitern herein.


VONDERSCHEER. Na, da wer'n wir ... Aha, da sitzt 'r ja ... Wie is Ihnen denn, Lückel, he?

PITTJUPP seine Mutter festhaltend. Mudder ... Mudder!

VONDERSCHEER. Na nu ... wat is denn los?

MUTTER LÜCKEL. Je ja, Herr Dokt'r, er will nich in't Krankenhuus.

VONDERSCHEER. Was ...! Sie ham ihm doch nich gesagt ...?

MUTTER LÜCKEL. Ich nich.

DER ALTE SCHNIERMANN. Ich auch nich, Herr Dokt'r.

VONDERSCHEER. Verdammt ...!

PITTJUPP jammert vor sich hin. Kein Bein affsnieden ... kein Bein affsnieden.

VONDERSCHEER eindringlich. Lassen Sie sich mal nich dumm machen, Lückel. Wer will Ihnen denn 'n Bein affsnieden, hä? Dummes Gerede! Gesund wolln wir Se machen, jawoll. Sie wolln doch auch mal zu den Soldaten, he? Na also. Mir wer 'n doch dem König seine Soldaten kein Bein affsnieden. Gehn Sie nur ruhig mit ... wohl? Zu den Leuten, leise. Vorwärts.


Die Männer beben den Rollstuhl und tragen Pittjupp, der leise vor sich hin wimmert, vorsichtig hinaus und über die Straße.


VONDERSCHEER. Vorsicht, Vorsicht Feste zupacken. Un nich anstoßen ... vorsichtig, zum Donner ... so-o-o- ... Adieu. Sie bekommen Nachricht von der Krankenhausverwaltung. Hinter den Leuten her.


Währenddessen standen Mutter Lückel und der alte Schniermann weinend da. Dann sinkt Mutter Lückel auf[671] einen Stuhl; Der alte Schniermann schaut dem Transport nach.


DER ALTE SCHNIERMANN. Ich laß mien Kopp, dat hat ihm die Hannchen seggt.

MUTTER LÜCKEL wütend aufspringend. Hannchen ...! Nebenstube links. Hannchen ...!

DER ALTE SCHNIERMANN. Sie is nich da.

MUTTER LÜCKEL. Wat ...?

DER ALTE SCHNIERMANN. Mit 'n Hut upp 'm Kopp is se aus d'r Kolonie ruut.

MUTTER LÜCKEL. Wat ...? Wo is se denn hin ...? Erblickt die Sachen auf dem Arbeitstisch; plötzliche Angst. Wat hat sie denn mit ihre Sachen zu dun ...? Sniermann, wo is sie hin?


Ratloses umschauen.


DER ALTE SCHNIERMANN. Da liegt ja 'n Zeddel. Nimmt ihn. Sie hat wat uppschreven.

MUTTER LÜCKEL. Ein Zeddel ... Lies mich dat för.

DER ALTE SCHNIERMANN buchstabierend. Nu, wie heißt denn dat? ... »Ich kann's bei euch ... nich mehr aushaken ... ich mag nich mehr ... Hunger leiden ... ich bin mit Herrn Langenscheidt fort ...«

MUTTER LÜCKEL kurzer Aufschrei. Fort ...! Mit Langenscheidt ...! Ach Gott, wat mach ich denn ... er hat sie in seiner Gewalt. Er wird mien Kind zugrunde richten ... Wat fang ich an. Hilft mir denn keiner ...!

DER ALTE SCHNIERMANN. Da liegt ja Geld. Herrgott, lauter Goldstücke. Mudder Lückel, da seht doch ... Hält ihr das Geld hin.

MUTTER LÜCKEL packt sich an den Kopf, Aufschrei. Dat ham se mir för mien Kind gegevven!!! Schlägt rücklings auf den Boden hin.

LIESA die, eintretend von der Türe aus, den Vorgang verfolgt bat, stürzt zu ihr hin. Mudder ...! Mudder ...!!!

Quelle:
Naturalismus_– Dramen. Lyrik. Prosa. Band 2: 1892–1899, Berlin und Weimar 1970, S. 644-672.
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