Achte Szene

[59] In der Festung. Raum des Gouverneurs.

Der Gouverneur. Klotz.


DER GOUVERNEUR. Sie geben also alles zu.

KLOTZ. Ja.

DER GOUVERNEUR. Wollen Sie jetzt das Protokoll unterschreiben?

KLOTZ. Ja.

DER GOUVERNEUR. Sie werden nicht gedrängt. Sie können es sich überlegen.

KLOTZ. Ich habe es schon überlegt.

DER GOUVERNEUR. Es ist gut, daß Sie sich so vernünftig benehmen. Wir brauchen keine scharfen Mittel gegen Sie anzuwenden.

KLOTZ. Die würden nichts nützen, Herr Gouverneur.

DER GOUVERNEUR. Seien Sie nicht hochmütig. Ich kenne diesen Ton bei den Untersuchungsgefangenen, er hört bald genug auf, wenn es ernst wird. Sie sind nicht der erste, mit dem ich zu tun habe.

KLOTZ. Ich weiß. Aber ich bin nicht stolz.

DER GOUVERNEUR. Sehen Sie doch ein, daß Ihre Handlungsweise unrecht war. Sie war aber auch unsinnig. Ein Mann von Ihrer Intelligenz hat nicht das Recht, unverständige Kreaturen aufzureizen. Das werden Sie ja büßen. Aber ich meine. Sie mit Ihren Fähigkeiten könnten der Gesellschaft wirkliche Dienste leisten. Ich sage nicht, kommen Sie zu uns. Aber ich sage: lassen Sie Ihre bisherige Tätigkeit.

KLOTZ. Nein, Herr Gouverneur.

DER GOUVERNEUR. Glauben Sie doch nicht, bei mir mit diesem Trotz Achtung zu erregen. Das hat gar keinen Sinn.

KLOTZ. Nein, es hätte keinen Sinn. Es ist aber nicht um zu imponieren, und es ist auch kein Trotz.

DER GOUVERNEUR. So, was ist es denn?

KLOTZ. Es ist mein Glaube.

DER GOUVERNEUR. Ihr Glaube? Aber sehen Sie denn nicht, daß er Sie irregeführt hat?[59]

KLOTZ. Nein.

DER GOUVERNEUR. Ja, so sind alle Fanatiker. Sie haben einen Glauben, aber der andere hat keinen oder einen falschen!

KLOTZ. Ich weiß. Auch Sie, Herr Gouverneur, sind ein Mensch.

DER GOUVERNEUR. Lassen wir diesen Ton. – Ernstlich. Sehen Sie mich an. So, wie ich vor Ihnen stehe – warum meinen Sie denn, stehe ich hier, wenn nicht auch ich meinen Glauben hätte?

KLOTZ. Nein, das ist nicht der Glaube. Das ist die Macht.

DER GOUVERNEUR. Die Macht, sagen Sie. Ja, ich habe die Macht. Und der beste Beweis gegen Sie ist, daß Sie sie nicht haben.

KLOTZ. Nein.

DER GOUVERNEUR. Ah, und warum haben Sie sie nicht? Fehlte nur noch, daß Sie mir sagen, weil Sie sie nicht wollen.

KLOTZ. Ja, weil ich sie nicht will.

DER GOUVERNEUR. Nun schön. Ich lasse Sie jetzt abführen. Ich sehe, ich habe mich zu weit mit Ihnen eingelassen. Es ist immer wieder dasselbe: Sie und Ihre Genossen glauben bei der geringsten menschlichen Regung von unsereinem das Recht zum Mißbrauch zu haben. Es soll nicht mehr vorkommen.

KLOTZ. Macht, was ist das? Ihre Zentralheizung, Ihr Telephon, Ihre elektrische Klingel, Ihre Beamten.

DER GOUVERNEUR. Meine Beamten.

KLOTZ. Ihre Beamten – wie lange? Solange Sie auf Ihrem Posten sind. Solange Sie leben. Solange Ihre Beamten leben. Übrigens, sind Sie Ihrer Beamten sicher?

DER GOUVERNEUR. Solange ich lebe, und solange die anderen leben. Solange überhaupt Menschen leben.

KLOTZ. Ah, und wieso stände ich denn hier vor Ihnen? Wie kommt es, daß Sie und Ihre Organisation vergeblich versuchen, meinen Mund zu schließen? Seit Jahrhunderten versuchen Sie das vergeblich.

DER GOUVERNEUR. Vielleicht muß auch das sein. Sie sind nur das dunkle Feld – ich sage nicht einmal: die Gegenseite! –, auf dem unser Bau reiner und höher dasteht. Vielleicht sind Sie sogar nötig, um unsere Macht leuchtender[60] und bewußter zu machen. Aber das hindert nicht, daß wir Sie und Ihre Kameraden aus der Welt schaffen. Und wissen Sie, wer uns dabei am meisten zu Hilfe kommt? Sie selbst. Was wollen Sie? Sie wollen selbst die Macht. In allen Ländern ist es das gleiche: Ihre Freunde schreien so lange, bis sie sich emporgeschrien haben. Schließlich ist alles nur eine Personenfrage. Zufall, daß nicht Sie hier an meiner Stelle stehen, sondern ich.

KLOTZ. Wäre das so, wie Sie sagen, dann hätten Sie nicht das Recht, an dieser Stelle zu stehen. Sind Sie denn dafür, daß in der Welt ein Mensch, besinnungslos vielleicht, einen anderen Menschen beschimpft, oder quält, oder krank macht, oder zuletzt mordet? Nein, dafür sind Sie nicht. Sie sind auf Ihrem Posten, weil Sie glauben, daß dadurch mehr Gerechtigkeit herrscht. Sie vertreten die Gewalt, in Wahrheit, weil Sie glauben, daß Sie dadurch der Güte dienen. Aber Sie haben immer in einer einzigen fürchterlichen Angst gezittert: Man könne Ihnen wegnehmen, was Sie besaßen. Toll vor Angst haben Sie sich in den Jahren Ihren Posten erarbeitet, mit Fleiß, mit Klugheit, mit Protektion, mit Energie. Sie haben heute die Verfügung über Gefängnisse und Maschinengewehre. Und Sie stehen inmitten Ihrer Macht und zittern vor jeder Sekunde Ihrer Zukunft. Aber schon für eine schwache Stimme, wie die meine, für einen Mann, den Sie und Ihre Auftraggeber mit einer kleinen Verfügung beseitigen können, müssen Sie Ihre ganze Geistesgegenwart und Ihre Nervenkraft zusammennehmen. Für uns Schwache müssen Sie dieses große Haus hier mit dicken Mauern bauen, Schildwachen davorstellen. Unablässig müssen Sie eine Armee von Spitzeln in Tätigkeit setzen, Sie müssen die Marterschreie anderer Menschen erdulden. Ihr Leben vergeht in einem angestrengten Unsinn. Ihre ganze Macht ist dazu da, daß Sie Ihrer Angst vor sich selbst ewig neu preisgegeben sind. –

DER GOUVERNEUR. Ich höre Ihnen geduldig zu und lasse Sie für Ihre Reden nicht bestrafen. Sie sehen, ich gebrauche meine Macht sehr milde.

KLOTZ. Sagte ich denn, daß Sie, Sie, die Macht haben? Sie selbst sind doch ein Werkzeug der Macht, ein Sklave[61] der andern sind Sie, wie die Wächter draußen Ihre Sklaven sind. Wissen Sie denn noch, was der Mensch ist, was Leben ist, was Freiheit ist? Sie lassen die Menschen peinigen, foltern, morden. Und Sie haben nur die Angst, daran zu denken, daß die Schmerzen, das geronnene Blut und das erstickte Leben der Gepeinigten und Hingeschlachteten Sie einmal anklagen wird bei der Menschheit, anklagen vor dem Ende der Welt, bei allem anklagen, was in uns noch Menschlichkeit war – und daß der Schrei der Gefolterten Finsternis in Ihre Seele bringt und Ihnen das Herz aus dem Leibe reißen wird.

DER GOUVERNEUR. Warum sagen Sie mir das? Erwarten Sie vielleicht davon Ihre Freiheit?

KLOTZ. Nicht von Ihnen. Wollen Sie es wissen: Ich bin frei. Hier im Gefängnis. Sie nicht. Sie haben alles zu verlieren, ich nichts. Ich bin es, der zu schenken hat!

DER GOUVERNEUR. Sie schenken?

KLOTZ. Das Geschenk des Menschen: die Freiheit.

DER GOUVERNEUR. Ja, mit Worten!

KLOTZ. Wenn Sie wollen, mit der Tat! – Wollen Sie!

DER GOUVERNEUR. Was?

KLOTZ. Das Letzte.

DER GOUVERNEUR. Und?

KLOTZ. Kommen Sie mit mir! –

DER GOUVERNEUR. Sehen Sie sich um: Das alles bin ich, dieses ganze Haus bin ich. Diese Lampe hier brennt durch mich. Der Schritt des Wächters, den Sie draußen hören, geschieht durch mich. Wäre ich nicht da, so griffe alles ins Leere. Diese Mauern wanken. Das bröckelt in einem Nu zusammen, und an seinem Platz ist ein Schutthaufen, auf dem Kinder und Hunde spielen.

KLOTZ. Sie sagen es: Kein Gefängnis mehr, sondern ein Schutthaufen, auf dem Kinder und Hunde spielen. Durch Sie. Wunderbarer Tag!

DER GOUVERNEUR. Aber ich darf nicht.

KLOTZ. Dann lassen Sie mich hier und gehen Sie allein. –

DER GOUVERNEUR. Hier meine Hände, so leer wie sie, ist mein Leben. Ich brauche ja nichts. Ich bin allein. Ein einzelner. Der andere nach mir läßt alles, wie es war, und mein Sprung war nur für mich.[62]

KLOTZ. Ah, ein Mensch nur, der den Sprung tut, ein einziger nur, der sich ganz besinnt, daß er Mensch ist: Und Sie haben alle Macht der Welt vernichtet. Unüberwindlich wären Sie, ein Keim, der durch die Luft fliegt, unsichtbar, allgegenwärtig durch alle Wände, und danach zerfiele alle Gewalt der Erde wie eine schimmelige Bude in der Feuchtigkeit. Sie sind der Mensch. Sie sind: Wir alle. Und nur, der es wagen würde, ahnungslos an Ihre Stelle zu treten und die Räder der Macht weiter kreischen zu lassen, der wäre ein einzelner. Grauenhaft allein wäre der unter den neuen Menschen, morsch, zum sicheren Sturz ins tödliche Vergessen verurteilt, wie ein angefaulter Telegraphenmast vom Wind gefällt wird. Die Macht liegt hinter Ihnen. Sie sind frei. Sie wissen, daß Sie frei sind. Kommen Sie!

DER GOUVERNEUR. Meine Macht? Dieses Schlüsselbund hier auf dem Tisch ist meine Macht. Da ist der Schlüssel zu meiner Wohnung. Hier zu meinem Schreibtisch. Der da zu diesem Zimmer. Und das ist der Schlüssel zu den Verfügungen. Hier sind sie. Nehmen Sie sie. Ich gebe sie Ihnen. Mit diesem kleinen Stückchen von geschmiedetem Eisen befehlen Sie der Welt.

KLOTZ. Nehmen Sie die Schlüssel zurück. Ich will sie nicht. Ich brauche sie nicht. Ich befehle nicht. –

DER GOUVERNEUR. Sie stehen vor mir so weit, daß ich nicht einmal die Arme nach Ihnen strecken kann. Dieser Boden ist ein spitzes Gebirge. Kann ich mich noch retten?

KLOTZ. Sie sind gerettet, Sie sind hinter dem Tod. Nun gehen Sie.

DER GOUVERNEUR. Ich bin frei. Ich weiß es. Aber wohin gehe ich?

KLOTZ. Zu den Menschen.

DER GOUVERNEUR. Wer ist das? Ich bin ein Mensch, Sie sind ein Mensch. Ist es nicht Übermut zu gehen? Ich bin geboren und geschaffen in diese Welt hinein, in der ich gelebt habe. Wenn ich mit dir gehe, ist das nicht Lüge? Ich befehle Armeen und gewinne Schlachten. Die Sonne geht morgen auf, ich werde Armeen von Menschen befehlen, und Menschen werden von mir sich befehlen lassen! Ändert sich etwas? Die Macht bleibt. Ich weiß[63] zuviel von Menschen. Ich bin allein. Ich bin kein Bruder. –

KLOTZ. Nein. Du bist nicht mehr allein. Niemand ist allein. Jeder von uns ist eine riesige, glühende, rote Sonne im Weltraum, sie scheint mild und klein hindurch in ein Krankenzimmer, und da erst weiß man von ihr. Ah, ich fühle es: Die Gewalt ist tot in dir; aber du zitterst noch vor deiner Erkenntnis? O strecke nur zum erstenmal die Hand aus, nicht um zu befehlen, sondern um zu helfen. Wende nur zum erstenmal den Kopf, nicht um zu richten, sondern um zu führen. Du bist geboren von Millionen Geschlechtern hervor aus dem Licht, um ein wehender Mensch zu sein, ganz unter den Menschen. Alles, was mit dir kam, und in dir alles, was Erkenntnis weiß, schwingt sich durch das Blut deiner Adern in deinen Handgriff, mit dem du hilfst. Du warst einsam; aber dein Wissen, das dich trennte, springt unter den Menschen um in Tat. Wir alle werden unter den Menschenbrüdern sein, keiner mehr groß, keiner mehr klein.

DER GOUVERNEUR. Wohin? Wohin?

KLOTZ. In unser Reich. Wir bauen mit dir die neue Erde. Bruder! Wir warten auf dich.

DER GOUVERNEUR. Ihr wartet auf mich?

KLOTZ. Ja. In Freiheit, in Liebe, in Gemeinschaft. Die ganze Menschheit zu befreien! Wirf deine Knechtschaft von dir, sei frei – frei! Mensch, der du in Wahrheit bist! Stoße die Angst von dir! Hilf der Menschheit. Du unser Bruder!

DER GOUVERNEUR. Mensch sein. – Bruder. – Ich gehe mit dir!


Dunkel.
[64]


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 59-65.
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