[Das Geheimniss frommer Waller]

Das Geheimniss frommer Waller

Ward mir klar und offenbar,

Und stets gleiche Pfade schritt ich

Mit der heil'gen Bürger Schaar.

Fern von ird'schen Räumen sah ich

Das erhab'ne Himmelsdach,

Wurde Staub und legt' als Teppich

Mich in's himmlische Gemach.

In den Adern treuer Liebe

Ward ich Blut und brauste wild,

Und im Auge der Verliebten

Ward ich Thau und glänzte mild.

Und bald ward ich, so wie Issa,

Eine Zunge ganz und gar,

Bald ein Herz, stumm und verschwiegen,

Wie das Weib, das ihn gebar.

Was von Issa und Maria

Lebet in der Sage fort,

Dieses Alles ward ich selber,

Schenkst du Glauben meinem Wort.

Von der Gottgeweihten Liebe

Schmerzendem Lanzettenstich

Ward ich hundertfach verwundet;

Doch das Pflaster auch bin ich.

Mit dem Todesengel wallt' ich

Gleiche Bahnen immerdar,

Und zur Stelle will ich sterben,

Wenn er je mir furchtbar war.

Und ich kämpfte mit dem Tode

Angesicht an Angesicht,

Bis des grausen Todes Auge

Wonne mir gebracht und Licht

Und den Sattelgurt des Lebens

Gürtete ich vollends los,

Und dem Sattel ew'ger Dauer

Schwang ich rasch mich in den Schoos.[139]

Hör' von mir den Laut der Flöte

Tönend aus des Ew'gen Reich,

Der ich krumm bin und gebogen,

Einer Harfe Rücken gleich.

Gott, das weiseste der Wesen,

Zeigte mir sein Angesicht,

Und ich gab mich Gott zum Opfer,

Und mehr Weisheit taugt mir nicht.

Als der Feste grösstes pranget

Stets Tebrisens Sonnenstrahl,

Und zum grössten Opfer ward ich

Bei des Festes heil'gem Mahl.

Quelle:
Rumi, Ǧalal o’d-din: Auswahl aus den Diwanen. Wien 1838, S. 137-141.
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