VIII.

[253] So begab ich mich denn doch zu Dommayer und blieb dort bis hart an drei Uhr sitzen. Endlich betrat ich die Hetzendorfer Straße und dachte beim Anblick der neuen schimmernden Villen an die unscheinbare Reihe schlichter, kleiner Landhäuser, welche in früherer Zeit hier gestanden.

An Ort und Stelle angelangt, wurde ich von einem Livreediener in einen großen, ebenerdigen Salon geführt, wo der Hausherr mit sechs männlichen Gästen bereits anwesend war. Ich sah, daß Röber bei meinem Erscheinen leicht errötete, und er konnte seine Verlegenheit nicht ganz bemeistern, während er mir mit ausgesuchter Höflichkeit entgegenschritt.

»Elsa hat mir gesagt, daß wir heute das Vergnügen haben würden, Sie zu empfangen; ich freue mich außerordentlich. Die Damen werden wohl gleich erscheinen; darf ich Sie einstweilen mit diesen Herren bekannt machen?«

Der Architekt, ein behäbiger, jovialer Lebemann und infolge des feinen Kunstsinnes, den er als Hersteller geschmackvoller Interieurs bewährte, in den vornehmsten Kreisen gesucht und beliebt, war schon auf mich zugekommen und schüttelte mir die Hand, während der Musiker H ..., ein ergrauter Apostel Richard Wagners, sich mit einem apathischen Kopfnicken begnügte. Der Maler, schlank und blond, der mir bloß dem Namen nach bekannt war, verneigte sich mit verbindlicher Schüchternheit wie ein junges Mädchen.

Ganz unbekannt waren mir: Herr Malinsky, Geschäftsfreund Röbers; eine hagere Gestalt mit fast kahl geschorenem Haupte, aber endlos nach rechts und links abstehendem Backenbarte. Sein Antlitz war schlaff und durchfurcht, sein Blick matt und doch durchdringend wie der eines Croupiers. Dann ein schmächtiger Jüngling mit nachlässiger, vornüber gebeugter Haltung, dünner Habichtsnase, ein rundes Stück Glas ins rechte Auge geklemmt. Er wurde mir als Baron Conimor vorgestellt[254] und bemühte sich, verständnisinnig zu lächeln, als ihm mein Name genannt wurde. Dabei sah man ihm die Zuversicht an, daß der Nimbus kolossalen Reichtums, der den seinen umstrahlte, keineswegs verfehlen würde, die richtige Wirkung zu tun. Ganz zuletzt tauchte, gewissermaßen wie aus einem Versteck, ein kleiner dicker Mann mit Säbelbeinen, ungeheuerer Stirn und wulstigen Lippen über dem verschwindend kurzen Kinn auf: der Direktor des neuen Kinderasyles. Er verneigte sich linkisch und sah in seinem zwar ganz neuen, aber sehr schlecht sitzenden schwarzen Anzuge zwischen den in geschmackvolle Sommertracht gekleideten Anwesenden wie ein Leichenbitter aus. Den vornehmsten Eindruck machte Röber. Er war wieder ganz die stramme, tadellose Erscheinung von früher. Sein Scheitel war freilich gelichtet geblieben; aber dieser Mangel ließ die Stirn freier und schöner hervortreten, wie denn überhaupt seine Züge, wie sich nun zeigte, mit den Jahren an Bedeutung gewonnen hatten. »Was nicht das Geld vollbringt!« dachte ich wieder still bei mir.

Jetzt öffnete sich die Tür, und die beiden Damen traten ein. Aller Augen blickten ihnen entgegen und leuchteten, mit Ausnahme der grauen und kalten Röbers, in Bewunderung für die Hausfrau auf.

Elsa sah nun auch wirklich überraschend schön aus, und man kam hier wieder einmal zur Einsicht, welche Rolle die Ankleidekunst im Leben einer verblühenden Frau spielt. Eine knappe, spitzenverbrämte Robe von gelblicher Farbe, herzförmig ausgeschnitten und in der linken Achselgegend mit blassen Rosen geschmückt, zeigte ihren Wuchs in harmonischer Schlankheit; die eben in Mode gekommene schlichte und glatte Haartracht, mit dem kleinen englischen Knoten im Nacken, ließ sie um so jugendlicher erscheinen, als der krankhafte Gesichtsausdruck in diesem Augenblicke gänzlich verschwunden war. Erst jetzt bemerkte ich, daß die Haare einen starken Schimmer ins Rote aufwiesen, der offenbar künstlich hergestellt war, wie man denn überall die verhüllende, nachbessernde und verschönende Hand[255] wahrnehmen und verfolgen konnte. Dennoch lag über der ganzen Gestalt eine köstliche aromatische Frische, an der man ebenso wenig zweifeln mochte, wie an der Echtheit der Brillant-Boutons, die an den rosigen Ohren der schönen Frau gleich großen Tautropfen funkelten.

Als gerader Gegensatz erschien Frau von Ramberg, obgleich auch sie sich in den Gemächern der Hausfrau mit etwas Reispulver angefrischt und den spärlichen Brauenwuchs über den wasserblauen Augen sorgfältig nachgedunkelt hatte. Ihr Gesicht erwies sich nun ohne Schleier als nicht unhübsch: kleine, gekniffene Züge, denen ein bedeutungsvoller Ausdruck aufgezwungen war. Sie trug das fahlblonde Haar rund abgeschnitten und zu einer kunstvollen Kräuselfülle aufgebauscht, was ihr im Verein mit der stolzen Kopfhaltung und einem schwarz geränderten Kneifer, den sie nunmehr, weiß Gott warum, auf die Stumpfnase gesetzt hatte, fast das Aussehen eines jungen Mannes verlieh; auch der hagere, eckige und von einem übertrieben einfachen Kleide bis an das Kinn hinauf umschlossene Leib stimmte dazu. So hatte denn die ganze Erscheinung etwas Zwiespältiges, das leicht ein Lächeln hätte hervorrufen können, aber der scharfe, böse Zug um die schmalen, blutlosen Lippen der Dame mahnte zur Vorsicht.

Elsa, ein prachtvolles Bukett von Rosen und Hyazinthen in der Rechten, bot mir mit einem Blick der Befriedigung rasch die Linke zu flüchtigem Drucke. »Schön, daß Sie Wort gehalten haben!« Dann begrüßte sie die Gesamtheit der übrigen Herren mit einer anmutigen Kopfbewegung und trat auf den Direktor zu. Dieser sagte unter zahllosen Bücklingen, er habe seinen Sonntag benützt, um der großherzigen Gönnerin vor der Badereise noch Kunde von ihren lieben Schützlingen zu bringen. Der Herr Gemahl sei so liebenswürdig gewesen und habe ihn aufgefordert, beim Diner zu bleiben.

»Sehr willkommen«, erwiderte Elsa, deren Züge einen innig ernsten, fast andächtigen Ausdruck angenommen hatten.[256] »Hoffentlich gedeihen die Kleinen und sind zufrieden. Wir wollen bei Tisch weiter davon sprechen.« Dann wandte sie sich, wie mir schien, mit etwas gezwungener Liebenswürdigkeit an Conimor. »Und Ihnen, Baron Sigi, muß ich sehr danken für das wundervolle Bukett – sowie für die anderen Blumen, die Sie mir neuerdings haben senden lassen. Es ist sehr lieb von Ihnen – aber was wird Ihr Papa sagen, wenn Sie die Treibhäuser derart plündern? Nicht wahr, Leo?« Sie blickte nach Röber; dieser aber zuckte bloß die Achseln.

»Ach was, Papa!« lachte Conimor gedehnt. »Der tut's ja selbst – wenn auch mehr im geheimen.«

»Das muß wahr sein«, warf der Architekt ein, der als gutmütiger Spottvogel bekannt war. »Conimor Vater und Sohn ersticken die Frauen Wiens mit Blumen.«

»Nur die schönen, wenn ich bitten darf«, versetzte der Baron, Elsa, indem er den Kopf leicht hin und her wiegte, mit den Augen verschlingend. »Übrigens – unsere Gärten vertragen es. Sie wissen doch, daß wir zur Vergrößerung der Anlagen in Nußdorf wieder einige Joch Terrain erworben haben?«

»Und einen Gartendirektor aus England«, warf der Maler ein.

»Ja – aber auch der leistet nichts Besonderes, nichts Außergewöhnliches. Rosen – und immer wieder nur Rosen. Das wird am Ende langweilig. Soll einer einmal eine ganz neue Blume erfinden!«

»Das dürfte freilich schwer halten«, sagte der Architekt. »Aber bringen Sie selbst einmal Abwechselung in den Gegenstand. Geben Sie statt der Rosen andere Gewächse, zum Beispiel Passifloren.«

Conimor öffnete ein wenig den Mund und sah in die Luft. »Passifloren?«

»Gewiß«, fuhr der andere fort. »Und da ließe sich vielleicht eine ganze neue Spielart zuwege bringen; die können Sie dann Passiflora Conimor nennen.«

»Passiflora Conimor«, wiederholte der Baron gedankenlos,[257] denn er starrte wieder nach Elsa, die sich inzwischen von ihm entfernt hatte.

In diesem Augenblicke wurden die Türflügel des anstoßenden Speisezimmers geöffnet, und ein Diener in schwarzem Frack meldete, daß serviert sei.

Elsa schob leicht ihren Arm unter den meinen; Röber führte Frau von Ramberg, die mit dem Direktor ein Gespräch begonnen hatte, und wir ließen uns alle an dem Tische nieder, der mit kostbarer Einfachheit gedeckt war: schweres Linnen, schwere Kristallgläser, massives Silber. Keine Blumen (denn wie mir Elsa zuflüsterte, liebte Röber sie nicht auf der Tafel); nur eine alte getriebene Fruchtschüssel, in welcher, von großen Gartenerdbeeren umgeben, eine Ananas goldig erglänzte, hob sich farbig von dem funkelnden und schimmernden Weiß ab. Auch das Menu sprach für den Geschmack der Wirte: wenige Gänge, aber ausgesuchte, seltene Gerichte; Bordeaux und Champagner.

Elsa saß zwischen mir und dem Direktor. Dieser hatte gleich nach der Suppe seinen Bericht begonnen, den er, von teilnehmenden Fragen der Hausfrau des öfteren unterbrochen, mit einem salbungsvollen Sermon über den Segen der modernen Humanität schloß. Die Unterhaltung wurde nun allgemein. Conimor gab die neueste Turfanekdote zum besten. Man kannte sie aber schon und sie fand daher wenig Anklang. Die Künstler sprachen selbstverständlich von allerlei, das in ihr Fach schlug: der Maler von dem Bismarckbildnisse Lenbachs, der Architekt von einem verfallenen Schlößchen, das ein Graf X in Tirol gekauft habe und dessen Restaurierung demnächst in Angriff genommen werden sollte, der Musiker von der Aufführung des Parzival, die in Bayreuth bevorstand. Meine Tischnachbarin zur Linken, Frau von Ramberg, gab mir sehr eindringlich ihre Begeisterung für einen norwegischen Dichter zu hören, welcher eben damals mit seinen Dramen Aufsehen erregte, später aber durch Henrik Ibsen vollständig verdrängt[258] wurde. Röber überwachte mit scharfen Blicken den Fortgang des Diners, während er mit dem neben ihm sitzenden Malinsky von Zeit zu Zeit einige vertrauliche Worte wechselte.

Nicht allzu lange dauerte es, so wurde die Tafel aufgehoben, und man begab sich, um den Kaffee zu nehmen, in den Salon, da einstimmig erklärt wurde, auf der Terrasse sei es noch zu heiß.

Nachdem der Direktor seine Tasse und ein Gläschen Chartreuse geleert hatte, bewegte er sich, eine der schweren Zigarren, die Röber seinen Gästen dargereicht, unangezündet zwischen den dicken Fingern, verlegen auf seinem Stuhle hin und her. Endlich erhob er sich und stammelte, man möge verzeihen, daß er sich leider entfernen müsse. Er habe eine Verabredung mit seiner Frau getroffen, die ihn in Schönbrunn erwarte.

Elsa reichte ihm sehr freundlich die Hand, die er untertänig an die wulstigen Lippen drückte. Wie schön, wie weiß war jetzt – ich hatte sie schon bei Tisch bewundert – diese Hand, an deren schlankem Goldfinger ein prachtvoller Saphir glänzte.

»Ich hoffe, vor meiner Abreise Ihre Zöglinge noch persönlich aufsuchen zu können; wenn nicht, so erhalten Sie jedenfalls das Bewußte zugesendet.«

Kaum war der Direktor, der sich in der Nähe der Tür noch einmal mit einem tiefen Knix umgewendet hatte, wobei er nach Weiberart an seine langen Rockschöße griff, verschwunden, als auch Röber sich erhob.

»Ich muß ebenfalls aufbrechen,« sagte er, »und kann nur bedauern, die Gegenwart so angenehmer Gäste nicht länger genießen zu können.«

Man sah, wie Elsa erbleichend zusammenzuckte. »Wie?« fragte sie mit gepreßter Stimme, »du willst fort? Du hast doch versprochen, den Abend hier zuzubringen – endlich einmal«, setzte sie leiser hinzu.

»Ja, ich habe es versprochen«, erwiderte er kalt. »Aber ich kann mein Versprechen nicht halten. Eine wichtige Angelegenheit zwingt mich, nach der Stadt zu fahren.«[259]

»Heute? An einem Sonntag?« fragte Frau von Ramberg spitz.

»Meine Angelegenheiten kennen keinen Sonntag, gnädige Frau.« Dann wandte er sich zu Elsa. »Malinsky wird es dir bestätigen; er kommt mit mir.«

»Allerdings«, sagte dieser, indem er seine durchfurchte Stirn noch mehr in horizontale Falten legte. »Es geht nicht anders, Verehrte.« Er erhob sich zum Abschied.

Elsa schien ihn gar nicht gehört zu haben.

»Geh' nur, geh'!« sagte sie, das Haupt zurückwerfend, heftig zu Röber. »Wir können auch ohne dich ausfahren.«

»Gewiß,« erwiderte er mit einem harten Blicke; »du wirst mit Conimor fahren.«

»Nun, wenn du es durchaus willst –« versetzte sie, nervös erbebend, und sah ihn mit weit geöffneten Augen an.

»Ja, ja!« rief der Baron vergnügt, »wir fahren miteinander! Mein Fiaker hat heute ein ganz neues Zeug'l – famos!«

Elsa achtete nicht darauf. »Und wann kommst du zurück?« fragte sie, schwer atmend.

»Das weiß ich nicht. Es dürfte spät werden, und da übernachte ich besser gleich in der Stadt.«

Nachdem er dies in eisigem Tone gesprochen hatte, verbeugte er sich nach rechts und links; dann trat er, wie sich besinnend, an mich heran und reichte mir mit einem Anfluge seines früheren Hochmutes die Hand. »Ich hoffe, Sie wohl noch ein andermal zu sehen.«

Als er sich mit Malinsky entfernt hatte, trat eine peinliche Stille ein. Man sah, in welcher Gemütsverfassung sich Elsa befand, und war in Verlegenheit, wie man darüber hinwegkommen sollte. Selbst der joviale Architekt wußte sich nicht zu helfen; er trommelte auf den Scheiben der Glastür, die auf die Terrasse führte, während Frau von Ramberg ihren sichtlichen Ärger hinter einem Zeitungsblatt verbarg, das sie zur Hand nahm. Der Maler aber näherte sich betrachtend[260] den Bildern, die an den Wänden hingen; darunter auch eine arg verstrichene Farbenskizze von Makart, welche die Hausfrau in einem ungeheueren Rembrandthute vorstellte. Zuletzt vertiefte er sich sehr angelegentlich in einen ganz kleinen Pettenkofen, der in der Nähe eines Fensters angebracht war. Nur Conimor kam nicht aus dem Gleichgewichte. Er goß sich höchst munter ein zweites Glas Chartreuse ein und vertauschte seine Zigarre, die er in den Aschenbecher warf, mit einer zarten Papyros.

»Wie heiß es hier ist!« rief Elsa plötzlich, indem sie ihren Fächer heftig auseinander schwirren ließ.

»Soll ich die Tür öffnen?« fragte der Architekt.

»Bitte!«

Er tat es. Die Luft, die hereindrang, war allerdings noch von der Nachmittagssonne durchglüht; aber ihr würziger Hauch erquickte doch und verteilte sich wohltuend in dem rauchigen Raume.

Man atmete freier auf, und auch Elsa schien sich allmählich zu fassen.

»Lieber H ...,« sagte jetzt Frau von Ramberg herablassend zu dem Musiker, der inzwischen regungslos dagesessen hatte, »Sie haben bei Tisch von der neuesten Schöpfung Wagners gesprochen. Sie kennen sie gewiß schon – wenigstens zum Teil. Können Sie uns nichts daraus vorspielen?«

»Den Anfang, wenn Sie wollen«, erwiderte der Gefragte trocken.

»O ja! Wir bitten darum!« rief Elsa aus ihren Gedanken heraus. »Nicht wahr?« wendete sie sich fragend an mich; sie hatte sich offenbar erst jetzt wieder auf meine Anwesenheit besonnen.

Der Musiker erhob sich, trat an den Stutzflügel, der in der Nähe der Gartentür stand, und öffnete ihn, während alles Platz nahm.

Jetzt begann er zu spielen. In feierlichen, vibrierenden Schwingungen, sofort an die Eigenart ihres Urhebers mahnend, quollen die Töne auf.[261]

Der Architekt, wie um gesammelter zuzuhören, schloß die Augen; der Maler drehte, etwas zerstreut, die Enden seines feinen blonden Schnurrbärtchens; Conimor, die Hände in den Hosentaschen, öffnete den Mund. Frau von Ramberg hatte sich neben Elsa gesetzt und lauschte mit zurückgeworfenem Haupte und übereinandergeschlagenen Beinen. Elsa blickte starr vor sich hin; von Zeit zu Zeit schien ein leichter Schauder durch ihren Körper zu gehen.

Das Spiel war zu Ende und tiefe Stille trat ein. Der Architekt fuhr empor; man merkte, daß er geschlummert hatte. Endlich sprach Frau von Ramberg: »Großartig! Erhaben!«

»Das eigentlichste Werk des Meisters, eine Offenbarung«, bekräftigte H .... barsch.

»Hm – ja«, sagte Conimor, indem er aufstand und näher trat. »Aber was Sie letzthin gespielt haben, hat mir noch viel besser gefallen. Sie wissen, das Stück da – aus Tristan und Isolde –«

»Isoldens Liebestod«, versetzte der Musiker kurz, ohne ihn anzusehen.

»Ach ja, Isoldens Liebestod!« rief Elsa hastig. »Er ist wundervoll! Spielen Sie ihn doch!«

»Wird es Sie nicht zu sehr angreifen, meine Liebe?« fragte die Ramberg mit gedämpfter Stimme. »Ich fürchte –«

»Ach nein, nein! Es tut nichts! Bitte, liebster H ...!«

Dieser legte wieder die langen, vertrockneten Finger auf die Tasten, während sich Conimor auf ein kleines Tabouret niederließ, das zufällig ganz nahe hinter dem Fauteuil Elsas stand.

So trat denn neuerdings erwartungsvolles Schweigen ein, und bald darauf entwickelte sich aus glau ineinander zitternden Klangwellen heraus, in allmählichen, grausam wollüstigen, immer wieder in sich zurücksinkenden Steigerungen, der gewaltsamste Angriff auf die menschlichen Nerven, den die Tonkunst kennt. Die Wirkung war auch hier eine geradezu körperliche: Jeder fühlte sich in seiner Weise gepackt, überwältigt, gepeinigt, entzückt,[262] aufgelöst. Selbst Frau von Ramberg konnte ihre Würde nicht behaupten; sie fing an, sich auf ihrem Sitze wie eine Schlange zu winden. Elsa lag weit zurückgelehnt in dem niederen Fauteuil, ohne zu merken, daß ihr Haar den Arm Conimors berührte, den dieser auf die Lehne gelegt hatte. Sie war bleich, und ein hastiges, gleichmäßiges Zucken erschütterte ihren Leib. Plötzlich stieß sie einen durchdringenden Schrei aus.

Alles sprang erschrocken auf; nur der Musiker blieb ruhig sitzen, die Finger auf den Tasten.

»Ich hab' es ja gewußt!« rief Frau von Ramberg, mehr erzürnt als besorgt, indem sie mit ihrer dürren Hand über die Stirn Elsas strich.

Diese sah aus wie eine Tote, ihr Blick war gebrochen. Dennoch erhob sie sich, mühsam nach Atem ringend, nahm den Arm der Dame und wankte, auf der andern Seite von Conimor unterstützt, aus dem Salon. Man hörte, wie sie draußen in ein krampfhaftes Weinen ausbrach.

»Schöne Bescherung!« sagte der Architekt nach einer Pause. Dann sich zu H .... wendend: »Da haben Sie die Wirkungen der Wagnerschen Musik.«

»Was kann Wagner dafür, daß die Leute krank sind«, versetzte der andere phlegmatisch.

»Wie aber stünd' es um ihn, wenn sie's nicht wären?«

»Sie sind jedenfalls gesund«, sagte H ...., indem er aufstand und ihm mit einen leichten Schlag auf den wohlgenährten Leib versetzte. Dann sah er nach der Uhr. »Schon sechs. Ich muß nach Lainz hinüber. Adieu.« Er verbeugte sich nachlässig und ging.

»Alter Musikbär!« brummte der Architekt und folgte dem Maler und mir über die Terrasse in den Garten, wo wir ziemlich einsilbig das blumige Rondell des Vorplatzes umschritten. Draußen, hart am Gitter, im Schatten überhängender Zweige stand der Fiaker Conimors; in der Tat ein sehr »fesches Zeug«, dessen[263] Lenker, auf dem Kutschbock ausgestreckt, den Schlaf des Gerechten schlief.

Jetzt kam der Baron zurück und gesellte sich zu uns. Wir sahen ihn fragend an.

»Ich weiß nichts«, sagte er, die Achseln zuckend. »Sie hat sich mit Frau von Ramberg auf ihr Zimmer begeben.«

Es dauerte nicht lange, so erschien diese auf der Terrasse und schritt uns, sichtlich erregt, mit wichtiger Miene entgegen.

»Die Frau des Hauses ist noch immer nicht wohl«, sagte sie.

»Doch nichts Gefährliches?« forschte Conimor angelegentlich.

»Ich hoffe nicht. Jedenfalls aber kann sie sich heute nicht mehr zeigen. Die Herren wollen sich also in ihren weiteren Plänen für den Abend nicht stören lassen. Sie aber, Baron Sigi, fahren sofort nach der Stadt zu Doktor Breuer, auf daß er, wenn möglich, noch heute herauskommt.«

»Soll geschehen«, versetzte Conimor, näherte sich dem Gitter und rief den Kutscher an. Er mußte es noch zweimal tun, bis dieser emporschrak, schlaftrunken um sich blickte und, endlich die Sachlage begreifend, beim Tor der Villa vorfuhr.

»Und was tun wir?« wandte sich der Architekt an den Maler.

Dieser blickte unschlüssig vor sich hin.

»Wenn die Herren wollen, nehme ich Sie mit«, sagte Conimor mit einer einladenden Armbewegung.

»Ja, haben wir denn alle drei Platz?« fragte der umfangreiche Baukünstler mit einem Blick nach dem zierlichen Gefährt.

»Ach was, wir nehmen den Baron auf den Schoß!« erklärte der Maler.

Die Herren stiegen ein.

Nachdem der Wagen fortgerollt war, sah mich Frau von Ramberg von der Seite an und fragte: »Sie kennen Elsa schon lange?«[264]

»Allerdings – ziemlich lange.«

»Und auch, wie sie mir selbst gesagt hat, ihre früheren Verhältnisse. Da werden Sie sich wohl manches von dem erklären können, was Sie heute wahrgenommen.« Sie erwartete, daß ich etwas darauf sagen würde. Da dies aber nicht geschah, fuhr sie fort: »Das ist die Folge, wenn man einem Manne alles opfert. Offen gestanden, habe ich Elsa, nachdem ich ihren Roman gelesen, für eine weitaus bedeutendere Frau gehalten. Sie ist doch nur eine beschränkte, weichmütige Wienernatur und brachte es nicht einmal dahin, daß Röber sie geheiratet hat. – Ich glaube, sie wollte Ihnen Eröffnungen machen und Ihren Rat erbitten«, setzte sie nach einer Pause hinzu, offenbar ärgerlich über mein andauerndes Schweigen, das ihr gewiß sehr einfältig erschien. »Aber da ist nicht zu raten und nicht zu helfen. Er liebt sie eben nicht mehr. Auch sonst ist die Arme sehr übel daran. Sie hat nämlich in letzter Zeit öfter derlei Anfälle, und die Ärzte verstehen ihren Zustand gar nicht, wenn sie ihr Bewegung verordnen. Ich halte das Ganze für den Beginn einer höchst traurigen Frauenkrankheit.«

Mit diesem kategorischen Ausspruch zog sie das Kinn zu kurzem Gruß an und entließ mich.

Ich aber trat in den lauen, dämmerigen Abend hinaus. Auf dem Hietzinger Platze wimmelte es von Menschen und Fuhrwerken aller Art, die bereits samt und sonders der Stadt zustrebten, während bei Dommayer lustige Musik erklang und immer neue Scharen von Besuchern den Schönbrunner Park verließen. Mitten in diesem bunten Gewoge schritt auch ich jetzt, meinen Gedanken nachhängend, dahin.


* * *


Als ich mich im Laufe der nächsten Tage, meinen Besuch in Penzing erledigend, nach dem Befinden Elsas erkundigte, erhielt ich in der Villa den Bescheid, daß sie auf dringendes Anraten der Ärzte eine altbewährte Wasserheilanstalt aufgesucht habe.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 9, Leipzig [1908], S. 253-265.
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