III.

[181] In welcher Aufregung ich am folgenden Tage der vierten Nachmittagsstunde entgegensah, läßt sich denken; ich zählte die Minuten und machte dabei die Wahrnehmung, wie endlos lang solch ein minimaler Zeitabschnitt unter Umständen erscheinen könne. Und wie das schon in ähnlichen Fällen zu gehen pflegt, stellten sich meiner fieberhaften Ungeduld noch in der letzten Stunde Hindernisse entgegen, ganz unvorhergesehene Dienstobliegenheiten, die mich fast um das Stelldichein gebracht hätten. Dennoch gelang es mir, knapp vor vier Uhr, abzukommen, und mich fast laufend auf den Weg zu machen.

Das Wetter hatte sich in der Tat sehr günstig angelassen. Die schönste Februarsonne strahlte vom blauen Himmel nieder und schuf einen wahren Frühlingstag, wenn auch die Landschaft noch ihre ganze winterliche Kahlheit aufwies.

Schon von weitem gewahrte ich die schlanke Gestalt Ginevras zwischen den bezeichneten Baumreihen auf und nieder wandeln. Auch sie nahm mich alsbald wahr und winkte mir mit dem Fächer, den sie statt eines Sonnenschirms mitgenommen und ausgespannt hatte, grüßend zu. Sie trug ihr Mäntelchen nur ganz leicht um die Schultern geworfen, und der schwarze Schleier umwehte lose ihr blondes Haupt.

›Also sind Sie doch gekommen‹, sagte sie lächelnd, als ich endlich atemlos und erhitzt vor ihr stand. ›Ich hatte schon angefangen, ein wenig zu zweifeln.‹

Ich wollte zu meiner Entschuldigung hastig die Gründe der Verspätung auseinandersetzen, aber sie unterbrach mich.[181] ›Das tut ja nichts. Sie sind jetzt da – und was mich betrifft, so hätte ich gewiß noch weit länger gewartet. Auch hab' ich Ihnen eine gute Nachricht, mitzuteilen: meine Mutter will Sie empfangen.‹

›Welch ein Glück!‹ rief ich aus.

›Ich hatte es vorausgesehen,‹ fuhr sie ruhig fort. ›Denn ich kenne meine Mutter und weiß, daß sie mir keinen Wunsch abschlägt. Sie dürfen jedoch nicht glauben, daß ich ein verzogenes Kind bin. Die Gute erfüllt meine Wünsche, weil ich nur selten einen habe – oder doch wenigstens ausspreche. Geschieht dies aber, dann ist sie auch überzeugt, daß es ein sehnlicher und wohlüberlegter ist, auf welchem ich, wenn es not tut, bestehe. Als ich ihr von unserer Begegnung auf dem gestrigen Balle erzählte, sagte sie daher bloß: wenn du glaubst, daß er es redlich meint, so mag er kommen. – Und Sie meinen es doch redlich?‹ setzte sie hinzu, indem sie mir voll und tief in die Augen sah.

Ich gestehe, daß mich diese Frage einigermaßen betroffen machte. Denn ich empfand, daß jetzt etwas Ernstes, feierlich Bindendes an mich herangetreten war, darauf ich nicht vorbereitet gewesen. Aber schon hatte ich mich über die schmale Hand gebeugt, die sich mir vertrauensvoll entgegenstreckte, und sie mit stummer Beteuerung geküßt.

›Ich habe nicht daran gezweifelt‹, sagte sie in festem Tone. ›Die Offiziere stehen zwar, was uns Mädchen betrifft, in keinem besonderen Rufe. Aber ich glaube, es ist ein Vorurteil, das, wie manches andere, gedankenlos nachgesprochen wird. Hatte ich doch an meinem Vater den Beweis, daß gerade in Ihrem Stande die Ehre über alles geht. – Aber kommen Sie jetzt; meine Mutter erwartet Sie. Es ist zwar noch sehr schön hier außen; allein der Tag neigt sich doch schon dem Ende zu, und in der Dunkelheit sollen Sie unser Haus nicht betreten.‹

So schritten wir denn auf die kleinen Wohnstätten zu, die in der Entfernung vor uns lagen. Sie bildeten, von kunstlos[182] umzäunten Gärtchen und winzigen Grundstücken unterbrochen, eine Art Vorort, der im freien Felde lag. Es wohnten sichtlich arme Leute hier; aber alles erschien wohlgehalten und reinlich. In den blanken Scheiben spiegelten sich die Strahlen der niedergehenden Sonne; hier und dort spielten Kinder friedlich vor den Türen.

Das Haus, dem mich jetzt Ginevra entgegenlenkte, war etwas ansehnlicher als die übrigen; zum Eingang führten mehrere Stufen empor. Als wir diese hinanstiegen, zeigte sich am nächsten Fenster das derb gerötete, neugierig blickende Antlitz einer bejahrten Frau, welche gleich darauf im Flur an uns vorüberkam und in einer Seitentür verschwand.

›Das war unsere Hauswirtin,‹ sagte Ginevra; ›die Witwe des Amtsdieners, der unter meinem Vater gestanden und sich dieses kleine Anwesen im Laufe der Jahre erwirtschaftet hatte. Sie selbst bewohnt eben nur eine Kammer; alles andere haben wir um ein Billiges gemietet.‹

Sie öffnete eine zweite Seitentür, durch welche wir in eine helle Küche traten, und von da in eine nicht ungeräumige Wohnstube, wo die Mutter Ginevras im Lehnstuhle saß, eine zarte, schmächtige Frau, die leidend aussah, aber nicht viel über vierzig Jahre zählen konnte. Eine leichte Röte flog über ihr Antlitz, als wir eintraten und sie mit einiger Mühe sich erhob.

›Da ist er, Mamma,‹ sagte Ginevra. ›Ich lasse dich mit ihm allein.‹ Sie legte rasch Fächer, Schleier und Mäntelchen ab und eilte wieder hinaus.

Ich näherte mich der blassen Frau, die sich wieder gesetzt hatte, und eine Pause gegenseitiger Verlegenheit trat ein.

Endlich begann ich: ›Sie waren so gütig, mir zu gestatten – –‹

›Es freut mich, Sie kennen zu lernen‹, erwiderte sie in ziemlich gebrochenem Deutsch. ›Bitte, nehmen Sie Platz.‹

Ich zog einen Stuhl heran.

›Ich weiß nicht,‹ fuhr sie nach einigem Zögern fort, ›ob[183] ich recht getan, Sie zu uns zu bitten; wohl die meisten Mütter würden Bedenken getragen haben. Aber meine Tochter hat mir alles mitgeteilt, was auf dem Balle vorgefallen, und so schien es mir doch am geratensten, einem Wiedersehen keine Hindernisse in den Weg zu legen. Ihre liebenswürdige Persönlichkeit‹ – sie sagte diese Schmeichelei mit einem leichten Senken des Hauptes und in jenem feinen, vornehm ausgleichenden Tone, wie er nur in Italien zu hören ist – ›Ihre liebenswürdige Persönlichkeit scheint einen tiefen Eindruck hervorgebracht zu haben, und es würde vielleicht zu geheimen Zusammenkünften gekommen sein, die für ein junges Mädchen immer höchst peinlich sind. Ich selbst war, als ich die Bekanntschaft meines unvergeßlichen Gatten machte, duch die Verhältnisse im elterlichen Hause dazu gezwungen und weiß, was ich dabei gelitten habe. Denn trotz aller Liebe zu meinem Federigo empfand ich einen solchen Verkehr doch stets als Verrat an meinen Angehörigen.‹

Ich hatte, während sie so sprach, aufmerksam ihr Antlitz betrachtet, das von der Erinnerung belebt wurde. In der ganzen Erscheinung lag eigentlich nichts Südländisches, und wäre das Charakteristische der Aussprache und mancher Bewegungen nicht gewesen, man hätte sie kaum für eine Italienerin gehalten. Sanfte, weiche Züge, schlichtes kastanienbraunes Haar und ebensolche Augen; mit ihrer Tochter hatte sie nicht die geringste Ähnlichkeit.

Sie erriet meine Gedanken und sagte lächelnd: ›Nicht wahr, Sie finden, daß mir Ginevra gar nicht ähnlich sieht? Sie ist ganz nach ihrem Vater geraten. Wenn Sie sich die Mühe nehmen und jenes Bild dort betrachten wollen, so werden Sie das erkennen.‹

Ich erhob mich und trat vor ein ziemlich verblaßtes Aquarell, das an einem Fensterpfeiler hing. Es war etwas steif, aber nicht ohne Empfindung ausgeführt und stellte einen beiläufig dreißigjährigen Mann in Offizierstracht der Jägertruppe vor. Aus[184] dem überhohen Frackkragen ragte ein fein geschnittener, höchst ausdrucksvoller Kopf mit lichtblonden Haaren und blauen Augen. Je länger ich das Bild bei dem ungewissen Dämmerlichte des Abends betrachtete, desto deutlicher traten mir die Züge Ginevras daraus entgegen.

›Und nicht bloß im Äußeren gleicht sie ihm,‹ fuhr die Frau auf meine laute Beistimmung fort; ›auch in allem und jedem, was den Charakter betrifft, der bei ihr, obgleich sie erst vor kurzem sechzehn Jahre alt geworden, bereits zu großer Festigkeit entwickelt ist.‹

›Ja, Ihre Tochter ist ein ganz einziges Geschöpf!‹ rief ich aus.

›Nun, vielleicht sind wir beide bestochene Richter. Aber soviel glaube ich wohl selbst sagen zu dürfen: sie ist ein vortreffliches Mädchen und verdient glücklich zu werden.‹

›Sie wird es auch gewiß!‹

›Das steht in Gottes Hand.‹

Ein Schweigen trat ein, währenddessen man aus der Küche herein das Knistern des Herdfeuers, sowie leise Schritte und Hantierungen vernehmen konnte.

›Ginevra bereitet den Kaffee‹, sagte Frau Maresch. ›Sie muß ja überall mit angreifen. Eine Magd zu halten, sind wir nicht in der Lage; das Gröbste verrichtet die Frau, bei der wir wohnen. Die kleine Pension, die ich beziehe, reicht knapp zum Leben aus, und wären uns nicht vor einiger Zeit ein paar hundert Lire zugefallen, die mir ein Verwandter in Italien nachgelassen, wir würden vielleicht in Not – und was noch schlimmer, in Abhängigkeit von fremden Menschen geraten sein.‹

›Sie haben gewiß noch mehrere Angehörige in Italien?‹ fragte ich.

›Nein – wenigstens niemanden, der meinem Herzen nahe steht. Eltern und ein Bruder, den ich hatte, sind schon vor Jahren rasch nacheinander weggestorben. Man hatte meine Heirat nach langen Kämpfen widerwillig zugegeben und mich dann[185] in der Fremde mehr und mehr aus den Augen verloren. Ich habe, wie Sie sich denken können, trotz meines ehelichen Glückes sehr an Heimweh gelitten. Endlich jedoch verlor sich auch das, und ich möchte jetzt eigentlich um keinen Preis mehr nach Italien zurück. Und auch nicht anderswohin. In Graz leben noch Verwandte meines Mannes, und diese haben mich wiederholt aufgefordert, mit Ginevra zu ihnen zu kommen. Aber wir ziehen es vor, unabhängig zu bleiben, so eingeschränkt wir leben müssen. Überdies sind wir, seit wir in diesem Hause wohnen, sehr zufrieden. Es ist zwar nicht viel mehr als eine Hütte, aber wir sind hier vollständig für uns, haben einen kleinen Garten – und mit ein paar Schritten ist man ganz im Freien. Ich sehne mich schon nach dem Frühling, wo ich dies alles so recht werde genießen können; es soll mich hoffentlich ganz wieder herstellen.‹

So führten wir das Gespräch weiter, wobei nun auch ich einiges über meine Lebensverhältnisse mit einfließen ließ, obgleich die feinfühlige Frau in dieser Hinsicht jede Frage vermied. Sie hörte mit bescheidener Aufmerksamkeit zu und sagte schließlich: ›Ich sehe, daß Sie aus vornehmer Familie sind. Und Emil heißen Sie – Emilio. Ein schöner und mir wohlbekannter Name; mein armer Bruder hat ihn gleichfalls geführt.‹

In diesem Augenblick trat Ginevra ein, in der Hand eine kleine, grün lackierte Schirmlampe, wie sie damals gebräuchlich waren, und deren Schein das bereits stark verdunkelte Zimmer angenehm erhellte.

›Du wirst dich wohl schon mit ihm ausgesprochen haben, Mutter,‹ sagte sie, die Leuchte niederstellend, ›und ich kann den Kaffee bringen, der eigentlich längst fertig ist – und zu welchem Sie‹ – sie wandte sich mit einer Verbeugung an mich – ›eingeladen sind, wofern Sie dieses Frauengetränk nicht verschmähen.‹

Und nun begann sie rasch, ihre Anstalten zu treffen. Sie schob den Tisch nahe an die Mutter heran und breitete ein frisches[186] Tuch darüber. Dann brachte sie aus der Küche Kanne und Tassen, welch letztere sie sorgsam füllte und lächelnd kredenzte.

Nachdem das Vesperbrot eingenommen war, stand sie auf und zündete eine Kerze an. ›Nun aber will ich Ihnen auch mein Gemach zeigen‹, rief sie. ›Es ist zwar ein ganz winziges Stübchen, aber ich herrsche darin unumschränkt.‹

Sie öffnete eine Seitentür, die ich schon mehrmals ins Auge gefaßt hatte, und ließ mich, während sie voranleuchtete, eintreten. Der Raum war allerdings verschwindend klein, so zwar, daß man sich wunderte, wie das, was darin stand, dennoch hatte Platz finden können. In der Mttelwand zeigte sich ein Fenster; rechts und links davon waren zwei eingerahmte Tuschzeichnungen angebracht, welche südliche Landschaften darstellten. Knapp am Fenster ein mit Weißzeug überhäufter Nähtisch, nahe dabei ein anderes kleines Tischchen, auf dem zwischen einigen Blumentöpfen ein Vogelbauer stand. Die eine Seitenwand deckte ein Kasten, die andere ein Regal, das sich vollständig mit Büchern in verblaßten Einbänden ausgefüllt zeigte.

›Nun, hab' ich es mir nicht hübsch eingerichtet?‹ fragte Ginevra. ›Wenn ich hier nähe, kann ich in unseren Garten blicken. Der ist freilich jetzt noch ganz kahl und wüst; dafür blühen meine Blumen am Fenster. Und das hier‹ – sie näherte sich mit dem Lichte dem Vogelbauer, in welchem ein Zeisig, den Kopf unter dem Flügel, bereits auf seinem Stängelchen schlief – ›das ist mein piccino! Er zwitschert bei Tag ganz lustig. Und dort‹ – sie beleuchtete das Regal – ›dort haben Sie den ganzen italienischen Parnaß: Dante, Ariosto, Tasso und so weiter. Er rührt von meinem Vater her, der seinen Stolz darein setzte, das Italienische zu verstehen, wie ein Eingeborner – oder eigentlich noch besser. Er las gar nichts anderes, und Gott weiß, wie oft er diese Bände mag vorgenommen haben. Er kannte kein anderes Vergnügen. In seinen jüngeren Jahren war er auch Zeichner; jene Landschaften dort sind von ihm[187] in Neapel aufgenommen worden, denn er hat im Jahre Zwanzig die österreichische Intervention mitgemacht.‹

Ich hatte inzwischen einen der Bände herausgezogen und aufgeblättert.

›Lesen vielleicht auch Sie italienisch?‹ forschte sie.

›Ich sollte wohl; denn es wurde im Kadetteninstitute gelehrt. Aber ich habe es nicht weit gebracht.‹

›Wir wollen miteinander lesen, dann wird es schon gehen. – Hast du gehört, Mamma,‹ rief sie ins Zimmer hinein, ›daß ihm unsere Sprache nicht fremd ist?‹

›Ho compreso; che piacere!‹ ließ sich die Mutter vernehmen.

›Sie können sich übrigens denken,‹ fuhr Ginevra fort, ›daß ich selbst das meiste von dem nicht kenne, was in den Büchern steht; es ist eine gar zu schwere Lektüre für ein junges Mädchen.‹

Wir waren bei diesen Worten wieder aus dem Stübchen getreten, und da ich wahrnahm, daß eine alte Standuhr im Zimmer bereits auf Acht wies, so hielt ich es für angemessen, mich jetzt zu verabschieden.

›Auf Wiedersehen‹, sagte die Mutter. ›Sia benedetta la sua intrata da noi.‹

Ich zog die Hand, die sie mir reichte, ehrerbietig an die Lippen und trat aus der Tür, von Ginevra mit dem Lichte begleitet. Draußen stellte sie es nieder und folgte mir in den Flur. Dort blieb sie stehen und breitete mit einer unaussprechlich schönen und edlen Bewegung die Arme aus.

›Sie lieben mich also?‹ fragte sie mit einem innigen Blick.

Ich zog sie an mich, und unsere Lippen schlossen sich zu einem langen Kusse zusammen.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 9, Leipzig [1908], S. 181-188.
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