III.

[225] Nardini war natürlich nicht mehr bei mir erschienen, ich selbst aber hatte nicht lange nach jener Begegnung Wien verlassen, wohin ich erst nach Ablauf zweier Jahre wieder zurückkehrte. Bald nach meiner Ankunft stieß ich eines Morgens in der Schottengasse auf Lenhardt, der in einem Bureau des[225] Kriegsministeriums in Verwendung stand. Er war inzwischen Major und noch umfangreicher geworden, als er schon früher gewesen. Ich schloß mich ihm ein Stück Weges an und erkundigte mich während des Gespräches unter anderem auch nach Nardini.

»Ach, der!« brummte Lenhardt mit verächtlicher Miene. »Den hab' ich aufgegeben. Er ist in letzter Zeit ganz und gar verkommen.« Und da ich nähere Erklärungen verlangte, fuhr er widerwillig fort. »Die Geschichte mit der Französin kennst du ja. Schon ein paar Monate nachher lernte er ein mit drei Kindern gesegnetes Ehepaar kennen, das in seiner Nähe wohnte. Er vernarrte sich natürlich sofort in die Frau, die so unschuldig und lammfromm in die Welt blickt, als könne sie nicht bis fünf zählen, dabei aber so durchtrieben und abgefeimt ist wie ihr Herr Gemahl – seines Zeichens ein Chemiker, der sich durch allerlei unhaltbare Erfindungen und schwindelhafte Projekte zu grunde gerichtet. Diese Leute, die schon längst von der Hand in den Mund lebten, befanden sich in arger Geldnot und betrachteten daher unseren Gasparo, der noch über eine kleine Barschaft verfügte, Pension und Gnadengabe bezog, als willkommene Beute. Er wurde von ihnen in Wohnung und Verpflegung genommen, was sich anfangs auch ganz gut anließ, so daß der gute Conte im siebenten Himmel schwebte. Bald aber zeigte sich, wie er daran war. Nachdem man ihm unter allerlei Vorwänden zuerst sein Geld, dann seinen Pensionsbogen, den man sofort verpfändete, herausgelockt hatte, behandelte man ihn aufs rücksichtsloseste und gab ihm schließlich kaum mehr zu essen. Dabei wurde er von den Kindern geplagt und gehänselt – und mußte obendrein mit ansehen, wie die Frau mit einem Apothekergehilfen, den man gleichfalls in Kost genommen, ein Liebesverhältnis anfing. Das brachte ihn vollends zur Verzweiflung. Eines Tages kam er zu mir, mit eingesunkenen Wangen, abgemagert bis auf die Knochen, entdeckte mir seine Lage und schloß damit, daß ihm jetzt nichts übrig[226] bleibe, als sich zu erschießen. Er jammerte mich, und ich beschloß, ihn zu retten, denn ich hielt ihn doch nur für einen gutmütigen Schwachkopf, den die Welt mißbrauchte. Ich begab mich daher fürs erste zu dem Kammervorsteher seines hohen Protektors. Aber ich fand, daß man dort auf ihn, seines ganzen Verhaltens wegen, um so übler zu sprechen war, als er im Laufe der Jahre wiederholt ansehnliche Vorschüsse empfangen hatte. Nach vielen Vorstellungen und Bitten ließ man sich zu einem Letzten herbei: man wollte gegen schriftlichen Revers eine runde Abfindungssumme bewilligen; auch stellte man die Aufnahme Nardinis in das Invalidenhaus in Aussicht, wo er seine alten Tage in sorgenloser Ruhe beschließen könne. Nachdem mit vertraulicher Zuhülfenahme der Polizei seine Beziehungen zu dem würdigen Ehepaare, das sein Opfer nicht so leichten Kaufes freigeben wollte, gelöst waren, konnte er auch wirklich seinen Einzug in das, wie es schien, ihm höchst willkommene Asyl halten. Aber was tut der Mensch? Kaum ein paar Monate dort, nimmt er ein junges Mädchen zu sich, das er irgendwo von der Straße aufgelesen. Eine ganz gemeine Person, die in einer Pappschachtelfabrik gearbeitet hatte. Häßlich, pockennarbig, dabei ein Krüppel, denn sie hinkt am linken Bein. Der Teufel weiß, welche Eigenschaften sie sonst haben mochte, um dem alten Satyr den Kopf zu verrücken – genug: er ließ sie nicht mehr von sich. Nun kann man dort einem Kranken oder Bresthaften die Aufnahme einer Dienerin zur Pflege und zur Wartung allerdings nicht verwehren; aber Nardini war kerngesund, und somit lag die eigentliche Triebfeder klar zutage. Das erregte nun im Hause, wo sich viele verheiratete Offiziere mit ihren Familien befinden, das größte Ärgernis, und er erhielt die strengste Weisung, das Ding sofort zu entlassen. Da er aber nicht wollte oder nicht konnte, so kam er einer voraussichtlichen Ausweisung zuvor, indem er eines Tages ohne weiteres das Feld räumte und mit dem Weibsbild irgendwo draußen in Rudolfsheim eine kleine Wohnung bezog, wo er nun, auf[227] seine geringe Pension beschränkt, ein erbärmliches Leben führt. So sagte man mir wenigstens; denn daß ich nicht selbst nachsehe, begreifst du wohl.«

Wir waren inzwischen beim Kriegsgebäude angelangt, in welches nun Lenhardt, sich verabschiedend, einbog, während ich meinen Weg fortsetzte, nicht sonderlich von den Mitteilungen überrascht, die ich ja zum Teil schon damals vorausgesehen.


* * *


In den nächsten Tagen wollte ich einen Bekannten aufsuchen, der in der Gumpendorfer Straße wohnte. Er war nicht zu Hause, ich erhielt jedoch den Bescheid, in einer Stunde wiederzukommen. Ich schlenderte also nach der Mariahilfer Hauptstraße und dort bis zur Linie hinauf. Zurückkehrend, bog ich in den Esterhazy-Garten ein, den ich schon seit vielen Jahren nicht mehr betreten hatte. Es war tief im September und der Tag unfreundlich und kühl, so daß die alte, vernachlässigte Anlage sich ganz unbesucht zeigte. Nur ein bejahrter, ärmlich gekleideter Mann saß auf einer der vielen leeren Bänke unter den herbstlich stark entblätterten Bäumen. Ich mußte nahe an ihm vorüber – und nun hatte ich Nardini erkannt, dessen Haare und Bart ganz weiß geworden waren. Vornüber gebeugt, in Gedanken versunken, beachtete er mich nicht; ich aber fühlte mich wehmütig ergriffen, als ich ihn so vor mir sah, in einem dünnen Überzieher, das niederhangende Haupt mit einem abgegriffenen Hute bedeckt. Ich schritt auf ihn zu. »Nardini!« sagte ich und streckte ihm die Hand entgegen.

Er sah mit einem irren Blick auf und betrachtete mich. »Ach du«, erwiderte er endlich, indem er ohne jegliches Zeichen innerer Bewegung mechanisch meine Hand ergriff.

»Was machst du? Wie geht es dir?« forschte ich teilnehmend.

Er sah mich mit einem unsäglich traurigem Ausdruck an. »Sono infelice« sagte er tonlos.[228]

»Weshalb? Was ist dir widerfahren?«

»M'abbandonato.«

»Wer? Wer hat dich verlassen?« fuhr ich fort, mich an seine Seite setzend.

»Ach ja, du weißt ja von nichts,« sagte er, sich besinnend. »Ich hatte eine Dienerin. Fast zwei Jahre war sie bei mir – und nun wollte sie nicht länger bleiben.«

»Aus welchem Grund?«

»Es ist ihr plötzlich eingefallen. Sie wollte in die Fabrik zurück, in der sie seit ihrem zwölften Jahre gearbeitet hatte. Überhaupt in ihr früheres Leben. Was soll ich nun anfangen!«

»Du wirst doch wohl noch eine Dienerin finden –«

»Eine andere? Ich will keine andere! Nur sie! Die Leute fanden sie häßlich, weil ihr Gesicht von den Blattern entstellt ist. Die dummen Leute! Cosa é la faccia? Niente! Era si formosa, wenn sie auch ein wenig hinkte! Und dann ihre Haare! Ihre Zähne! Ihre Hände und Füße – so klein!« Er bezeichnete das Maß an seinen Fingern.

»Sie war also eigentlich – deine Geliebte?«

Er warf mir einen erbitterten Blick zu. »Ja, das war sie! Ist es dir etwa nicht recht? Willst du mir Vorwürfe machen? Weil sie von niedriger Herkunft ist? Wer bin denn ich jetzt? Ein armer Teufel, der auf seine Hauptmannspension angewiesen ist! Kann ich damit standesgemäß leben? Oder meinst du vielleicht, weil ich alt bin? Man ist so alt, wie man sich fühlt. Und ich fühle mich nicht alt! Non posso vivere senza femina!«

»Du wirst es doch zuletzt müssen.«

»Müssen!« schrie er. »Ich kann nicht! Ich kann nicht!« Er faßte die eiserne Seitenlehne der Bank und rüttelte daran, daß sie fast aus den Fugen ging. »Ich muß sie wieder haben!« Er blickte wild um sich und fing jetzt an, mit seinen harten, knochigen Fäusten die Brust zu schlagen.

Ich fiel ihm in den Arm und sagte eindringlich: »Aber wenn sie nun einmal nicht will!«[229]

»Ach ja, sie will nicht!« jammerte er, plötzlich wie gebrochen. »Sie will nicht! Und sie hatte es so gut bei mir! Ich trug sie auf Händen – ich vergötterte sie! Ma, é si crudele! Als sie mir ihren schrecklichen Entschluß ankündigte, da fiel ich ihr zu Füßen und beschwor sie, mich nicht zu verlassen. Aber sie lachte nur dazu. Und dann sagte ich ihr, daß ich sie heiraten wolle, wenn sie nur bliebe. Das wäre ja gegangen, wenn ich meine Charge niedergelegt hätte. Doch sie lachte nur noch lauter und meinte, was sie davon hätte!«

»Du siehst, daß alles umsonst ist.«

Er hörte nicht, was ich sagte, und fuhr, vor sich hinstierend, fort: »Nachdem sie weg war, habe ich sie auf der Straße abgepaßt, als sie früh morgens zur Fabrik ging. Da empfing sie mich mit Schimpfworten und wollte nach mir schlagen!« Er brach in Tränen aus.

Ich empfand mich von diesem Anblick aufs unangenehmste berührt. Dennoch sagte ich noch immer teilnehmend: »Und du denkst noch an sie? Das ist eine unwürdige Schwäche, deren du um jeden Preis Herr werden mußt. Du wirst doch nicht dieser Person wegen den Verstand verlieren wollen?!«

»Ja, ja, ich verlier' ihn!« rief er, die Augen rollend. »Ich fühle, daß ich wahnsinnig werde!« Er griff nach der Stirn. Seit sie fort ist, esse, trinke und schlafe ich nicht mehr. Ruhlos irr' ich umher bei Tag und Nacht, bis ich vor Mattigkeit irgendwo hinsinke. »Ich gehe zugrunde!« Er begann wieder mit geballten Fäusten gegen seine Brust zu wüten.

Ich hatte genug und stand auf. Es gingen eben einige Menschen durch den Garten, die aufmerksam wurden und betroffen und neugierig nach uns hinblickten. Es mochte aussehen, als wären wir in einem heftigen Streit begriffen.

»Nun, dann ist dir auch nicht zu helfen,« sagte ich mit unwillkürlicher Härte. »Aber ich will hoffen, daß du doch noch zur Besinnung kommst. Ich muß jetzt gehen.« Ich reichte ihm[230] die Hand hin, die er nicht ergriff; dann entfernte ich mich rasch, ohne mehr umzublicken.

Aber ich war noch nicht weit gegangen, als mich Unzufriedenheit mit mir selbst überkam. Wie? Ich konnte mich so ohne weiteres von dem alten Manne abwenden, konnte ihn mit kalter Verachtung seinem Schicksal überlassen, das er ja doch nicht selbst verschuldet hatte? Jener unglückselige Hang zu den Frauen, der sich durch sein ganzes Leben zog, der ihn seit jeher kaum genießen, aber stets leiden ließ – der nur ihm allein Verderben brachte: mußte er nicht aufs tiefste in seinem Organismus begründet und daher mit unabwendbarer Notwendigkeit zutage getreten sein? Und wenn er diesen Hang nicht zu meistern verstand, so lag das an dem Mangel ethischer Kraft, die doch immer nur eine geistige ist und die er sich selbst nicht geben konnte, da sie ihm von der Natur versagt geblieben. Die Welt, schnell fertig mit dem Wort, mochte ihn immerhin einen alten, schwachköpfigen Satyr nennen: ich aber, der ich mich immer im stillen berühmte, tiefer als andere in das Wesen eines Menschen zu blicken, ich durfte so nicht urteilen. Damals, als es sich um eine Summe Geldes handelte, war ich mit Freuden bereit, ihm zu helfen – und jetzt, da er in seiner greisenhaften Erotomanie dem Irrenhause und dem Selbstmorde nahe stand: jetzt wollte ich ihm einsichtsvolle Teilnahme, freundschaftlichen Beistand versagen, wodurch allein er vielleicht noch zu retten war? ....

Und schon kehrte ich um und eilte wieder dem Esterhazy-Garten zu. Aber Nardini war nicht mehr zu sehen. Wohin mochte er sich gewendet haben? Gleichviel! Noch war die äußerste Gefahr nicht im Verzuge – und ich würde ihn zu finden wissen.

Mein erster Gedanke war nunmehr, mich zu Lenhardt zu begeben. Nach einiger Überlegung aber gewann ich die Überzeugung, daß er, erbost, wie er auf Nardini war, in seiner schroffen Art jeden Beistand verweigern würde. Ich beschloß also, mich[231] beim Platzkommando nach der Wohnung des Conte zu erkundigen. Morgen, in aller Frühe, da ich ihn jedenfalls noch zu Hause treffen mußte, wollte ich ihn aufsuchen.

Nach einer unruhigen Nacht schritt ich schon um sieben Uhr dem bezeichneten Hause in Rudolfsheim entgegen. Ich wollte vorerst beim Hausbesorger Nachfrage halten, fand aber dort die Tür verschlossen. Die Frau jedoch, eine unhold aussehende Alte, traf ich auf der Treppe, eben im Begriff, diese zu reinigen. Ich ersuchte sie, mir zu sagen, in welchem Stockwerk der Hauptmann Nardini wohne.

»Im dritten, Tür 21«, entgegnete sie barsch, ohne aufzublicken und sich in ihrer Beschäftigung stören zu lassen, wobei sie mit dem Kehrbesen meinen Füßen sehr nahe kam. »Aber Sie gehen umsonst hinauf. Er ist seit gestern früh nicht mehr nach Hause gekommen.«

»Aber er wird doch –«

»Na, wer weiß. Seit das Frauenzimmer von ihm fort ist, ist er ganz verrückt.«

»Und macht das niemandem Sorge?«

»Wem denn? Übrigens ist er schon ein paarmal die Nacht weggeblieben, und erst am nächsten Vormittag wiedergekommen.«

»Das wird er wohl auch heute. Ich bitte Sie, ihm dann meine Karte zu übergeben und ihm zu sagen, daß ich um zwei Uhr wieder nachsehen werde. Er möge mich bestimmt erwarten, denn ich habe ihm eine sehr wichtige Mitteilung zu machen.«

Sie schob, mit dem Kopfe nickend, die Karte samt dem unterstützenden Geldbetrag in die Tasche ihres schmutzigen Kleides und fuhr fort, während ich nun ging, Staub aufzuwirbeln.

Als ich wieder kam, weckte ich sie aus einem gelinden Nachmittagsschlaf, in welchen sie samt ihrem grauhaarigen, bläulich benasten Gatten versunken war. Beide sahen mich stumpfsinnig an.[232]

»Nun?« fragte ich. »Ist er gekommen?«

»Kommen ist er, aber gleich wieder fortgangen.«

»Haben Sie ihm meine Karte gegeben?«

»Freilich. Aber er hat sie nicht ang'schaut.«

»Glauben Sie, daß er vielleicht im Laufe des Nachmittags oder Abends –«

»Das wissen wir nicht«, brummte das Ehepaar einstimmig.

Ich war nun ratlos und wußte nicht, was ich beginnen sollte. In dieser Not beschloß ich endlich, mich jetzt doch an Lenhardt zu wenden, den ich auch, obgleich die Stunde schon vorgerückt war, in seinem Bureau antraf; er war gerade im Begriff, es zu verlassen, hatte schon den Säbel umgeschnallt und die Mütze auf dem Kopf. Was ich befürchtet hatte, traf ein. Auf meine dringende und beredte Vorstellung, daß nunmehr für unseren Conte das Äußerste zu befürchten sei, erwiderte er barsch: »Ach was, der alte Narr soll sich erschießen! Es ist das beste, das man ihm wünschen kann!«

Dieser Wunsch ging in Erfüllung. Schon am nächsten Morgen fand man Nardini entseelt in dem Wallgraben nächst der Gumpendorfer Linie. Ein Armeerevolver aus früherer Zeit mit starkem Kaliber lag neben ihm.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 10, Leipzig [1908], S. 225-233.
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