II.

[186] Fast acht Jahre hatten verstreichen müssen, eh' ich zum zweiten Male nach R ... kam. Aber wie überrascht war ich, als ich, den Bahnhof verlassend, dem Orte zufuhr. Er war kaum mehr zu erkennen, so sehr hatte er sich inzwischen erweitert und verschönert. Gleich am Eingang erblickte ich eine öffentliche Anlage mit einer Anzahl weiß gestrichener Bänke unter schattenden Akazien. Und in der Hauptstraße, wo man früher oft im Kote stecken geblieben, wohlgepflasterte Bürgersteige und fast durchgehends neue Häuser. Die meisten allerdings nur aus einem Erdgeschoß bestehend, aber solid und in modernem Geschmack gebaut. Auch neue Läden fielen mir ins Auge. Darunter ein sehr stattlicher mit der Aufschrift in großen Goldlettern: LekarnaApotheke. Und nicht[186] weit davon, auf der anderen Seite, zeigte sich am Tor eines hübschen Hauses, gleichfalls in tschechischer und deutscher Sprache, eine Tafel: Der gesamten Heilkunde Doktor W. Srp. Ordiniert von 2–4 Uhr Nachmittag. Und wie sah jetzt der Platz aus! Ein abgezirkeltes Viereck, umgeben von ganz vornehmen Baulichkeiten. Der Gänseteich war allerdings noch vorhanden, aber er hatte eine zierliche gußeiserne Umfassung er halten, zudem schoß aus seinem Wasser der Strahl eines Springbrunnens in die Luft. Gerade gegenüber erhob sich ein sehr stattliches Gebäude mit zwei Stockwerken und ausspringenden Erkern; über dem Tor war weithin zu lesen: RadniceRathaus. Die Hälfte des Erdgeschosses jedoch nahm ein großer Kaufmannsladen ein, über welchem ohne weitere Bezeichnung die Firma prangte: A. Brazda. Hinter zwei hellen Schaufenstern erblickte man in verlockender Anordnung Kolonialwaren, Südfrüchte, Delikatessen; des weiteren: Herren- und Damenkonfektion. Kurz, ein ausgebreitetes Geschäft von großstädtischem Anstrich; das unscheinbare Gewölbe des Herrn Nezbada war samt dem Hause, wo es bestanden, von der Bildfläche verschwunden. Fortschritt! Überall Fortschritt! So dachte ich, während ich nun in das Schloß einfuhr. Dort hatte sich freilich nichts verändert; nur die gräflichen Kinder waren bedeutend herangewachsen. Infolgedessen fanden sich auch zwei Erzieherinnen und ein Hofmeister vor. Der letztere benützte meine ehemalige Wohnung, ich wurde also jetzt in dem Gebäude untergebracht, welches Doktor Wanka inne gehabt. Dieser war in Pension getreten und mit seiner Familie nach der Landeshauptstadt übergesiedelt. Die Hälfte des weitläufigen Hauses hatte man dem Doktor Hulesch eingeräumt, der als hartnäckiger Junggeselle sich mit einer Wirtschafterin behalf. Er war also nunmehr mein unmittelbarer Nachbar, und gleich bei dem ersten Besuche, den ich ihm abstattete, erkundigte ich mich nach Trojan. Ich hatte seiner im Laufe der Jahre immer weniger gedacht – und[187] ihn schließlich ganz und gar vergessen. Erst bei meinem Wiedereinzug war er mir durch den Anblick der ärztlichen Aushängetafel in Erinnerung gebracht worden .....

»Sie fragen nach Trojan«, erwiderte Hulesch. »Der arme Teufel hat ein höchst trauriges Ende genommen. Aber haben Sie ihn denn gekannt?«

»Gewiß. Ich hatte sogar einmal mit ihm ein längeres Gespräch, das mir den Mann ganz merkwürdig erscheinen ließ.«

»Das war er; aber auch gewissermaßen prädestiniert zu dem Schicksal, das ihn getroffen. Da Sie Anteil zu nehmen scheinen, will ich Ihnen den Hergang in Kürze erzählen.«


* * *


»Wie ich als Arzt selbst zugestehen muß, war er zu unserem Berufe in ganz seltener Weise veranlagt. Aber seine Ausbildung war ungenügend; er hatte eben nichts wirklich gelernt, und chirurgische Kenntnisse besaß er gar keine. Er war in dieser Hinsicht mit einer Idiosynkrasie behaftet: er konnte kein Blut fließen sehen und wich selbst dem Anblick eines ärztlichen Messers aus. Das mochte nun hingehen; denn ich war in einschlägigen Fällen immer zur Hand. Aber wie alle Autodidakten betrachtete er seine Mängel als Vorzüge und suchte aus der Not eine Tugend zu machen. Von der Behauptung ausgehend, daß man der Natur nicht vorgreifen dürfe, hielt er operative Eingriffe in der Regel für überflüssig, ja schädlich, und behandelte gewisse nach außen tretende Übel mit unzulänglichen Mitteln – oft so lange, daß die äußerste Gefahr im Verzuge erschien, wenn er endlich meine Hilfe in Anspruch nahm. Infolgedessen hielt ich es für meine Pflicht, ihm wiederholt und zuletzt sehr eindringlich vorzustellen, welch schwere Verantwortung er da auf sich lade, und daß ein solches Vergehen für ihn selbst die übelsten Folgen nach sich ziehen würde. Das machte ihn jedoch nur noch starrsinniger, erbitterte ihn, und nunmehr hielt er mich im stillen[188] für seinen Feind. Wie sehr mit Unrecht, brauche ich wohl nicht erst zu sagen. Ich schätzte ihn vielmehr, so wie Doktor Wanka, der mit seinem Vater befreundet gewesen, aufrichtig der Verdienste willen, die er sich um die Gemeinde erwarb, indem er in wahrhaft selbstloser, aufopfernder Weise die ärmsten und hilflosesten Kranken behandelte, denen er schon durch sein bloßes Erscheinen Trost, Linderung – und oft genug auch Heilung brachte. Aber es erwuchsen ihm im Laufe der Jahre zwei wirkliche Feinde – ein kleinerer und ein großer. Das kam nun so.

Schon während Ihres ersten Aufenthaltes hatte sich hier, wenn auch noch unmerklich, der Geist der Zeit zu regen begonnen. Man nahm eingewurzelte Übelstände wahr und trachtete, zweckmäßige Neuerungen einzuführen; man suchte sich auszubreiten und begann zu bauen, zu verschönern. Dazu kam, daß die günstige Lage des Ortes zwei industrielle Unternehmungen anzog, welche, von der Landeshauptstadt ausgehend, an den Flußufern ihren Sitz aufschlugen. Da kamen denn die Direktoren mit einer Anzahl von Beamten und Werkmeistern, ganz abgesehen von den Arbeitern, welche von allen Seiten zuströmten und sich zum Teil auch hier niederließen. So wurden in der Folge auch allerlei unternehmende Geschäftsleute und Handwerker hierher gezogen – kurz: unser früher so unbeachtetes, stilles R ... entwickelte sich zu der immerhin ganz ansehnlichen Bedeutung, wie Sie es jetzt werden gefunden haben. Daß unter solchen Umständen auch ein Arzt und ein Apotheker nicht lange ausblieben, werden Sie begreiflich finden. Der letztere wurde von mir mit Freude begrüßt. Denn eine Hausapotheke kann doch nur mit dem Notwendigsten versehen sein; seltenere und kostspieligere Medikamente mußten immer durch einen Boten aus dem nächsten Städtchen beschafft werden, und so war ich froh, die ser Last und Sorge enthoben zu sein. Nicht so Trojan, der alle seine zumeist sehr einfachen Arzneien selbst bereitete und an Fordernde verkaufte. Denn es entging ihm nun ein gut Teil seiner hauptsächlichsten Einnahmsquelle,[189] da man doch lieber in die stattliche Apotheke ging, als in sein enges, düsteres Laboratorium, woselbst es aussah, wie in einer Hexenküche. Da er aber sehr geringe Preise machte, so blieben ihm doch noch so viele Kunden, daß der andere Grund hatte, über Gewerbebeeinträchtigung zu klagen, und auch bei der Gemeinde ein Verbot auf unbefugten Arzneiverkauf erwirkte. Da sich aber Trojan nicht darum kümmerte, lag er in beständigem Hader mit dem Pharmazeuten, der endlich mit einer gerichtlichen Anzeige drohte. Was nun den Arzt betraf, so suchte sich dieser vorerst zu orientieren; er verhielt sich zuwartend, ja er trachtete sogar klugerweise, sich auf guten Fuß mit dem vorgefundenen Berufsgenossen zu setzen. Wäre nun dieser auf halbem Wege entgegengekommen, so hätte sich eine, schon durch die gewandelten Verhältnisse bedingte und beide befriedigende Arbeitsteilung herausbilden können. Trojan aber kehrte gegen den Doktor Srp seinen ganzen inneren Hochmut heraus. Nicht genug, daß er sich bei zufälligen Begegnungen mit abweisender Schroffheit benahm, er unterzog auch die ärztliche Tätigkeit des Eindringlings – wie er ihn nannte – einer schonungslosen Kritik, indem er behauptete, daß dieser Protomedikus soviel wie nichts verstehe, und daß man ihn bald mit Schimpf und Schande aus dem Ort jagen würde. Diese Äußerungen kamen natürlich dem Srp zu Ohren, und obgleich dieser – unter uns gesagt – in der Tat nicht viel mehr Kenntnisse besaß, als man eben bei oberflächlich und notdürftig zurückgelegtem Studiengange erwirbt, so hatte er doch sein Doktordiplom in der Tasche und mußte sich aufs tödlichste beleidigt fühlen. Überhaupt nicht sehr gutmütig von Natur, beschloß er, sich zu rächen, nur auf eine Gelegenheit wartend, die es ihm möglich machen würde, mit seinem, einstweilen noch verborgenen Hasse hervorzutreten. Diese Gelegenheit ergab sich auch in nicht allzulanger Frist. Ein Kind, das Trojan an einer Halsentzündung behandelte, war über Nacht gestorben. Srp, der auch das Amt eines[190] Distriktsarztes versah, hatte die Totenbeschau vorzunehmen und fand, daß das Kind der Diphtheritis erlegen sei. Der Fall war also nicht erkannt, infolgedessen die Anzeige nicht erstattet und somit die Gefahr heraufbeschworen worden, daß der verderblichen Seuche, von welcher die Gemeinde bis jetzt so ziemlich verschont geblieben, Tür und Tor geöffnet werde. Und einmal im Zuge, setzte sich der Mann auch gleich hin und erstattete einen fulminanten Bericht an seine vorgesetzte Behörde, worin er besonders hervorhob, daß Trojan den ärztlichen Beruf ausübe, ohne die erforderlichen Studien gemacht zu haben. Nun hatte es sich um jene Zeit getroffen, daß ein neuer Bezirkshauptmann an die Spitze der Geschäfte getreten war, der es für seine Pflicht hielt, in jeder Hinsicht radikal zu Werke zu gehen. Er zeigte sich sehr entrüstet über den Vorfall und trat den Akt sofort an das Gericht ab. Trojan wurde also dorthin vorgefordert. Der unbefangene Richter jedoch, dem das langjährige Wirken des Beschuldigten bekannt war, fällte um so mehr ein freisprechendes Urteil, als der eigentliche Inkulpationspunkt nicht mehr vollständig nachzuweisen war. Zugleich aber schärfte er Trojan ein, daß er sich von nun ab der Ausübung ärztlicher Tätigkeit ein für allemal zu enthalten habe, wenn er nicht unfehlbar der vollen Strenge des Gesetzes, das heißt den auf Kurpfuscherei gesetzten Strafen verfallen wolle.

Außer sich vor Aufregung kehrte Trojan hierher zurück, wo er sich ohne Verzug zu Doktor Wanka begab, diesen beschwörend, mit Aufbietung aller seiner Autorität für ihn den Rekurs zu ergreifen. Der alte Herr konnte natürlich auf diese sinn- und zwecklose Zumutung nicht eingehen; er sagte vielmehr: ›Lieber Freund, was Sie da getroffen, habe ich leider vorausgesehen. Ich wußte, daß es nicht anders kommen könne, sobald sich ein Arzt in der Gemeinde niederläßt. Ergeben Sie sich daher in Ihr Schicksal, das in keiner Weise zu ändern ist – und welches Sie, wie Sie sich werden eingestehen müssen, in Ihrer Jugend selbst heraufbeschworen. Seien Sie also[191] vernünftig und ergreifen Sie einen anderen Beruf. Es wird Ihnen zwar schwer fallen, sich in den Wechsel zu finden, aber noch ist es nicht zu spät.‹ – ›Einen anderen Beruf!‹ hohnlachte Trojan. ›Und welchen, wenn ich fragen darf?‹ ›Nun,‹ erwiderte Wanka, ›ich bin nicht ohne Einfluß auf die Herrschaft, es wird mir gelingen, Ihnen bei den zahlreichen Betrieben irgend einen Kanzeleiposten zu verschaffen.‹ ›Einen Kanzeleiposten!?‹ schrie Trojan. ›O, ich danke! Zum Schreiber bin ich nicht geschaffen. Ich werde fortfahren, meinen Beruf als Berufener auszuüben – allen Gerichten zu Trotz – und wenn es sein muß, werde ich als Märtyrer dafür sterben!‹ Damit sprang er auf und stürzte fort, den wohlmeinenden Gönner, der wohl einsah, daß dem Ärmsten nicht zu helfen sei, in peinlichster Verlegenheit zurücklassend.

Und er fuhr wirklich fort, Kranke zu behandeln, wenn diese auch immer seltener seine Hilfe in Anspruch nahmen. Denn der Vorfall hatte begreiflicherweise Aufsehen erregt. Es kam zu lebhaftem Meinungsaustausch – und schließlich senkte sich die Wagschale zu Gunsten Srps, der ja ein wirklicher Doktor war und überdies zur extremen tschechischen Partei hielt, welche im Gemeinwesen allmählich die Oberhand gewonnen hatte. Aus ihr ging jetzt auch ein neuer Bürgermeister hervor, ein sehr wohlhabender Mann, der es umso mehr unter seiner Würde hielt, für den Kurpfuscher einzustehen, als dieser eigentlich ein Deutscher war, wenn er auch seit jeher eine vollständig neutrale Haltung bewahrt hatte. So schwand denn Trojan mehr und mehr aus der Achtung und auch aus der Beachtung seiner Mitbürger, wodurch er in immer größere Notlage geriet, die für ihn um so drückender wurde, als er jetzt gewissermaßen auch für eine Familie zu sorgen hatte. Er war nämlich in heftiger Liebe zu einer armen Tagelöhnerin entbrannt, welche, von einem nichtswürdigen Manne verlassen, mit ihrem Söhnchen auf dem Hokic lebte. Sie war schwer erkrankt gewesen, und Trojan hatte sie behandelt. Die Arme[192] genas, aber es blieb ein Schwächezustand zurück, der nur durch Schonung und kräftige Ernährung nach und nach zu beheben war. Trojan sorgte für sie und ihren Knaben, wie er nur konnte, und er würde sie gewiß auch geheiratet haben, wenn der Gatte, der sich irgendwo in der Fremde herumtrieb, nicht noch am Leben gewesen wäre. Aber er war zu ihr in intime Beziehungen getreten, und die wenigen, welche ihm noch nahe standen, konnten sich nicht genug verwundern über das Unmaß von Leidenschaft, die ihn beherrschte. Diesem Umstande mochte es zuzuschreiben sein, daß er sei nen Kranken gegenüber nicht mehr die frühere Sorgfalt an den Tag legte. Er zeigte sich auffallend zerstreut und vergaß oft, die notwendigsten Anordnungen zu treffen. Es war daher nur natürlich, daß man sich fast ausschließlich dem Doktor Srp zuwandte, der, nachdem er jetzt genügendes Beweismaterial in Händen hatte, sofort wieder eine gehässige Anzeige erstattete. Das Gericht mußte nun einschreiten, wenn es auch fürs erstemal nur eine Geldstrafe verhängte. Aus Eigenem hätte Trojan den Betrag nicht erschwingen können; aber ein Freund war ihm unerschütterlich treu geblieben: der Kaufmann Nezbada, den Sie vielleicht ebenfalls gekannt haben dürften. Dieser half ihm aus der Not, obgleich er im Laufe der Zeit selbst sehr heruntergekommen war. Das große Geschäft, das der Sohn des Bürgermeisters, welcher früher bei einem auswärtigen Handlungshause bedienstet gewesen, auf dem Platze eröffnet hatte, tat dem seinen großen Abbruch; gewagte Konkurrenzmittel, auf die er verfiel, hatten nur zur Folge, daß er Konkurs anmelden mußte und mit dem Rest seiner Habe auswanderte, um ein weiteres Fortkommen zu finden. Mit ihm verlor Trojan den letzten Halt, und als eine neue Anzeige wider ihn einlief, wurde er zu einer Gefängnishaft von vierzehn Tagen verurteilt. Der Aufenthalt in dem licht- und luftlosen Arrestlokal, wo er sich mit Dieben und Landstreichern zusammengepfercht fand, hatte die entsetzlichste Wirkung: er war halb tot, als er in Freiheit gesetzt wurde. In[193] diesem jammervollen Zustande suchte ihn Doktor Wanka auf, versorgte ihn mit dem Nötigsten und beschwor ihn, dieser unmöglichen Lebensführung durch Annahme des kleinen Postens, den er ihm mittlerweile in dem Bureau des gräflichen Hüttenwerkes erwirkt habe, ein Ende zu machen. Noch einmal bäumte sich der Unselige dagegen auf, aber schließlich nahm er, im Innersten gebrochen, den Vorschlag an. Die Beamtenschaft des Hüttenwerkes erzählt noch heute von dem tragisch-komischen Eindruck, den das Erscheinen und die Amtstätigkeit des neuen Kollegen hervorgebracht. Wie viele Bogen Papier er verdorben, eh' er auch nur die kleinste schriftliche Arbeit fertig gestellt, und wie viele Fehler und Irrungen auch diese noch aufgewiesen habe. Endlich rührte er keine Feder mehr an, brütete verzweiflungsvoll vor sich hin, bis er eines Tages gar nicht mehr erschien.

Auch aus dem Ort war er verschwunden. Da ihn niemand vermißte, geriet er bald in Vergessenheit. Später vernahm man, daß er mit seiner Geliebten, die nun wieder in Taglohn gehe, auf dem Hořic lebe, die Kranken des Dörfchens behandle und Arzeneimittel verkaufe. Auch ärztliche Streifzüge unternehme er, weit in die Umgegend hinein, nach einsam liegenden Gehöften und Hegerhäusern. Von dem allen mußte wohl auch Doktor Srp Kunde erhalten haben; aber es schien, daß er in seiner Rache gesättigt sei, denn er ließ ihn nunmehr vollkommen unbehelligt.

So war beiläufig ein Vierteljahr vergangen, als ich mich eines Tages – im Oktober – einer dringenden Angelegenheit wegen nach Brünn begeben mußte. Mit dem Abendzuge zurückgekehrt, wollt' ich mir's gerade bequem machen, als draußen heftig die Klingel gezogen wurde und gleich darauf die Magd eintrat mit der Meldung, Trojan stehe vor der Tür und begehre dringend, mich zu sprechen. Und eh' ich noch Bescheid erteilen konnte, trat er schon selbst ins Zimmer. Bleich wie der Tod, vom Regen durchnäßt, bis an die Kniee mit Kot bespritzt,[194] den unteren Teil der Beinkleider und das Schuhwerk halb in Fetzen.

›Mein Gott, wie sehen Sie aus!‹ rief ich. ›Woher kommen Sie? Was wollen Sie?‹

Er konnte kaum atmen vor Erschöpfung. ›Um des Himmelswillen,‹ keuchte er, ›begeben Sie sich mit mir auf den Hořic! Es ist dort jemand sehr gefährlich krank.‹

Eine Ahnung durchzuckte mich. ›Gefährlich krank? Ein Mann – oder eine Frau?‹

›Eine Frau‹, stieß er hervor. ›Aber ich beschwöre Sie, kommen Sie ohne Verzug mit mir! Und nehmen Sie Ihre Instrumente mit, es dürfte eine Operation notwendig sein.‹

Ich schwieg einen Augenblick. ›Nun, es soll geschehen. Es trifft sich gut, daß meine Pferde heute vollkommen ausgeruht sind. Aber setzen Sie sich doch! Sie können sich ja kaum auf den Füßen halten.‹

Er nahm Platz, aber trotz seiner Hinfälligkeit trieb ihn die innere Unruhe, wieder aufzustehen.

Ich hatte die Magd zu meinem Kutscher befohlen, und es dauerte nicht lange, so fuhr der Wagen vor.

Wir stiegen ein. ›Wo ist denn Ihr Hut?‹ fragte ich.

›Den hab' ich unterwegs verloren‹, erwiderte er zähneklappernd. Er hatte nichts am Leibe, als ein dünnes Röckchen, und ich ließ ihm eine Pferdedecke reichen, auf daß er sich einhülle; denn wir saßen in nur halb gedecktem Wagen, und die Nacht war kalt und windig.

Im Anfang ging es rasch vorwärts; aber die Windungen des Fahrgeleises, das die Höhe hinanführte, waren nur im Schritt zurückzulegen. Er bebte vor Ungeduld.

Endlich waren wir droben. Das Geleise setzte sich notdürftig bis zum Dorfe fort, wo wir ausstiegen, und nun traten wir bald in eine baufällige Hütte, deren Tür uns von einem alten, kaum bekleideten Mann geöffnet wurde. Trojan faßte mich am Arm und zog mich durch die Dunkelheit, die im Eingang[195] herrschte, nach einem kleinen, fensterlosen Gelaß, das von dem qualmenden Dochte eines offenen Lämpchens matt erhellt war. An der Wand, in einem elenden Bette, lag ein junges, blondhaariges Weib, wie es schien, bewußtlos, ein Tuch um den Hals gewunden. Am Fuße des Bettes kauerte der Knabe, er schlief so fest, daß er bei unserem Erscheinen nicht erwachte.

›Da sehen Sie –‹ flüsterte Trojan, indem er das Tuch vom Halse der Kranken löste, ›sehen Sie – –‹

Ich beugte mich hinab. Ein großes, brandiges Geschwür in der Nackengegend war mir sofort ins Auge gefallen. ›Mein Gott,‹ rief ich, näher hinsehend, ›das ist ja ein Anthrax! Was ist denn da noch zu machen! Es ist bereits Pyämie eingetreten – die Ärmste liegt ja schon in den letzten Zügen ....‹

›Ach nein – nein‹, lallte er, und verzog das Gesicht zu einer lustigen Fratze, wie er merkwürdigerweise immer tat, wenn er schmerzlich bewegt war.

Aber ich hatte recht gesehen. Mit einem leichten Seufzer hauchte das Weib, dessen außerordentliche Schönheit mir trotz der krankhaften Entstellung auffiel, den Geist aus. Der Kopf sank zur Brust hinab.

Er mußte das gleich mir wahrgenommen haben. Aber er sagte: ›Also jetzt rasch – sonst ist es zu spät!‹

›Es ist zu spät‹, erwiderte ich erstaunt. ›Sie ist ja tot.‹

Er starrte, die Augen verglast, mit einem blödsinnigen Lächeln vor sich hin. ›Ach nein, nein, Herr, sie ist nicht tot. Nicht wahr, Antscha – Anuschka, du bist nicht tot!?‹ Er faßte liebkosend ihre Hand, mußte sich aber, um nicht umzusinken, an das Kopfende des Bettes lehnen.

Ich wußte nicht, was ich ihm sagen, was ich beginnen sollte, und ließ mich schweigend auf die Kante eines alten Stuhles nieder, auf dem ein schadhafter Wasserkrug stand.

So verstrichen mehrere Minuten, und es wurde so still im Zimmer, daß man die Atemzüge des noch immer schlafenden Knaben vernahm.[196]

Endlich richtete sich Trojan auf; seine Züge waren ernst geworden. Er trat mir einen Schritt entgegen und fragte mit tonloser, aber ruhiger Stimme: ›Sie ist also wirklich tot?‹

›Gewiß. Sie können sich ja doch selbst überzeugen –‹

Er kehrte zu dem Bette zurück, beugte sich nieder und legte die Hand auf die Brust des Weibes. ›Ja, sie ist tot‹, sagte er fast gleichgültig.

Ich war von diesem Benehmen aufs höchste überrascht – und doch froh, ihn gefaßter zu finden, als ich gefürchtet hatte. ›Geschehenes läßt sich nicht ändern. Das ist alles, was ich Ihnen in diesem Augenblick zu sagen vermag. Aber ich möchte Ihnen raten, jetzt hier nicht allein zu bleiben. Sie haben gewiß irgend jemand ...‹

›Nein, nein‹, erwiderte er, den Kopf schüttelnd. ›Wir haben niemanden. Aber seien Sie unbesorgt. Ich werde bei meiner Kranken wachen – das heißt, bei meiner Toten.‹

Ich sah, wie es ihm jetzt die Brust zusammenschnürte, und reichte ihm schweigend die Hand. Er ergriff sie mit seinen beiden und drückte sie. ›Ich danke Ihnen, verehrter Herr Doktor, daß Sie meinem Rufe gefolgt sind. Es war zu spät! Zu spät!! O wie recht hatten Sie – jetzt und immer! Setzen Sie von dem Todesfall den Herrn Distriktsarzt in Kenntnis.‹

Ich ging, seine weitere Begleitung abwehrend. Draußen an der Hüttentür stand der Alte. Ich suchte ihm einzuschärfen, daß er nicht schlafen gehe und von Zeit zu Zeit bei Trojan nachsehe. Ob er mich verstanden hatte, weiß ich nicht; aber er nickte mit dem Kopfe.

Als ich eben in den Wagen stieg, hörte ich einen langgezogenen, markerschütternden Schrei aus der Hütte dringen. Dann wurde alles still. Ich lauschte. Es regte sich nichts, aber in einer Weile glaubte ich leises Jammern zu vernehmen. Sein Schmerz ist zum Ausbruch gekommen, sagte ich zu mir selbst; vielleicht löst er sich jetzt in Tränen. Und nun fuhr ich von dannen.

Die Nacht war etwas heller geworden, von Zeit zu Zeit[197] trat der halbe Mond fahl aus den Wolken und warf ein unheimliches Licht auf die Gegend. Dabei lag es mir wie ein Alp auf der Brust. Je länger ich über das Schicksal Trojans nachdachte, desto entsetzlicher schien es mir. Was würde er nun beginnen? Und wie wird sich Srp dazu verhalten, dem unter allen Umständen die Anzeige zu erstatten war? Ich mußte noch heute zu ihm; vielleicht konnte ich das Ärgste verhüten.

Es ging bereits gegen elf, als ich im Ort anlangte. Aber ich sah noch Licht in Srps Wohnung, an der ich vorüber kommen mußte. Ich ließ also halten und begab mich hinauf. Er hatte jedenfalls spät zu Nacht gespeist, denn er saß bei einem Glase Bier und einer Zigarre noch am Eßtisch; seine Frau – er war seit kurzem verheiratet – hatte sich bereits zurückgezogen. Er zeigte sich sehr überrascht von meinem Besuch, bei jedem Wort jedoch, das ich vorbrachte, erkannte ich immer deutlicher, wie unbegründet meine Voraussetzung gewesen, daß er in seiner Rache befriedigt sei. Sein Gesicht verklärte sich förmlich vor Schadenfreude, und schließlich rief er triumphierend aus: ›Jetzt haben wir den Kerl! Er hat sich in seiner eigenen Schlinge gefangen – und nun muß er ins Kriminal!‹

Ich wollte Vorstellungen erheben, indem ich auf die eigentümliche Tragik des Falles hinwies. Srp aber unterbrach mich: ›Nein, mein verehrter Herr Kollege! Ein Anthrax, haben Sie gesagt? Den er vernachlässigt – oder eigentlich nicht erkannt hat? Das Weib ist somit von ihm rein hingemordet worden. Sie werden doch einem Mörder nicht das Wort reden wollen?‹

Ich wußte nichts Rechtes zu erwidern; in seinem Ausspruche lag eigentlich die Wahrheit.

›Ich muß Sie vielmehr bitten,‹ fuhr er fort, ›mir diesmal bei der Totenbeschau zu assistieren, auf daß von berufener chirurgischer Seite der volle Umfang der Verschuldung an den Tag gestellt werde.‹

Dagegen hätte ich allerdings Einsprache tun können, aber[198] ich stimmte zu, weil ich vielleicht doch noch im letzten Augenblick zugunsten Trojans einwirken konnte.

So fuhr ich denn am nächsten Morgen mit Srp auf den Hořic. Als wir zur Hütte kamen, fanden wir eine Anzahl von Leuten davor versammelt. Auf der Schwelle saß der Knabe und weinte; neben ihm stand der Alte, der uns stumpfsinnig nach der Kammer wies. Beim Eintritt hatten wir einen schrecklichen Anblick. Neben dem Bette, auf dem blutüberströmten Boden, lag Trojan mit ausgebreiteten Armen. Er hatte sich mit einer rostigen Sichel, die jedenfalls früher seiner Geliebten zum Gebrauch diente und bei näherer Betrachtung einige tiefe Scharten aufwies, das Haupt fast gänzlich vom Rumpfe getrennt .....

Selbst Srp war erschüttert. ›Es ist furchtbar‹, sagte er mit leichtem Schauder. ›Gehen wir. Man muß die Obrigkeit verständigen.‹«


* * *


Hulesch schwieg und überließ mich einem gleichfalls stummen Nachsinnen.

»Eigentlich ist es mir doch ganz unbegreiflich,« begann ich jetzt, »daß Trojan die Gefahr, in der seine Geliebte schwebte, nicht früher erkannt haben sollte – daß er so lange gezögert –«

»Gewiß. Aber es war nun einmal seine Theorie. Und dann: er hatte ja längst den Kopf verloren. Quem dii perdere volunt, dementant.«

»Jedenfalls war hier die Strafe größer als die Schuld. Aber wer weiß, ob es nicht immer so ist! – Und was geschah mit dem Knaben? Hat sich jemand seiner angenommen?«

»Man hat sich seiner angenommen«, erwiderte Hulesch, indem er aufstand. »Wenn Sie noch eine kleine Weile verziehen wollen, so können Sie ihn sehen. Aber ich glaube, da ist er schon.«[199]

Man hörte einen Wagen langsam heranrollen und vor dem Hause halten.

Hulesch führte mich ans Fenster. »Nun blicken Sie gefälligst hinab und betrachten Sie sich meinen Kutscher.«

Es war in der Tat Honziček, nunmehr etwa fünfzehnjährig. Ich hätte ihn freilich nicht wiedererkannt; aber einmal aufmerksam gemacht, fand ich die Züge des Knaben in dem allerdings derberen Gesicht des jugendlichen Rosselenkers wieder. Er saß ganz stramm und vergnügt auf dem Bock, sichtlich stolz auf die silberbordierte Mütze, die ihm vortrefflich stand.

»Der ist versorgt,« sagte der Doktor. »Er kann auch noch Karriere machen – und seinerzeit die Herrschaft fahren.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 10, Leipzig [1908], S. 186-200.
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