VII.

[146] Es war ein unfreundlicher Oktobermorgen, als er sich zur bestimmten Stunde vor dem Hotel Union einfand. Am Himmel jagten, von einem scharfen Nordwest getrieben, dunkle[146] Wolken und drohten sich in Regenschauern zu entladen. Bruchfeld schlug den Kragen seines Oberrockes hinauf. Wie lange schon hatte er derlei Zusammenkünfte nicht mehr gehabt! Und er verwunderte sich unwillkürlich darüber, daß er sich nun wieder auf so abenteuerlichen Wegen fand.

Er hatte nicht lange zu warten, denn schon kam von Döbling her ein Tramwaywagen herangeklingelt. Als er hielt, erschien Paula auf der Plattform und sprang leicht die Stufen hinunter. Bruchfeld stand, um nicht aufzufallen, in einiger Entfernung und ließ sie an sich herankommen.

»War ich nicht pünktlich?« sagte sie, seinen Gruß etwas geziert erwidernd. »Aber wie kalt es heute ist!« Sie schüttelte sich leicht und zog ihre Pelerine fester um die Schultern.

»Das hab' ich vorausgesehen«, erwiderte er. »Es war schon gestern abend sehr frostig. Ich bin in der Dunkelheit vor Ihrem Hause auf und abgegangen.«

»So? Wann denn?«

»Etwa zwischen neun und zehn.«

»Da hab' ich schon geschlafen. Aber weshalb waren Sie denn dort?«

»Wie Sie so fragen können? Die Sehnsucht hatte mich hingetrieben. Und mir war es auch, als hätt' ich Sie gesehen. Freilich nur den Schatten Ihrer Gestalt, die sich im Zimmer hin und her bewegte.«

»Zwischen neun und zehn?«

»Ja.«

»Das war ich entschieden nicht. Denn wir sind gestern schon vor neun Uhr zu Bett gegangen. Es brannte um diese Zeit kein Licht mehr in unserer Wohnung.«

»Sie wohnen doch im zweiten Stock?«

»O nein! Im ersten.«

»Da freilich waren alle Fenster dunkel.«

»Sehen Sie! Sie haben sich also großartig geirrt.« Sie lachte.[147]

Dieses Lachen tat ihm weh; er erwiderte nichts.

»Eigentlich sollte ich jetzt nach der Josephstadt umsteigen«, fuhr sie unschlüssig fort; »aber die Wagen sind immer so voll; wir könnten kaum miteinander sprechen. Es wird am besten sein, wenn wir zu Fuß gehen.«

»Wie Sie befehlen.«

»Aber durch das nächste Stück der Währinger-Straße dürfen Sie mich nicht begleiten. Erst in der Spitalgasse können Sie sich mir anschließen. Wir biegen dann in die Lazarethgasse ein, in der immer nur sehr wenige Menschen zu sehen sind.«

Sie setzte sich auch gleich in Bewegung, und er folgte ihr in einiger Entfernung auf der anderen Seite der Straße. Wie gut sie vereinsamte Wege ausfindig zu machen weiß, dachte er im stillen und behielt die graziöse Gestalt im Auge, die mit ruhigen Schritten, das Haupt, ihrer Gewohnheit nach, leicht gesenkt, auf dem belebten Trottoir dahinging. Zwei junge Männer kamen jetzt an ihr vorüber und sahen ihr ziemlich unverschämt unter den Hut. Sie blickten auch nach ihr zurück, und Bruchfeld bemerkte, daß Paula gleichfalls eine Kopfwendung machte.

Diese Wahrnehmung berührte ihn so unangenehm, daß er, endlich ihr zur Seite, keine Worte fand, um das Gespräch wieder anzuknüpfen. Auch sie schwieg. Erst als sie in die nahe Lazarethgasse einlenkten, sah sie ihn plötzlich von der Seite an und sagte: »Wissen Sie, daß ich Ihnen schon schreiben wollte?«

»Schreiben? Und weswegen?«

»Um Ihnen mitzuteilen, daß unser Verkehr nicht weiter geführt werden kann.« Und da sie seine Betroffenheit erkannte, fuhr sie gleichsam begütigend fort: »Aber ich fürchtete, der Brief könnte Sie möglicherweise verletzen –.«

Sie war offenbar in Verlegenheit und blickte unsicher vor sich hin.

»Nun,« erwiderte er nach einer Pause, »es wäre vielleicht besser gewesen, wenn Sie mir geschrieben hätten; ich würde[148] mich wahrscheinlich leichter zurecht gefunden haben. – Aber darf ich fragen, was Sie zu diesem plötzlichen Entschlusse –«

»O, es war kein plötzlicher Entschluß«, versetzte sie rasch. »Sie wissen ja, daß ich gleich im Anfang – – Mit einem Wort: ich kann das meinem Manne nicht antun.«

»Nun denn,« erwiderte er, ärgerlich über diese Abweisung, der er sich so unerwartet ausgesetzt sah, »ich hatte ja auch niemals die Absicht, Sie in Ihrer Pflicht wankend zu machen, und wenn ich gewußt hätte, daß Ihre Ehe eine glückliche ist –«

»Warum haben Sie daran gezweifelt? Ich hab' es Ihnen ja gleich gesagt.«

»Nun wohl; aber ich habe nicht daran geglaubt. Ich hatte Ihre Vergangenheit im Auge und zog daraus, wie ich jetzt zugeben muß, ganz falsche Schlüsse.«

»Ja, Sie haben sich getäuscht. Sie sind eben nicht normal.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sie sind so überspannt, so romantisch. Sie haben, wie alle Künstler, ganz sonderbare Ideen. Ich bin eine hausbackene Natur und verstehe solche Männer gar nicht. Auch habe ich in dieser Hinsicht schon eine sehr unangenehme Erfahrung gemacht.«

»An einem Künstler?«

»Es war gerade kein Künstler – aber ein außerordentlich exzentrischer Mensch. Ein sehr wohlhabender Ausländer, der sich hier auf der Durchreise befand. Drei Jahre ist es her. Es war an einem Konzertabend bei Zögernitz, wo ich ihn kennen lernte. Der Saal war überfüllt, und er fand keinen Platz mehr, als an dem Tisch, an welchem ich mit meinem Manne saß. Es entspann sich natürlich ein Gespräch – und er verliebte sich sofort leidenschaftlich in mich.«

»Nun, das wäre doch noch kein Beweis –«

»Nein – aber er setzte alles daran, mich zu erringen – wollte durchaus, daß ich mich von Viktor scheiden lasse und mit ihm nach Hamburg gehe, wo er zu Hause war.«[149]

»Und was empfanden Sie für ihn?«

»Nichts, gar nichts. Denn er gefiel mir nicht. Und wenn er mir auch gefallen hätte, ich würde doch meinen Mann nicht verlassen haben. Denn eine Frau darf sich von ihrem Manne nicht trennen, wenn er sie wahrhaft liebt.«

»Nun, das hängt von den Umständen ab. Es kann Fälle geben, wo die Scheidung zur Pflicht wird. Denn ein ehrlicher Bruch ist immer besser, als eine zweideutige Treue.«

»O nein!« rief sie aus, fühlte jedoch sofort, daß sie sich mit dieser Behauptung bloßstelle, und errötete. »Es wäre denn,« setzte sie hinzu, »daß man einen anderen wirklich sehr liebt. Das war aber, wie gesagt, durchaus nicht der Fall. Auch war Viktor so unglücklich darüber.«

»Er hat also davon gewußt?«

»Natürlich. Der Rasende nahm ja keine Rücksicht. Tagelang hielt er sich unter meinen Fenstern auf – endlich wollte er in unsere Wohnung eindringen. Ich wagte mich gar nicht mehr auf die Straße.«

»Und haben Sie zu einem solchen Benehmen nicht doch Veranlassung gegeben? Nicht vielleicht Hoffnungen erweckt –«

»Nicht die geringsten«, unterbrach sie ihn, errötete aber wieder sehr stark. »Kann ich übrigens wissen, was sich dieser Mensch eingebildet hat? Zuletzt, als er sah, daß alles umsonst sei, hat er sich erschossen. Er war der einzige Sohn seiner Mutter, und diese ist nach Wien gekommen und hat mir die bittersten Vorwürfe gemacht. Was konnte ich dafür?«

»O gewiß nichts«, erwiderte er und sah sie mit einer Art von Grauen an. In ihr schönes Antlitz war etwas unsäglich Kaltes, Brutales getreten – eine erschreckende Verschärfung jenes Zuges, der ihn damals so unangenehm berührt hatte.

»Und auch Sie sind in Ihrer Liebe so exaltiert«, fuhr sie fort.

»Mag sein. Aber ich kann Sie versichern, daß ich mich nicht erschießen werde.«[150]

»Das möchte ich auch nicht«, sagte sie, und erhob, wie um sich gegen jede Schuld zu verwahren, die Hand. »Wir wollen vielmehr gute Freunde bleiben. Bei zufälligen Begegnungen werden wir miteinander sprechen, und Sie können mich immer ein Stück Weges begleiten.«

Er schwieg.

»Auch mein Bild will ich Ihnen geben. Eine sehr gelungene Photographie aus meiner Jugendzeit. Eine Freundin, die in Linz lebt, besitzt sie. Sie wird mir das Bild senden und ich werde es kopieren lassen. Wenn Sie sich in ungefähr vierzehn Tagen, morgens zwischen neun und halb zehn, in der Nähe meiner Wohnung einfinden, können Sie es haben. Um diese Zeit begebe ich mich täglich zu meinen Eltern.«

Sie waren bereits in die Pelikangasse eingebogen und schritten der Alserstraße entgegen.

Paula hielt den Schritt an.

»Nun muß ich allein gehen. Meine Tante wohnt an der Ecke der Kochgasse und könnte uns vom Fenster aus sehen«. Sie schlug die großen, dunklen Augen zu ihm auf und reichte ihm die Hand. »Also leben Sie wohl«, sagte sie langsam.

Ein namenloses Weh ergriff ihn. »Leben Sie wohl«, erwiderte er.

Sie ging. Am Ende der Gasse wandte sie sich um und winkte ihm einen Abschiedsgruß zu.

Bruchfeld verweilte regungslos. Endlich brach er in ein kurzes, bitteres Lachen aus und trat den Rückweg an.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 10, Leipzig [1908], S. 146-151.
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