I.

Ich hatte die Ausstellung der Sezession besucht. Es war noch früh am Vormittage, und so durchschritt ich, von seltsam schönen und seltsam häßlichen Gemälden umgeben, fast allein die stillen, geheimnisvoll ineinander mündenden Räume. In dem größten war Klingers Beethoven ausgestellt. Während ich nun vor dem kunstvoll gearbeiteten Bildwerk, das mich weit mehr an die Gestalt Schopenhauers als an jene des großen Tonmeisters erinnerte, in Betrachtung stand, wurden nebenan Stimmen laut. Bald darauf traten drei junge Männer herein mit einer Dame, die, obgleich sie schon tief in den Dreißigern stehen mochte, von auffallender Schönheit war. Einen etwas zerknitterten grotesken Modehut auf der à la Cleo de Merode gescheitelten fahlblonden Haarfülle, trug sie einen enganliegenden grauen Regenmantel, der sich im Zuschnitt nicht wesentlich von den Frühjahrsulstern der drei Herren unterschied und die geschmeidige Fülle ihres hohen Wuchses sehr deutlich hervortreten ließ. Ihr Antlitz mit der zart geschwungenen Nase wies schon feine Fältchen auf, aber es leuchtete in einem kräftig rosigen Kolorit, und die lichten, langgeschnittenen Augen unter dunklen Brauen gaben diesem Gesicht, das ich schon einmal gesehen haben mußte, einen höchst eigentümlichen Reiz. Als jetzt der Blick der Dame auf mich fiel, schien auch in ihr eine Erinnerung aufzuzucken, denn der Ausdruck des Befremdens glitt über ihre Züge. Aber nur ganz flüchtig. Denn sie hatte sich schon wieder ihren Begleitern[155] zugewendet, die sehr eindringlich auf die Schönheiten der Statue hinwiesen. Das Gespräch, das sich dabei entwickelte, überzeugte mich, daß es Künstler waren, die hier ihre Ansichten mit leidenschaftlichem Eifer zum Ausdruck brachten. Ich empfand das nachgerade als Störung und entfernte mich früher, als ich es sonst würde getan haben.

Draußen in der Vorhalle fragte ich das weibliche Wesen, das in stilisierter Anmut an der Kasse saß, ob es nicht wisse, wer die Leute seien, die eben früher gekommen waren.

»Ach ja,« lautete die Antwort, »das sind zwei Maler und ein Bildhauer.« Von den Namen, die auch gleich genannt wurden, war mir einer nicht unbekannt.

»Und die Dame?« fragte ich weiter.

»Ist, glaub' ich, eine Malerin aus München. Wie sie heißt, weiß ich nicht.«

Ich wußte es auch nicht, oder doch: des Vornamens glaubt' ich mich jetzt zu entsinnen. Und während ich nun in den sonnigen Tag hinaustrat und längs der neuen Anlagen am Ufer der Wien dahinschritt, tauchten vor mir immer deutlicher, immer lebendiger Gestalten und Ereignisse aus vergangenen Jahren auf ....


* * *


Zur Zeit meiner literarischen Anfänge nahm ich oft an einer Tischgesellschaft teil, die sich allabendlich in einem schlichten Gasthause auf der Wieden zu versammeln pflegte und aus Künstlern und solchen, die es werden wollten, bestand. Vorwiegend waren es Maler und Bildhauer, die sich dort nach des Tages Mühen und Sorgen behaglich auslebten. Auch einige gebildete Laien hatten sich dem Kreise angeschlossen, wo bei aller Ungezwungenheit, ja oft Ausgelassenheit des Tones doch über die hohen und höchsten Fragen der Kunst verhandelt wurde.

Unter den Malern, die man dort antraf, befand sich auch einer, der von seinen Kollegen gemeinhin der »Hellene« genannt wurde. Er war einer der späteren Schüler Rahls gewesen und[156] setzte nach dessen Tode das Werk des Meisters insofern fort, als er seine Vorwürfe ausschließlich dem Mythos des griechischen Altertums entnahm. Da zu jener Zeit der Formalismus noch sehr in Ansehen stand, so fanden seine korrekten, trotz einer gewissen Trockenheit nicht ungefälligen Bilder bei den Ausstellungen des alten Kunstvereins Beifall und Käufer. Er erhielt sogar Aufträge zu Wandgemälden und Friesen für Prunkräume mehrerer damals eben neuerbauter Palais, die er denn auch ziemlich gleichmäßig mit Darstellungen aus der Odyssee oder dem trojanischen Kriege versah. Infolgedessen kam er auch mit der vornehmen Welt in Berührung. Er wurde häufig zu ihren Gesellschaften geladen, wodurch er selbst, mehr unwillkürlich als absichtlich, vornehme Allüren annahm. So unterschied er sich schon äußerlich von dem Kreise, in dem er sich meistens erst spät, von einem Diner oder einer Soiree kommend, einfand. Da saß er nun gar oft im Frack oder schwarzen Leibrock bei den ziemlich nachlässig gekleideten Tischgenossen, in deren Mitte er sich ausnahm wie sein steifer funkelnder Zylinder zwischen den vielfach zerquetschten Schlapphüten, die an der Wand hingen. Daß er in der Regel den Gerstensaft, der um ihn her reichlich genossen wurde, verschmähte und sich aus dem nächsten Kaffeehause eine Tasse Tee herüberholen ließ, machte ihn zu keinem sehr gemütlichen Gesellschafter, wie er denn überhaupt bei den meisten Anwesenden nicht sonderlich beliebt war. Sehr von sich eingenommen und überzeugt von der Vollkommenheit seiner Arbeiten, war er ein scharfer, unerbittlicher Kritiker fremder Leistungen, so daß es, wenn man ihn reden hörte, eigentlich keinen anderen Maler gab als ihn selbst. Er sprach beständig von der »großen« Kunst und ließ deutlich durchfließen, daß alles übrige nicht sehr hoch anzuschlagen sei. Dadurch fühlten sich begreiflicherweise diejenigen getroffen, die sich dem Genre und der Landschaft gewidmet hatten, und so kam es oft zu weitläufigen Debatten, wobei er, empfindlich und reizbar, wie er war, sehr heftig werden konnte. Einen gefährlichen Gegner[157] hatte er an einem Bildhauer, dem man den Beinamen »Wasserspeier« gegeben hatte, weil er in immer neuen und wechselvollen Hervorbringungen solch fratzenhafter Gebilde unerschöpflich war. Sein Talent neigte überhaupt zur Karikatur, daher die Porträtbüsten, mit denen er sich zur Geltung bringen wollte, in ihrem übertriebenen Realismus mehr abstießen als anzogen. Er erhielt keine Aufträge und war gezwungen, um nur sein Leben zu fristen, sich beim Bau der Votivkirche zu verdingen, an deren Ornamentik er vom frühen Morgen bis zum späten Abend mitarbeitete. Möglich, daß er den Hellenen um seine materiellen Erfolge beneidete; aber die beiden waren eben die entschiedensten Gegensätze. Schon im Äußeren. Während der eine, hoch und schlank gewachsen, immer nach der Mode gekleidet war, ging der andere, klein, gedrungen und kurzhalsig, in einer abgeschabten Samtbluse einher, auf deren Kragen das straffe, weißblonde Haar lang hinabfiel. Ost erschien er auch gleich im Arbeitskittel und brachte den Hellenen, der immer nur feine Zigarren rauchte, schon da durch in Verzweiflung, daß er ihm den Qualm ordinären Knasters aus einer kurzen Holzpfeife unter die Nase blies. Aber der Zwiespalt lag tiefer. Der eine war eine pathetische, der andere eine zynische Natur, deren schlagfertiger Witz bei entbranntem Meinungsstreite stets die Lacher auf der Seite hatte.

Inzwischen aber hatte sich außerhalb des kleinen Kreises im Laufe der Zeit ein bedeutsamer Wandel vollzogen. Das »Künstlerhaus« war fertig geworden – und damit war auch eine neue Ära in der Wiener Kunstwelt angebrochen. Schon bei den ersten Ausstellungen tauchte ganz plötzlich eine glänzende Erscheinung auf: Hans Makart. Seine »Modernen Amoretten« und bald darauf »Die Pest in Florenz« erregten sensationelles Aufsehen und riefen die sich widerstreitendsten Urteile hervor. Natürlich am meisten bei den Künstlern. Während die alten und älteren entrüstet oder bedenklich die Köpfe schüttelten, waren die jungen und jüngsten in begeisterter Anerkennung Feuer und[158] Flamme. Daß der Hellene zu den heftigsten Tadlern gehören würde, war vorauszusehen, und er verabsäumte nicht, bei erster Gelegenheit sein Mißfallen vor der versammelten Tischgesellschaft in den stärksten Ausdrücken kundzugeben. »Das ist gemalte Unzucht!« schrie er.

»Immer noch besser, als gemalte Langeweile!« schrie ihm der Wasserspeier entgegen.

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte der andere, indem er ihn herausfordernd ansah.

»Daß Sie jetzt mit Ihren altbackenen Griechen einpacken können. Makart wird Epoche machen und den Leuten ganz andere Wandbilder malen als Sie.«

»Ja, in Bordellen! Dorthin gehören seine Bilder. Aber auch davon abgesehen sind sie künstlerisch ganz schlecht. Der Mann kann nicht zeichnen. Er drängt seine Figuren in einen Raum zusammen, darin sie nicht Platz finden. Sie haben keinen Boden unter den Füßen. Daher quirlet auch alles molluskenhaft durcheinander. Es ist keine Perspektive darin.«

»Aber die Farben!« wendete man von allen Seiten ein. »Welch reizvolle Abtönung! Welch zauberhafte Leuchtkraft!«

»Ach was, Farben!« rief der Hellene. »Farben allein geben kein Gemälde, höchstens Farbenflecke. Man brauchte ja sonst nur ganz einfach die Palette gegen die Leinwand zu werfen.«

»Schade, daß Sie das nicht tun!« höhnte der Wasserspeier. »Da würde doch etwas Saft in Ihre dürren Götter und Helden kommen.«

Der Hellene bebte vor Wut. »Reden Sie nicht! Was verstehen Sie von Malerei! Sie sind nichts weiter als ein Steinmetz!«

»Und Sie nichts anderes als der höhere Schildermaler!«

Der Hellene erhob sich mit halbem Leibe. Er war bis in die Lippen hinein bleich geworden, und einen Augenblick schien es, als wollte er sich an dem kurzhalsigen Gegner vergreifen. Aber er faßte sich, stand auf und langte nach Oberrock und Zylinder.[159] Fast alle Anwesenden erhoben sich, um ihn mit begütigenden Worten zurückzuhalten. Er aber widerstand. »Meine Herren,« sagte er stolz, »Sie begreifen, daß ich nicht länger in Ihrer Mitte verweilen kann. Nicht etwa wegen jenes Menschen dort. Er ist nicht imstande, mich zu beleidigen; ich würde ihn von heute ab vollständig als Luft behandeln. Aber ich habe erkannt, daß meine künstlerischen Anschauungen den Ihrigen vollständig entgegengesetzt sind – und somit bin ich auch hier überflüssig.« Sprach's und ging. Draußen in der allgemeinen Gaststube rief er nach dem Kellner, um seine Zeche zu bezahlen.

Mit sehr gemischten Empfindungen setzte man sich wieder. Was da vorgefallen, tat eigentlich keinem so recht leid. Dennoch mißbilligte man die rücksichtslosen Äußerungen des Bildhauers und machte ihm Vorwürfe, daß er so weit gegangen war.

»Ach was!« rief dieser, mit starken Schlägen seine Pfeife ausklopfend, »dem eingebildeten Narren mußte einmal die Wahrheit gesagt werden!«

Der Hellene erschien also nicht wieder in der Gesellschaft, die sich übrigens allmählich auflöste. Denn mit dem neuen Künstlerhause waren größere und bedeutendere Vereinigungen ins Leben gerufen worden, welchen beizutreten, im Interesse der Einzelnen lag. So fand man sich immer seltener in dem engen, verräucherten Lokal zusammen, das schließlich selbst zu den gewesenen gehörte, da das alte, baufällige Haus, in dem es sich seit einer langen Reihe von Jahren befunden hatte, niedergerissen wurde.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1908], S. 151-152,155-160.
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