V.

[23] Rücksichtsloser Egoismus war der Grundzug seines Wesens. Aber er verband damit Eigenschaften, die nicht nur anderen, sondern auch ihm selbst verderblich wurden. Er war im höchsten Grade leichtsinnig, und sein Hang zu ausschweifendem Wohlleben kannte keine Grenzen. Budapest, wo jetzt sein Regiment lag, bot ihm alle Gelegenheit, sich die Zügel schießen zu lassen. Es war unglaublich, welche Summen er dort im Laufe zweier Jahre verausgabte. Nun waren wir allerdings wohlhabend, jedoch nur in schlicht bürgerlichem Sinne. Ein Sohn, der verschwenderisch in den Tag hineinlebte, mußte die Familie zugrunde richten. Das Gesicht unseres Vaters, der zu kränkeln begonnen hatte, wurde immer sorgenvoller – schließlich erklärte er, sich zu weiteren Leistungen nicht mehr herbeilassen zu können. Da berief sich die Mutter auf das Vermögen, das[23] sie mitgebracht. Mein sie vergaß, wie geringfügig dieses gewesen, und daß es, wenn sie es mit Hinweis auf Xaver in Anschlag brachte, längst verausgabt war. Zudem kam noch, daß sich im Laufe der Zeit und ihrer Wandlungen ein allmählicher Niedergang unserer Verhältnisse bemerkbar gemacht hatte. Vor allem im Handelsgeschäft, das einst unter unseren Vorfahren den Wohlstand des Hauses begründet hatte. Der Begehr nach Wachs und Honig wurde immer geringer; auch unser Laden war inzwischen wirklich durch den eines Zuckerbäckers in den Schatten gestellt worden, daher sich unser Vater entschloß, das wenig einträgliche Gewerbe einem Mieter abzutreten. Wir waren also jetzt hauptsächlich auf unsere Liegenschaften angewiesen, die sich allerdings noch sehr ergiebig zu erweisen schienen. Als aber der Vater plötzlich starb, da zeigte sich, daß er, was ich bereits geahnt, schon längst gezwungen war, Geld auszunehmen, so zwar, daß er damit unseren ganzen Besitzstand schwer belastet – oder eigentlich überlastet hatte. Diesen durch pünktliche Verzinsung aufrecht zu erhalten, war jetzt im Einverständnisse mit unseren im allgemeinen nachsichtigen Gläubigern meine Aufgabe, an die ich mit redlichem Eifer ging, indem ich fürs erste alle Ausgaben auf das Notwendigste einschränkte. Mein Bruder, der, wie er mitteilte, diensteshalber bei dem Leichenbegängnisse nicht erscheinen konnte, erkundigte sich gleichwohl sofort nach seinem Erbteil. Der gerichtliche Bescheid, den er erhielt, tat ihm kund, daß er nicht das Geringste zu erwarten habe. Dennoch änderte er seine Lebensweise nicht, und da er kein Geld bekam, machte er Schulden, deren Zahlung er auf mich und die Mutter anweisen ließ. Um ihn nicht ins Verderben zu stürzen, geschah das Möglichste. Aber es nützte nichts. Eines Tages schrieb er, er habe gespielt – und ihm anvertraute Regimentsgelder verspielt. Wenn er nicht binnen achtundvierzig Stunden fünfhundert Gulden erhalte, sei er verloren – und es bleibe ihm nichts übrig, als sich zu erschießen. Das Geld hätte also sofort abgesendet werden müssen. Aber woher es nehmen? Zu[24] erborgen war es in so kurzer Zeit nicht. Man kannte in der ganzen Stadt unsere Verhältnisse und war überall rückhältig und schwierig geworden. Die Mutter wußte jedoch, daß bei mir eine größere Summe in Bereitschaft lag. Es war der Zinsenbetrag für einen übelwollenden Gläubiger, der unserem Vater auf zwei große, für uns sehr wertvolle Grundstücke ein bedeutendes Darlehen gegeben hatte. Ich wußte: des Mannes Sinn stand nach den Grundstücken; erhielt er die Zinsen nicht am bestimmten Tage, so kündigte er das Kapital und verlangte die Feilbietung.

Ich weigerte mich daher, das Depot anzugreifen. ›Willst du deinen Bruder morden?‹ rief die Mutter aus. ›Und auch mich? Denn das wisse nur: ich folge ihm nach!‹ Konnte ich anders? Ich sandte an Xaver die verlangte Summe. Was aber tat der Unselige? Er setzte sich damit noch in zwölfter Stunde an den Spieltisch – und verlor alles. So verfiel er seinem Schicksal. Er erschoß sich zwar nicht – aber er wurde kassiert und zu zweijähriger Festungshaft in Komorn verurteilt. Als die Mutter davon Kunde erhielt, fiel sie, wie ein gefällter Stamm, der Länge nach zu Boden. Der Schlag hatte sie gerührt. Sie erholte sich zwar wieder, aber sie blieb gelähmt. –

Noch größeres Leid stand ihr bevor. Denn in ihrer allverzeihenden Liebe hatte sie sich früher, als man geglaubt hätte, mit den Ereignissen ausgesöhnt. Lebte doch Xaver! Was lag daran, daß er seine Charge verloren, daß er nunmehr vor der Welt entehrt dastand? Wenn er nur in zwei Jahren in ihre Arme zurückkehrte! Diese Erwartung, diese Zuversicht sprach aus ihrem schönen, jetzt schon durchfurchten Antlitz, leuchtete aus ihren dunklen Augen, wenn sie tagsüber regungslos im Lehnstuhle saß. Obgeich sie nie davon sprach, wußte ich doch, daß sie die Monde, Wochen, Tage und Stunden zählte. Wie vernichtend mußte es für sie gewesen sein, als sie endlich erfuhr, was ihr so lange wie möglich verschwiegen wurde! Xaver war mit einem anderen Sträfling, einem ehemaligen Geniehauptmann, der sich große Unterschleife hatte zuschulden kommen[25] lassen, in einer stürmischen Spätherbstnacht aus der Festung entwichen. Trotz aller Bemühungen konnte man ihrer, da die Entweichung erst am nächsten Tage bemerkt wurde, nicht mehr habhaft werden. Es mußte den Flüchtlingen, so nahm man an, gelungen sein, in die Türkei zu entkommen.

Ein furchtbares, markerschütterndes Stöhnen drang aus der Brust der unglückseligen Frau. Dann aber verstummte sie. Auch in den nächsten Tagen kam kein Laut über ihre Lippen, sie verschmähte Trank und Speise – bis sie endlich nach und nach das Dasein wieder aufnahm, in der erwachenden, nie sich erfüllenden Hoffnung, doch noch etwas von Xaver zu vernehmen. Ich, ihr erstgeborener Sohn, dessen Anblick, das fühlte ich, ihre Qualen verdoppelte, konnte ermessen, was in ihr vorging. So duldete sie noch drei Jahre. Dann fand man sie eines Morgens entseelt in ihrem Bette.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1908], S. 23-26.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Novellen aus Österreich
Novellen Aus Oesterreich (2 )
Novellen aus Österreich