VI.

[26] Der Pächter tat einen tiefen Atemzug und schwieg. Nach einer Weile fuhr er fort:

»Schon während des letzten Lebensjahres der Mutter hatte ich unser Hauswesen nur mit äußerster Anstrengung aufrecht erhalten können. Die beiden bedeutenden Grundstücke waren natürlich schon damals unter den Hammer gekommen. Da nun schon der Anfang gemacht war, so folgten nach und nach auch die anderen Gläubiger dem Beispiel, unbekümmert darum, daß sie doch ihre Zinsen regelmäßig erhielten. So blieb uns zuletzt nichts als das Haus mit dem vermieteten Geschäft – und einige nicht sehr ergiebige Felder, aus denen ich zur Not unseren Lebensunterhalt herausschlug. Aber auch das war eigentlich unser Eigentum nicht mehr; ein wohlhabender Bäcker konnte jeden Tag davon Besitz ergreifen. Es erwies sich als gutmütiger Mann, und solange die Mutter lebte, verzichtete er darauf. Jetzt aber machte er seine Ansprüche geltend, indem er zu mir sagte: ›Seht, Herr Petzold, was nützt Euch der Rest, da ja doch alles andere[26] verloren ist. Ihr verblutet Euch nur daran. Aber ich will Euch in anderer Weise unter die Arme greifen. Ein Bruder von mir, das wißt Ihr, ist Gutsinspektor auf einer Herrschaft in Mähren. Dort will man einen kleinen, aber recht ergiebigen Hof, seiner stark exponierten Lage wegen, verpachten. Doch nicht an den Nächstbesten, man sucht einen vertrauenswürdigen Mann. Als solchen kenne ich Euch – zudem seid Ihr ein ganz tüchtiger Ökonom, wenn Ihr auch unter fatalen Verhältnissen nicht habt aufkommen können. Reist also hin und seht Euch den Hof an. Gefällt er Euch, und glaubt Ihr, dort wirtschaften zu können, so will ich Euch gegen mäßige Verzinsung so viel vorstrecken, als Ihr braucht, um die ersten Anschaffungen zu machen und für ein paar Jahre hinaus mit dem Pachtschilling gedeckt zu sein.‹ Freudigen Herzens nahm ich das Anerbieten an. Wäre die Mutter nicht gewesen, für die mir zu sorgen oblag, ich würde mich schon längst nach einer Stelle umgesehen haben – und hätte ich mich irgendwo als Schaffer verdingen müssen. Nun aber war mir die unverhoffte Gelegenheit geboten, ein neues Heim zu gründen – und zwar nicht für mich allein.

Das hing so zusammen.

Unser Laden hatte im Laufe der Jahre wiederholt die Mieter gewechselt. Zuletzt war eine Frau an die Reihe gekommen, die Witwe eines Lebküchlers aus Hohenfurt, der dort mit seinem Geschäft zugrunde gegangen war; die Frau aber wollte sich mit Hilfe eines bewährten Altgesellen, der die Ware auf den Jahrmärkten vertreiben sollte, in Krumau wieder aufbringen. Sie hatte auch ein junges Mädchen mitgebracht. Ein zartes, schlankes Geschöpf mit mattbraunen Haaren, das als Verkäuferin hinter dem Ladentische saß und dabei mit Nähen von Weißzeug beschäftigt war, denn es kamen nicht allzu viele Kunden. In ihrem feinen blassen Gesichtchen lag eine stille Traurigkeit, die mich eigentümlich anzog, so daß ich, so oft ich vorüberkam, in den Laden spähte, um sie zu sehen. Zuweilen trat ich auch unter irgend einem Vorwand hinein, um ein paar Worte[27] mit ihr zu wechseln und den sanften Klang ihrer Stimme zu vernehmen.

Als dies wieder einmal geschah, fand ich das Mädchen wie gewöhnlich allein und bemerkte, daß die Lider ihrer großen hellgrauen Augen feucht und gerötet waren. ›Sie haben ja geweint‹, sagte ich.

Statt aller Antwort brach sie in ein krampfhaftes Schluchzen aus.

›Mein Gott, was haben Sie denn?‹

›Ich muß fort‹, erwiderte sie tonlos.

›Fort? Weshalb denn?‹

›Die Frau will mich nicht länger behalten, weil ich nicht genug verkaufe. Kann ich dafür, daß die Leute so wenig Lebkuchen essen und keinen Met trinken wollen?‹

›Gewiß nicht ... Aber sind Sie denn so gerne hier, daß Sie – –‹

›Gerne? O nein! Die Frau hat mich immer schlecht behandelt. Sie gibt mir auch keinen Lohn, nur das bißchen Lebensunterhalt. Selbst von dem, was ich mir da mit Nähen verdiene, muß ich ihr die Hälfte ablassen. Aber ich bin doch irgendwo zu Hause. Und nun soll ich fort – und weiß nicht wohin.‹

›Haben Sie denn niemanden – –‹

›Nein. Ich bin eine Waise und stehe ganz allein.‹ Sie blickte vor sich hin wie ins Leere, in ihrer ganzen Erscheinung ein Bild verzweifelter Hilflosigkeit, die mir das Herz zerschnitt.

›Sie sind aus Hohenfurt – nicht wahr?‹

›Ja. Aber dorthin zurück gehe ich nicht mehr – eher in den Tod!‹

Ihre Miene drückte eine solche Seelenangst, solches Entsetzen aus, daß mir jede weitere Frage auf den Lippen erstarb. Aber eine plötzliche Eingebung erfaßte mich.

›Verzweifeln Sie nicht‹, sagte ich nach einigem Besinnen. ›Vielleicht kann ich Ihnen helfen.‹

Sie faltete die Hände und sah mich mit erwartungsvollem Flehen an. ›O, wenn Sie das könnten!‹[28]

›Sie dürften wohl wissen,‹ fuhr ich fort, ›daß ich eine kranke Mutter habe. Seit einiger Zeit ist sie vollständig gelähmt und daher besonderer Pflege und Wartung bedürftig. Die Personen, die bis jetzt neben unserer alten Hausmagd damit betraut waren, haben sich teils ungeschickt, teils unzuverlässig erwiesen. Wie wäre es, wenn Sie? – – Aber freilich, es ist ein anstrengender, aufreibender Dienst‹, setzte ich mit einem unwillkürlichen Blick auf ihren schmächtigen Körper hinzu.

›O, ich bin nicht so schwach, wie ich aussehe‹, sagte sie rasch. ›Ich muß ja hier auch morgens und abends die Dienste einer Magd verrichten. Und in der Krankenpflege bin ich erfahren. Meine arme Mutter hatte ein schweres Gichtleiden und konnte vor ihrem Tode ein Jahr hindurch gar nicht mehr vom Bett aufstehen. Ich war ganz allein um sie – und dabei mußte ich noch für alles andere sorgen. Nehmen Sie mich nur, Sie werden zufrieden sein.‹

So traf Johanna – das war ihr Name – schon in den nächsten Tagen mit einem kleinen Koffer, der ihre wenigen Habseligkeiten enthielt, bei uns ein. Unsere alte Margaret betrachtete sie mit Mißtrauen, meine Mutter mit sichtlichem Widerwillen. Bald jedoch zeigte sich, welch einen Schatz von Sorgfalt, Hingebung und Umsicht wir an ihr gewonnen hatten, so daß die Kranke gezwungen war, ihre innere Abneigung zu verhehlen. Mir aber war jetzt in unserer öden, traurigen Häuslichkeit ein Lichtstrahl aufgegangen, der immer heller leuchtete, und von Tag zu Tag wuchs meine Neigung zu dem stillen, sanften Mädchen, das gleich mir schon früh das Unglück des Lebens kennen gelernt hatte.

Sie war, wie ich nun von ihr selbst erfuhr, als uneheliches Kind geboren worden. Ihre Mutter hatte sich als Witwe eines untergeordneten städtischen Beamten, mit dem sie in kinderloser Ehe gelebt, noch in späteren Jahren vergangen und wurde infolgedessen von allen Verwandten und Bekannten in Acht und Bann getan. Sie ergab sich in ihr Los und fristete, da man ihr selbst die geringfügige Pension entzogen hatte, unter[29] den dürftigsten Umständen sich und ihrem Kinde das Leben. Die Kleine aber hatte schon in der Schule die Härte und Grausamkeit der Lehrer, den Hohn und die Verachtung der Mitschülerinnen – und als sie heranwuchs, jede Pein weiblicher Armut zu erdulden. Sie nähte mit ihrer Mutter Weißzeug für die Leute. Aber auch da machte sich der Fluch ihrer Geburt für beide geltend. Denn verfemt, wie sie waren, konnten sie nur Arbeit erhalten, wenn sie diese um einen Spottpreis herstellten. Dadurch aber erregten sie Haß und Verfolgung bei anderen Näherinnen, die sich in ihrem Gewerbe beeinträchtigt sahen. Als die Mutter erkrankte und die Tochter sie betreuen mußte, stand der Hungertod vor der Tür. Was blieb übrig, als um Erbarmen zu flehen – und bei mütterlichen Anverwandten zu betteln. Welche Abweisungen, welche Erniedrigungen hatte sie da erfahren! Zuletzt noch, als die Mutter schon auf dem Sterbebette lag, einen schändlichen Antrag – fast eine Gewalttat, der sie sich nur mit Aufgebot ihrer ganzen jungfräulichen Kraft hatte entringen können. O, nun wußte ich, warum sie lieber in den Tod gehen, als nach Hohenfurt zurückkehren wollte! Doch nun fühlte ich auch, daß wir für einander bestimmt waren. Und als wir beide allein an der Leiche meiner Mutter standen, und Johanna mit gesenktem Haupt leise fragte, was jetzt mit ihr geschehen würde, breitete ich die Arme aus und schloß sie an die Brust.

Im Frühling zog sie mit mir als mein Weib da herauf.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1908], S. 26-30.
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