VIII.

[33] Am nächsten Morgen hatte ich meinen Entschluß gefaßt. Ich setzte mich hin und schrieb eine Anzeige an das Bezirksgericht, daß mein Bruder Franz Xaver Petzold, der im Jahre 1863 aus der Festungshaft in Komorn entwichen war, sich seit gestern abend bei mir befinde. Dann siegelte ich das Papier ein und steckte es zu mir. ›So,‹ sagte ich zu Johanna, die totenblaß aussah, ›jetzt gehe ich zu ihm hinüber und werde ihn auffordern, unser Haus zu verlassen.‹

›Er wird es nicht tun.‹

›Das glaube ich auch. Aber dann werde ich ihm sagen, daß ich ihn anzeigen muß.‹

›Das willst du ihm sagen!‹ rief sie.

›Ich lasse ihm die Wahl. Ihn ohne weiteres anzuzeigen, wie ich eigentlich sollte, geht trotz allem, was er mir angetan, wider mein Gefühl.‹[33]

›Du bist gut‹, sagte sie. ›Er aber – – Nimm dich in acht! Er ist zu allem fähig.‹

›Ich weiß es und bin daher auch auf alles gefaßt. Du kannst einstweilen unserem Knecht den Auftrag geben, daß er sich zu einem Gang nach dem Marktflecken bereit halte.‹

Sie sah mich mit ihren schimmernden Augen in stummer Seelenangst an. Dann warf sie sich an meine Brust und umschlang mich mit beiden Armen. ›Geh' nicht!‹ flehte sie.

Ich machte mich mit sanfter Gewalt los und strich mit der Hand über ihren braunen Scheitel. ›Beruhige dich. Es geschieht nur, was geschehen muß. Er hat mich immer schwach und hilflos wie ein Kind gesehen. Nun aber zwingt mich das Schicksal, ihm als Mann gegenüberzutreten – und er wird ihn an mir finden.‹

Mit diesem Gefühl suchte ich das Zimmer im Hinterhause auf, wo sich mein Bruder befand. Der kurze Seitengang, der dahin führt, ist um einige Stufen erhöht. Das Zimmer selbst hat zwei Fenster. Ein größeres, dem Hofe zu; ein kleineres, das mit einem Vorhang verhüllt war, geht nahe der Tür auf den Gang hinaus.

Als ich bei Xaver eintrat, lag er noch im Bett und rauchte eine Zigarette. Neben ihm auf dem Tisch stand eine Tasse mit schwarzem Kaffee, den ihm Margaret auf sein Geheiß bereitet hatte.

›Ah, du bist's‹, rief er mir entgegen. ›Da kannst du gleich von mir hören, daß das Bett miserabel ist, ihr müßt das Zeug umtauschen.‹

›Das wird nicht mehr notwendig sein‹, erwiderte ich.

›Wieso nicht notwendig?‹

›Weil du nicht mehr hier schlafen wirst.‹

Er runzelte die Brauen. ›Warum nicht?‹

›Weil du wohl selbst einsehen wirst, daß ich dich nicht länger beherbergen kann.‹

Er hatte sich im Bett aufgesetzt und betrachtete mich mit[34] einem bösen Blick. ›Was soll das alles heißen? Warum kannst du mich nicht länger beherbergen?‹

›Weil du ein Flüchtling bist, und ich mich nicht der Gefahr aussetzen kann, daß man dich hier findet.‹

›Immer der alte Feigling!‹ sagte er verächtlich. ›Und was wäre denn dabei, wenn man dich auch einmal für ein paar Monate hinter Schloß und Riegel setzte? – Aber wer soll mich denn finden? Glaubst du, ich habe den Leuten in Ägypten auf die Nase gebunden, daß in Österreich ein Bruder von mir lebt? Ich heiße schon lange nicht mehr Petzold.‹ Er war aufgestanden und langte nach seinen Kleidern.

›Du kommst also aus Ägypten –‹

›Ja, von dorther komme ich‹, erwiderte er, während er die Schuhe anzog. ›Aber auf Umwegen über Marseille, wo ich glücklich durchgewischt bin. Du siehst also, daß mich niemand hier suchen wird. Denn an die Festungsgeschichte denkt kein Mensch mehr.‹

›Aber ich denke daran‹, sagte ich. ›Und es verträgt sich nicht mit meinem Gewissen, dir Aufenthalt zu gewähren.‹

›Mit deinem Gewissen!‹ höhnte er. ›Ich kümmre mich den Teufel um dein Gewissen. Ich bleibe jetzt da, bis ich anderwärts Luft kriege.‹

›Und wenn ich dich anzeige?‹

Er verfärbte sich. Aber wie ich sehr wohl erkannte, nicht vor Schreck, sondern aus Zorn darüber, daß ich ein solches Wort auszusprechen wagte. ›Anzeigen willst du mich, du Memme? Sag' das noch einmal!‹

›Ich sage es nicht, ich werde es tun!‹

Es war, als wollte er auf mich losstürzen. Aber in seiner Art, mich für nichts zu achten, wandte er sich mit einer Gebärde der Geringschätzung ab. ›Lächerlich!‹ sagte er.

›Du wirst es nicht lächerlich finden, wenn man dich in zwei Stunden verhaftet. Die Anzeige – ich wies sie ihm – ist schon geschrieben, und der Knecht wartet, der sie zu Gericht bringen soll.‹[35]

Nun merkte er, daß es Erust werde. Sein Antlitz verzerrte sich wie damals, als er das Glas nach mir geschleudert hatte. Rasch trat er auf seinen Reisesack zu, der offen auf einem Stuhl lag, und riß ein Doppelterzerol daraus hervor. Beide Hähne knackten. ›Wenn du mich anzeigen willst, muß ich dich niederschießen wie einen Hund!‹ knirschte er, bebend vor Wut.

In diesem Augenblicke glaubte ich draußen leise Schritte zu vernehmen. Die Situation jedoch war derart, daß ich sie nicht beachten konnte. Ich fühlte, daß er schießen werde. Nur wenn ich mich sofort auf ihn warf, konnte ich es verhindern. Ich tat es. Aber er hatte auch schon losgedrückt. Der Knall ertönte, die Kugel pfiff und schlug durch die Scheiben des Fensters nächst der Tür. In dem atemlosen Ringkampf, der jetzt entstand, entlud sich der zweite Lauf gegen den Boden. Nun schleuderte ich Xaver von mir, daß er bis an das Bett zurücktaumelte.

›Dein Glück!‹ rief ich ihm zu. ›Sonst wärest du dem Henker verfallen!‹

Ich öffnete die Tür, trat hinaus – und erstarrte. Unter dem Fenster lag mein Weib mit blutender Stirn. Unser Knecht war über sie gebeugt. ›Da seht nur her‹, stammelte er. ›Die Frau hatte Angst um Euch – sie wollte am Fenster horchen – da kam die Kugel – Jesus Maria!‹

Was soll ich Ihnen weiter sagen – sie war tot ......«


* * *


»Und Ihr Bruder?« fragte ich jetzt.

»Mein Bruder lebt – im Kerker. Aber er wird wieder frei werden. Wer weiß, was mir noch von ihm bevorsteht. Denn das Kapital, das mir der Bäcker in Krumau vorgestreckt hat, ist noch lange nicht abgezahlt. Und ich möchte keine Schuld zurücklassen, wenn ich aus der Welt gehe.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1908], S. 33-36.
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