II.

[50] Das Gespräch, das ich mit Laura gehabt, war das letzte gewesen. Denn sehr bald darauf mußte ich zum Regiment einrücken, das gleichzeitig den Marschbefehl erhielt. Es kam daher nur zu einem ganz raschen Abschied von den Parzen – das heißt, eigentlich bloß von zweien, weil Selma noch immer nicht zu sehen war. Ich ging also nach Böhmen ab, woselbst ich bis zum Beginn des italienischen Feldzuges verblieb.

Inzwischen aber hatten sich die schlimmen Prophezeiungen Lauras merkwürdigerweise in sehr kurzer Zeit erfüllt. De Brois war kaum ein Jahr nach seiner Hochzeit im Duell gefallen. Es war eine mysteriöse Geschichte, die niemals vollständig aufgehellt wurde. Man erzählte sich jedoch (die Zeitungen mußten damals über derlei Ereignisse schweigend hinwegsehen) mit allerlei Variationen folgendes. De Brois sei zum Major befördert und als Flügeladjutant zum Korpskommando in Budapest versetzt worden. Dort habe er eines Tages seine Frau tête à tête mit einem hohen ungarischen Magnaten überrascht und diesen mit der Reitpeitsche behandelt. Dem Magnaten blieb natürlich nichts übrig, als ihn zu fordern und beim ersten Schusse in den Sand zu strecken. Die Gattin De Brois' aber habe aus Schreck und Aufregung eine Frühgeburt getan, infolge deren sie gleichfalls gestorben sei. Der Vorfall mochte in gewissen Kreisen großes Aufsehen erregt haben; auf Fernerstehende wirkte er[50] nur als pikantes Tagesgespräch, wurde daher bald vergessen. Selbst von mir. Erst als sich das Regiment gleich nach beendetem Feldzuge wieder in Wien befand, wurde ich daran erinnert, und zwar hauptsächlich durch das kalte Kaffeeehaus, das ich ja doch einmal aufsuchen mußte. Es kam nicht so bald dazu. Denn ich war damals gerade im Begriff, den Dienst zu quittieren, und hatte mich in Erwartung meines Abschiedes schon aller militärischen Leistungen entheben lassen. In Bücher und Schriften versenkt, blieb ich tagsüber auf meinem Zimmer in der Getreidemarktkaserne, ließ mir das Essen bringen und unternahm erst zu ziemlich später Stunde längere Spaziergänge, die mich jedoch nach ganz anderen Richtungen hinführten. Endlich, an einem neblichten Oktoberabende, lenkte ich meine Schritte dem Parzensitze zu.

Als ich in die bekannten Räume trat, hatte ich die Empfindung, daß sich hier gar nichts verändert habe. Die Wände dunkelten wie früher; selbst der Zyklop war kaum lahmer und hinfälliger geworden. Auch die Gäste schienen dieselben geblieben zu sein – bis zu den Whistspielern in der Nähe der Kassa, wo Selma, still wie einst, vor dem Kästchen mit den Likörflaschen saß. Allerdings erkannte ich bald, daß es Offiziere eines anderen Trainregiments waren, die sich im Lokal befanden, und bei der Whistpartie fehlten De Brois und der Verehrer Bertas. Auch diese vermißte ich jetzt. Laura jedoch saß in einer Ecke; ihre zerzauste Frisur kam über einem Zeitungsblatt zum Vorschein, in das sie vertieft war. Als sie zufällig nach der Seite blickte, erkannte sie mich sofort und streckte mir sichtlich erfreut die Hand entgegen.

»Das ist schön, daß man Sie wiedersieht! Sie waren in Italien unten und haben den Krieg mitgemacht – nicht wahr?«

»Eigentlich ja. Aber das Bataillon, bei dem ich stand, ist gar nicht ins Feuer gekommen. Ich habe die Kugeln nur in der Ferne pfeifen gehört.«[51]

»Desto besser. Es war ein unglückseliger Feldzug. Aber ich hab's vorausgesagt!«

»Sie sind eben eine Prophetin, Fräulein Laura«, sagte ich, unwillkürlich lächelnd.

»Kann ich dafür, daß mir die Tatsachen recht geben? Erinnern Sie sich noch, was ich damals über die Heirat des De Brois – – Sie werden doch erfahren haben –«

»Allerdings. Aber lassen wir die Toten ruhen. Und was mich betrifft, so werde ich nicht lange mehr Soldat sein.«

»Sie wollen austreten?«

»Ja.«

»Und was werden Sie dann anfangen?«

Bei der mir bekannten Mißachtung, die Laura gegen alles Belletristische hegte, hielt ich mit meinen Absichten hinter dem Berge und sagte bloß: »Ich weiß noch nicht recht – ich bin eben auf der Suche –«

»Na, Sie werden schon etwas finden. Es ist übrigens ganz vernünftig von Ihnen. Beim Militär ist jetzt nichts mehr zu holen.«

»Für mich gewiß nicht. – Aber sagen Sie mir, haben Sie in Ihrer Familie vielleicht einen Verlust erlitten?« Es war mir nämlich inzwischen aufgefallen, daß Selma in Trauer gekleidet war. Laura allerdings trug wie sonst einen farblosen Habit.

»Verlust? Gott sei Dank, nein. Seit unsere Eltern tot sind, haben wir nicht viel mehr zu verlieren. Aber Sie meinen das wahrscheinlich, weil Selma in Schwarz ist? So ziemt es sich ja für eine trauernde Witwe.«

»Witwe?«

»In ihrem Sinn. Sie ist nämlich überzeugt, daß De Brois eigentlich sie geliebt und die Cortesi nur geheiratet hat, weil er infolge seiner Stellung eine reiche Partie machen mußte. Damit versöhnte sie sich also schließlich, weil sie selbst ihm nichts, oder nur äußerst wenig hätte mitbringen können. Aber sie[52] war seine Seelenbraut – und im Geiste hatte er die Ehe mit ihr geschlossen. Daher betrachtet sie sich jetzt auch als Witwe.«

»Das ist aber –«

»Ein Wahnsinn ist's. Sie befindet sich jedoch sehr wohl dabei. Sie hat ja seit jeher in Einbildungen gelebt und stets ihr Glück im Unglück gefunden. Doch was sagen Sie zu dem dort?« Sie deutete mit den Augen nach einem Herrn, der an einem entfernteren Tische saß und uns halb den Rücken zukehrte.

»Zu dem – –?«

»Erkennen Sie ihn nicht mehr?«

»Bei Gott, das ist ja – –«

»Freilich ist er's. Unser Toggenburg. Aber nicht mehr Student, sondern wohlbestallter Hausbesitzer, da sein Papa das Zeitliche gesegnet hat. Er ist auch, wie Sie sehen, inzwischen ziemlich feist geworden und hat einen Bart gekriegt. Er liebt Selma noch immer. Drei Heiratsanträge hat er ihr schon im Laufe der Jahre gemacht – und immer einen Korb erhalten. Nach jedem blieb er eine Zeitlang weg – nach dem letzten sogar sechs Monate. Ich dachte schon, jetzt hat er genug – aber er hat sich wieder eingefunden – und sitzt dort wie ein angemalter Türk.«

»Er setzt also seine Bewerbungen fort?«

»So scheint's. Und diesmal möglicherweise nicht ohne Erfolg. Selma zeigt sich jedenfalls mürber. Sie gestattet ihm, daß er für einen Augenblick an die Kassa tritt. Sie nimmt Blumen in Empfang, auch Gedichte. Er hat sich nämlich jetzt ganz auf die Dichterei geworfen und gibt Bücher auf eigene Kosten heraus.«

»Vielleicht nimmt sie ihn noch –«

»Ich hätte nichts dagegen. Obgleich es ein Unsinn wäre. Der Mensch ist wenigstens zehn Jahre jünger als sie. Aber wenn er durchaus will, geb' ich meinen Segen. Um so mehr, als wir jetzt das Kaffeehaus verkaufen werden.«[53]

»Warum denn das?«

»Sie sehen ja, in welchem Zustand sich das Lokal befindet. Es ist schon eine wahre Schande. Um es jedoch von Grund auf restaurieren zu lassen, dazu fehlen uns die Mittel. Würde auch nicht viel nützen. Denn das Kaffeehaus ist doch zu entlegen, als daß trotzdem mehr Gäste kämen. Und da sich ein Käufer gefunden hat, so geben wir's her. Just zur rechten Zeit, denn auch ich werde heiraten.«

»Sie!«

»Nicht wahr, da staunen Sie? Aber ich begehe keine Torheit. Ich heirate meinen Fraint. Also eine Vernunftehe, wie sich's gehört. Der Inhaber des Pensionats ist alt und müde geworden, er will die Anstalt aufgeben. Mein Zukünftiger wird sie übernehmen. Das heißt, eine andere, größere ins Leben rufen.«

»Ich gratuliere.«

»Danke. Wir werden schon prosperieren. Denn wir wollen alles aufs zeitgemäßeste einrichten. Haben auch schon ganz passende Lokalitäten in einem neu gebauten Hause der Marokkanergasse in Aussicht. Ich leite das Ökonomische. Auch sonst bin ich nicht auf den Kopf gefallen.«

»Das ist bekannt, verehrte Laura. Aber so geht jetzt die Schwestertrias auseinander. Und zwar auf dem ganz naturgemäßen Wege der Ehe. Wenn ich recht vermute, hat Fräulein Berta diesen Weg bereits betreten.«

»Ja. Die hat schon vor drei Jahren geheiratet. Ihren Oberstleutnant.«

»Also doch.«

»Gewiß. So dumm sie ist, ihren Vorteil hat sie doch wahrgenommen. Dabei ist sie aber die alte Närrin geblieben. Noch immer den Kopf voll mit Liebesgedanken – und desperat, daß sie ihren Mann, der krankheitshalber in Pension ging, Pflegen und warten muß. – Aber wenn man sie nennt, kommt sie gerennt.« Laura wies nach der Eingangstür.[54]

Diese war hastig geöffnet worden, und herein trat Berta in auffallendem Straßenputz, das runde Antlitz dicht verschleiert; auf den noch immer sehr vollen dunklen Haaren saß ein unter Blumen und Federn verschwindender Hut. Kaum hatte man sie wahrgenommen, so sprangen auch schon einige Offiziere von ihren Sitzen auf und eilten ihr entgegen. Sie ergriff und schüttelte die dargereichten Hände, wobei sich sofort ein lautes Geschäker entwickelte.

»Da sehen Sie nur,« raunte mir Laura zu, »wie sie sich schön tun läßt! Der Mensch ändert sich nicht.«

Nun trat Berta auch an uns heran. Es gab eine Erkennungsszene. Berta war sehr liebenswürdig. Da sie endlich sagte, sie sei gekommen, ihrer Schwester eine Mitteilung zu machen, nahm ich die Gelegenheit zum Aufbruch wahr und empfahl mich.

»Leben Sie wohl«, sagte Laura. »Und kommen Sie bald wieder. Sie dürften uns nicht lange mehr hier antreffen.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1908], S. 50-55.
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