II.

[108] Karl Schirmer, oder, wie er früher stets genannt wurde, der »Schirmer Karl« war eine jener im Grunde des Herzens ehrlichen, aber willensschwachen und kleinmütigen Wiener Naturen, wie sie noch heute nicht bloß als atavistische Erscheinungen vorkommen. Von seinem Vater, einem wohlhabenden Holzhändler an der Donaulände, hatte er Tatkraft und Betriebsamkeit nicht ererbt; der Sohn war mehr der Mutter nachgeraten, die eine sinnenfrohe, sorglose und in ihrer Weise sentimentale Frau gewesen. Ihr erstes und einziges Kind, ihren Karl, liebte sie abgöttisch und hatte seinetwegen, nachdem ihr Mann plötzlich am Herzschlag verschieden war, nicht wieder geheiratet, obgleich es der noch immer stattlichen Witwe an Bewerbern nicht gefehlt haben mochte. Der Geschäftsführer jedoch, der notgedrungen aufgenommen werden mußte, verstand es, sich bei ihr in Gunst zu setzen, so daß sie nach und nach fast ganz unter die Botmäßigkeit dieses rohen, dem Trunke nicht abholden Mannes kam. Nur in allem, was ihren Karl betraf, gab sie nicht nach und verteidigte ihn oft wie eine Löwin ihr junges gegen die derben Erziehungsversuche des Halbgatten. Infolgedessen kam es, daß der Knabe den Geschäftsführer haßte und, das Unlautere der häuslichen Verhältnisse instinktiv herausfühlend, die Mutter trotz ihrer Zärtlichkeit nicht sonderlich liebte. So wurde er gewohnt, in sich selbst hineinzuleben. Er suchte entlegene und einsame Räume des Hauses auf oder versteckte sich draußen zwischen dem hoch aufgeklafterten Holze, wo er oft stundenlang ohne jede Beschäftigung zubrachte. Auch das[108] Spielen mit anderen Knaben freute ihn nicht. Denn die Kinder in der nächsten Umgebung waren nicht die feinsten und hatten ihn gleich bei den ersten Begegnungen tüchtig durchgebläut. Diesem inhaltslosen Jugenddasein entsprechend war auch sein Bildungsgang. Um einst das Geschäft zu übernehmen, brauchte er in jener Zeit nur lesen, schreiben und rechnen zu können, und das lernte er ja zur Not in der Normalschule, in die man ihn schickte. Endlich kam es auch dahin, daß er versuchen mußte, sich ein wenig im Geschäft umzutun und in die Bücher und Rechnungen Einsicht zu nehmen. So oft er sich aber dazu anschicken wollte, wurde ihm diese Bemühung durch die Art und Weise des Geschäftsführers derart verleidet, daß er immer froh war, die Schreibstube wieder hinter sich zu haben. Schließlich beschränkte er sich darauf, bei dem Ausladen des Holzes gegenwärtig zu sein, das auf Schiffen oder Flößen die Donau herunter kam; aber er hatte da mehr den blauen Himmel und die grünen Baumwipfel der Brigittenau im Auge. Hingegen kam er durch nachbarliche und sonstige Beziehungen nach und nach in recht lockere Gesellschaft. Die Söhne wohlhabender Bürgerfamilien, die in den angrenzenden Vororten ihren Sitz hatten, wußten damals nichts Besseres zu tun, als es in ihrer Weise »umgehen« zu lassen. Sie kannten die besten Heurigenschenken, wo sie schon vormittags zu finden waren, und nachmittags fuhren sie in feschen Zeugeln in den Prater oder sonstwohin, wo es eine »Hetz'« gab. Auch nachts waren sie um Unterhaltung nicht verlegen und trafen in Lokalen zusammen, wo ihnen »saubere Madeln« Gesellschaft leisteten. Und der Schirmer Karl mußte mittun, ob er nun wollte oder nicht. Eigentlich wollte er nicht, denn er saß am liebsten für sich allein am Ufer des Kanals und fischte. Aber da kam ihm die ganze Rotte lärmend ins Haus gefallen und zog ihn mit Gewalt fort. So gewöhnte er sich allmählich, widerstandslos wie er war, Wein zu trinken, der ihm gar nicht mundete, und ließ sich ohne Vergnügen mit Frauenzimmern ein, die ihm schön taten, um ihm sein Geld abzunehmen.[109] Dieses Leben ging so fort, bis seine Mutter, die zu kränkeln begonnen hatte, eines Tages starb. Nun war er wirklich der Herr. Statt aber den unleidlichen Geschäftsführer abzuschaffen, behielt er ihn der lieben Bequemlichkeit halber bei; er hatte sich ja auch überzeugt, daß der Mann insofern ehrlich war, als er nicht allzuviel für sich selbst auf die Seite brachte. Und es dauerte nicht lange, so heiratete der Schirmer Karl auch. Denn als er wieder einmal mit den Kumpanen beisammen war, hatte ihn der junge Menzinger – er hieß Franz – mit der Hand derb auf die Achsel geschlagen und gesagt: »Du, Karl, du mußt meine Schwester heiraten.« Dem Überraschten gefiel diese Schwester gar nicht. Sie war ihm hin und wieder flüchtig begegnet, wobei er gefunden hatte, daß sie nicht übel gewachsen war. Aber ihr Gesicht mit dem langen, vorspringenden Kinn und den starren schwarzen Glaskugelaugen hatte ihm mißfallen und ihre scharfe, schnarrende Stimme nicht bloß im Ohr weh getan. Aber der Menzinger Franz hatte ja gesagt und in nächster Zeit immer wiederholt, daß er sie heiraten müsse – und so tat er's. Es wurde ihm auch von verschiedenen Seiten sehr wohlmeinend erklärt, daß die Menzinger Theres wenigstens zehntausend Gulden mitbekommen werde, die doch im Geschäft sehr nutzbringend angelegt werden könnten. Und überdies: er sah ein, daß er eine Hausfrau brauche, denn es sah bei ihm schon recht unordentlich aus. Er freute sich, daß es nunmehr mit der wüsten Tagdieberei und Zecherei ein Ende haben und er in der Lage sein würde, endlich das Geschäft wirklich in die Hand zu nehmen. Er war dazu um so mehr gezwungen, als ihm der bisherige Leiter, der sein Schäflein ins trockene gebracht, den Dienst gekündigt hatte. Aber die behagliche Häuslichkeit, auf die er gerechnet, wollte sich nicht einstellen. Denn kaum daß die Honigmonde – wenn es wirklich solche waren – ihr Ende gefunden hatten, mußte er erkennen, daß die Menzinger Theres eher an alles andere dachte als an die Pflichten einer sorglichen Ehegattin. Sie wollte sich beständig unterhalten[110] und zwang ihn, sie an öffentliche Vergnügungsorte zu führen, wobei sie sich an auffallendem Putz nicht genug tun konnte. Und als er endlich bescheidenen Einwand erhob und meinte, so könne das Leben nicht weitergehen, da erwiderte sie sehr gereizt, ob er denn glaube, daß sie ihn geheiratet habe, um mit ihm in der »Hütten« zu sitzen. So nannte sie mit Vorliebe das zwar niedere, aber sehr weitläufige Schirmersche Haus. Und was ihren Kleideraufwand betraf, so wies sie auf ihre Mitgift hin, die übrigens noch immer unverzinst bei Vater Menzinger steckte. Und als das Leben in der Tat nicht mehr so weiterging, wurde sie mürrisch, zänkisch und erklärte ihm bei jeder Gelegenheit, daß er das Geschäft nicht verstehe. Dieser Vorwurf traf ihn um so schmerzlicher, als er auf Wahrheit beruhte; er selbst sagte es sich ja oft genug im stillen. Und es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. Zwischendurch kam freilich etwas, um das sinkende Schiff wieder zu heben. So zuweilen eine große Bestellung auf Bauholz, da ja die Stadterweiterung mehr und mehr in Zug kam. Aber im ganzen wollte das nicht viel besagen, und der einst so blühende Handel schleppte sich nur mühselig dahin. Und das Leben Schirmers wurde danach. Seine Frau kümmerte sich mit unverhohlener Verachtung immer weniger um ihn. Sie hatte sich ein paar flotte Freunde ins Haus gezogen, darunter einen reichen, vierschrötigen Weingärtenbesitzer aus Grinzing. Mit diesen Freunden, die immer mit Wagen angesaust kamen, fuhr sie über Land oder in die Stadt hinein, wo man gemeinschaftlich Theater besuchte oder zu Volkssängern ging, die sich gerade besonderer Beliebtheit erfreuten. Ihr Mann nahm sich das nicht sonderlich zu Herzen. Er hatte sie ja nie geliebt und war eigentlich froh, daß er jetzt abends allein sein und, wenn es die Jahreszeit erlaubte, wieder seinem alten Vergnügen, dem Angeln, nachhängen konnte.

Um diese Zeit traf es sich, daß ein neues Dienstmädchen ins Haus kam. Sie hieß Rosalie Eder und war die Tochter eines Gemeindedieners. Schlank und zart gebaut, sah sie mit[111] gesundblassen Wangen, blondem Kraushaar und mit großen Augen, die wie Kornblumen leuchteten, jünger aus, als sie wirklich war, denn sie mochte schon ziemlich tief in den Zwanzigern stehen. Sie hatte ein stilles, etwas schwermütiges Gehaben. Manchmal begann sie ganz leise vor sich hin zu trällern, verstummte aber gleich wieder, gewissermaßen vor sich selbst erschreckend. Es war kein Wunder, daß sie dem Vereinsamten von Tag zu Tag besser gefiel. Sie führte ihm ja eigentlich das Hauswesen und kam ihm daher oft genug vor Augen. Ihr Anblick erfüllte ihn immer mit Freude, aber auch mit Schmerz. »Wenn das meine Frau wäre!« sagte er zu sich selbst. »Wie glücklich wär' ich!« Und er konnte auch bemerken, daß ihn das Mädchen keineswegs gleichgültig ansah. Vielmehr lag etwas wie zärtliche Teilnahme in ihrem sanften Blick. Ja, ein anderer als der Schirmer Karl hätte nicht viel Federlesens gemacht und sie, wenn sie ihm so mit halbentblößten Armen das Essen auftrug, herzhaft an sich gezogen. Er jedoch tat es nicht. Wohl kaum aus moralischen Bedenken. Aber er war eine ängstliche Natur, und als solche bedachte er die Folgen. »Ich bin ein verheirateter Mann«, sagte er sich, »was sollte daraus werden?« So unterließ er es, seine Neigung kundzugeben; ja er schlug immer die Augen nieder, wenn er notgedrungen mit der Rosi reden mußte. Einmal nur, als sie ihm wieder das Nachtmahl vorsetzte, konnte er sich nicht enthalten, ihre Hand zu ergreifen, die trotz aller harten Arbeit stellenweise ganz blühweiß aussah, und sie eine Zeitlang festzuhalten. Aber er sah dabei dem Mädchen nicht in das erglühende Gesicht und sagte kaum hörbar, denn es verschlug ihm die Stimme: »Rosi, ich hab' Sie so gern.« – »Ich hab' Ihnen auch gern, Herr Schirmer«, erwiderte sie still. Dabei blieb es. Aber der Schirmer fing jetzt zu leiden an. Denn seit er die sanfte Wärme ihrer Hand gespürt, kam immer stärkere Sehnsucht über ihn, die er nur mit Gewalt zu unterdrücken vermochte. Er konnte kaum mehr das Essen hinunterbringen, das sie ihm vorsetzte. So atmete er fast wie befreit[112] auf, als die Rosi eines Tages den Dienst kündigte. Sie werde heiraten, sagte sie. Einen Werkmeister in der Nußdorfer Parkettenfabrik. Als sie Abschied nahm, seine Frau war zufällig auch dabei, sprach er halb abgewandt: »Werden S' recht glücklich, liebe Rosi.«

Er aber wurde jetzt immer unglücklicher. Denn bald nachdem Rosi das Haus verlassen und einer derben, grobknochigen Magd den Platz geräumt hatte, erlitt er im Geschäft einen furchtbaren Verlust. Ein unternehmender Architekt hatte von ihm eine Unmasse Bauholz auf Kredit bezogen. Eines Tages entleibte sich der Mann, und es stellte sich heraus, daß seine Gläubiger das leere Nachsehen hatten. Am ärgsten war Schirmer getroffen, und er erkannte, daß er nun selbst vor dem vollständigen Ruin stehe. Man riet ihm auch gleich von mehreren Seiten, Konkurs anzumelden, damit er doch vor dem unvermeidlichen Zusammenbruch noch einiges für sich selbst errette. Aber das ging dem Schirmer gegen das Gefühl. Dazu war er im Grunde zu ehrlich oder zu wenig gescheit; auch hatte er in seiner angeborenen Ängstlichkeit seit jeher eine große Scheu vor allen gerichtlichen Verhandlungen empfunden. Er rechnete und fand, daß er sämtlichen Verpflichtungen doch zur Not nachkommen könne, wenn er seinen ganzen Besitz einem Käufer überließ, der sich angeboten hatte. Die Familie seiner Frau und diese selbst widersetzten sich aufs heftigste. Sie gaben ihm alle möglichen Namen, mit denen man den Mangel an gesunden fünf Sinnen zu bezeichnen pflegt. Aber es nützte nichts: er blieb fest. Hinterlistige Machenschaften waren nun einmal gegen seine Natur, und aus dieser konnte er trotz aller Schwäche nicht herausgebracht werden. Er schloß also den Handel um so mehr ab, als ihm der Käufer eine kleine Wohnung im rückwärtigen Teil des Hauses zusicherte und ihn, da ihm doch alte Einzelheiten des Geschäftes bekannt waren, zum vorläufigen Leiter gegen einen allerdings geringen Monatslohn in seine Dienste nahm. Das war nun freilich ein Anlaß für die Frau, zu erklären, daß[113] sie unter solchen Umständen nicht länger bei ihm bleiben könne. Er war es auch ganz zufrieden und überließ ihr das Heiratsgut, das ja noch immer nicht ausbezahlt worden war. Sie aber ging zu ihrem Freunde, dem Grinzinger Weingärtenbesitzer, um ihm, dem Unbeweibten, die Wirtschaft zu führen.

So eng und dürftig sich jetzt auch die Verhältnisse Schirmers gestalteten, er fühlte sich doch zum erstenmal im Leben glücklich. Denn er war jeder persönlichen Sorge ledig und hatte nur darüber zu wachen, daß sich die Arbeiten im Geschäfte ordentlich vollzogen. Und da war es merkwürdig, wie wohltätig die Erfüllung einer einfachen, aber bestimmten Pflicht auf den wenig umsichtigen Mann wirkte. Was er in seiner Jugend, träg und zerstreut, wie er gewesen, nur mißmutig getan, dem kam er jetzt mit Lust und Liebe nach. Er kannte zu dieser Zeit kein besseres Vergnügen, als auf dem Holzplatze oder am Kanalufer zu stehen, das Ab- und Aufladen genau zu überwachen und oft genug selbst mit Hand anzulegen. Die Arbeitsleute, die ihn, solang er noch der Herr war, mehr oder minder über die Achsel angesehen, bekamen jetzt Respekt vor ihm. Sie fanden es schön, daß er sich so willig selbst zur Arbeit herbeiließ, und fühlten eine Art ehrfürchtigen Mitleids mit ihm. So war auch der neue Besitzer mit ihm zufrieden und war froh, ihn zur Hand zu haben. Er aber lebte gleichfalls in Zufriedenheit seine Tage hin, stand frühmorgens auf, nahm seine schlichten Mahlzeiten in dem nahen Strandwirtshause »Zum König von Bayern« und ging früh zu Bett, um den Schlaf des Gerechten zu schlafen.

So verstrich Jahr um Jahr, und er würde sich kein anderes Los gewünscht haben, wenn sich nicht körperliche Leiden eingestellt hätten. Seine Gesundheit, ob er auch seit jeher, wie ihm immer gesagt wurde, vortrefflich aussah, war niemals eine sehr feste gewesen. Er hatte immer zu Erkältungen geneigt, und seit er nun fast den ganzen Tag bei jedem Wetter im Freien zubringen mußte, wurde er mehr und mehr von Katarrhen[114] und rheumatischen Schmerzen befallen. Auch hatte er sich, als er beim Heben eines sehr schweren abgeholzten Stammes mithalf, einen Schaden am Leibe zugezogen, den er, indolent, wie er war, anfänglich nicht beachtete. Nach und nach aber wurden die Beschwerden immer größer, und der endlich zu Rate gezogene Arzt konnte ihm nur mehr Vermeidung jeder körperlichen Anstrengung verordnen. Das war nun leichter gesagt als getan, und so schleppte er sich mit dem stetig zunehmenden Übel mühselig dahin. Eines Morgens aber konnte er nicht mehr aufstehen. Sein linkes Bein war während der Nacht plötzlich von einer heftigen Ischias ergriffen worden, die ihn wochenlang ans Bett fesselte. Halbwegs genesen, vermochte er nur mit Hilfe eines Stockes zu gehen, und das erste feuchtkalte Herbstwetter warf ihn nochmals danieder. An fernere Dienstleistung war also nicht zu denken; jeder andere Brotherr als der seine würde ihn entlassen haben. Dieser aber empfand Mitleid und beließ dem gealterten Mann Wohnung und Gehalt, ohne weitere Anforderungen an ihn zu stellen. Die inzwischen herangewachsenen Kinder jedoch begannen den Alten, der hier das Gnadenbrot aß, mit scheelen Augen zu betrachten. Vor allen der älteste Sohn, der einst das Geschäft zu übernehmen hatte. Er stellte dem Vater vor, daß es mit dem Schirmer nicht so weitergehen könne. Das Hinterhaus, in dem er wohnte, sei aufs äußerste baufällig und erheische dringend umfassende Reparaturen oder wäre noch besser durch einen den Verhältnissen entsprechenden Neubau zu ersetzen. Man solle also trachten, den Alten in einer Bürgerversorgung unterzubringen, worauf er ja vollen Anspruch habe. Er erhalte dann auch das normalmäßige Pfründnergeld, und so könne er seine Tage in Ruhe beschließen.

Das alles mußte sich Schirmer selbst sagen und erhob keinen Einspruch, als ihm sein Herr eines Tages mitteilte, er habe für ihn die Aufnahme in das Armenhaus der Gemeinde erwirkt. Er machte sich bereit, seine alte Heimstätte zu verlassen, und[115] schied von ihr ohne besonderes Herzweh. Denn in dem Hause am Donaustrande, das einst sein Großvater erbaut, an den er sich, wie an seinen Vater, kaum mehr erinnerte, hatte er ja nur Schlimmes und Trauriges erlebt. Und bei seiner Gemüts- und Sinnesart würde er sich auch in der Versorgung ganz zufrieden gefühlt haben, wenn er dort abseits von den anderen Mitbewohnern hätte hausen können. Aber das gab's eben nicht. Denn selbst das Herrenzimmer im ersten Stockwerk, wohin man ihn aus besonderer Rücksichtnahme versetzt hatte, war für vier Insassen bestimmt. Er mußte also mit noch drei anderen beisammen sein. Und diese drei Kumpane waren derart, daß sie ihm das bißchen Daseinsgefühl gründlich verleideten. Sämtlich aus guten Bürgerfamilien stammend, hatten sie es durch Leichtsinn so weit gebracht, daß sie ihre ererbten Geschäftsbesitze gründlich vertan hatten. Mit verschiedenen späteren Unternehmungen hatten sie, nicht sehr bedenklich in der Wahl der Mittel, ihr Dasein zur Not weiter gefristet, bis sie endlich, auf Namen und Verdienste ihrer Vorvorderen pochend, in den Hafen der Versorgung eingelaufen waren. Diese geriebenen Leute hatten sehr bald erkannt, daß ihr neuer Genosse im Grunde des Herzens schwach und furchtsam war, und betrachteten ihn als willkommene Beute ihrer niedrigen Gesinnungen. Sie waren roh und herrisch gegen ihn, legten ihm allerlei auf, wozu er keineswegs verpflichtet war, und nahmen ihm bei erzwungenem Kartenspiel sein Geld ab. Auch sonst schikanierten sie ihn in jeder Weise. Besonders durch rücksichtsloses und boshaftes Bewerkstelligen von Zugluft, gegen die der an Rheumatismus Leidende ungemein empfindlich war.

Das Haupt dieses Dreibundes war ein alter hagerer Wiener »Biz« mit einem frechen Gesicht und dünnen, an den Schläfen nach vorn gestrichenen grauen Haaren, der einst im Orte ein großes, sehr gut besuchtes Kaffeehaus besessen hatte. Auf diese Vergangenheit war Herr Weißeneder noch immer sehr stolz, wobei er jedoch vergaß, daß er später als Kognak- und Zigarrenagent[116] verschiedener Unredlichkeiten halber einige Monate im »grauen Hause« gesessen hatte. Trotzdem war er jetzt als Ältester Stubenvater, eine Würde, die er mit großtuerischem Wesen ausnützte. Da er mit einer Venenerweiterung an den Beinen behaftet war, so blieb er meist den ganzen Vormittag im Bette, wobei er Schirmer alle möglichen Handreichungen auferlegte. Nachmittags aber suchte er seine Freundin in der Weiberabteilung auf. Diese Freundin, namens Leontine Hanstein, wurde allgemein nur die Professorstochter genannt. Ihr Vater hatte im Laufe der vierziger Jahre ein Knabenpensionat unterhalten, das sich eines sehr guten Rufes erfreute. Die anmutige Lage des Ortes, das Haus mit großem Garten, in dem es sich befand, bewog wohlhabende Eltern in der Provinz, ihre Söhne auf die Dauer der Lernzeit dort unterzubringen. Herr Hanstein verdiente also ein hübsches Stück Geld, und als er als Witwer starb, fand sich auch ein nicht ganz unbeträchtliches Vermögen vor. Die Tochter aber, sein einziges Kind, brauchte es in ganz kurzer Zeit auf. Denn sie war vergnügungs-und gefallsüchtig und stets bemüht, ihrer zweifelhaften Schönheit durch ungemessenen Putz aufzuhelfen. Sie ließ sich in törichte Liebeshändel ein, die immer im Sand verliefen, bis sie endlich ein unternehmender Heiratsschwindler um den Rest ihrer Habe brachte. Nun war guter Rat teuer, und die alternde Kokette mußte mit ihren nicht ungeschickten Händen zu erwerben trachten. Sie erhielt Arbeit in einem Damenmodegeschäft. Aber sie blieb nicht lang bei der Stange und geriet mehr und mehr auf unsaubere Abwege, bis sie endlich, körperlich gebrochen und wirklich erwerbsunfähig, hier unterkriechen konnte. Aber eine Liebesnärrin, wie sie war, wollte sie noch immer gefallen und suchte sich mit gefärbten Haaren und falschen Zähnen den Anschein von Jugendlichkeit zu geben. Herr Weißeneder benützte diese Schwäche und spielte sich als Liebhaber auf, um sie zu allerlei Unterhaltungen führen zu können, wobei sie ihn natürlich freihalten mußte. Denn sie setzte auch in der Versorgung das[117] langbetriebene Geschäft des Schreibens von Bettelbriefen fort, die meist an ehemalige, jetzt in hervorragenden Lebensstellungen befindliche Schüler ihres Vaters gerichtet waren und nicht seiten ganz erkleckliche Unterstützungen eintrugen. Den Schirmer aber haßte sie, weil er ihr die Huldigung, die sie von jedem neuen Ankömmling im Herrenzimmer erwartete, nicht dargebracht hatte.

So war denn im ganzen Hause keine Seele, die dem Ärmsten wohlwollte; die alten Leute, die unten in der gemeinsamen Männerabteilung zusammengepfercht waren, hatten ja auch nur scheele Blicke für die bevorzugten Oberen. Nun aber war plötzlich ein Sonnenstrahl in das öde Dunkel seines Daseins gefallen. Frau Weigel, die Rosi, war mit ihm unter einem Dache. Nun hatte er jemand, mit dem er einmal vom Herzen weg reden konnte. Und er würde jetzt täglich das liebe gute Gesicht erblicken, das sich im Laufe der Jahre trotz Not und Krankheit nur wenig verändert hatte. Ein Gefühl aus der Zeit, da er mit ihr zusammen gewesen, überkam ihn. Es war wie ein Hauch der Jugend, der ihn anwehte, und leichter und schneller als sonst stieg er die Treppe zum Herrenzimmer empor, wo ihn, während Herr Weißeneder noch im Bette lag, die beiden anderen Kumpane schon zum Tarock erwarteten. Da er an Rosi dachte, spielte er noch schlechter als sonst und verlor zwei Sechser. Aber er war dabei ganz wohlgemut und fragte Herrn Weißeneder, als dieser endlich Anstalten machte, sich vom Lager zu erheben, ob er ihm nicht irgendwie behilflich sein könne.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 108-118.
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