V.

[94] Das Diner hatte knapp vor Ostern stattgefunden. Die Saison ging somit zu Ende, und die gesellschaftlichen Beziehungen lockerten sich, bis sie schließlich der Sommer gänzlich auflöste. Erst der November führte das mehr oder minder weit getrennt Gewesene allmählich wieder zusammen und die »jours« traten in ihr Recht.

So konnte auch ich nicht umhin, mich bei dem der Dame des Hauses einzufinden, wo ich an jenem Abend geladen war. Eintretend, fand ich das Empfangsboudoir fast leer, nur eine Dame saß neben der Hausfrau auf dem Sofa. Zu meiner Überraschung war es die, welche mir damals so viel zu denken gegeben. Es war kaum die gegenseitige Vorstellung erfolgt, als in einer etwas auffallenden Besuchstoilette die schöne Schauspielerin hereintrat.[94] Ja, sie war noch immer schön, obgleich ein Vierteljahrhundert über ihre Blütezeit dahingegangen und sie selbst einigermaßen korpulent geworden war. In das ältere Fach übergetreten, zeigte sie ihr Talent von einer ganz neuen Seite und entzückte wieder das Publikum, das sich ihr schon ein wenig entfremdet hatte. Wir begrüßten einander als alte Bekannte, die sich schon lange nicht mehr gesehen hatten, und bei ihrer lebhaften, humoristischen Art brachte sie sogleich ein allgemein anregendes Gespräch in Fluß. Nur die junge blonde Frau verhielt sich dabei ziemlich teilnahmslos. Nach einer Weile erhob und verabschiedete sie sich.

Sobald sie draußen war, sagte die Schauspielerin: »Mein Gott, was hat denn das liebe Frauchen? Sie ist ja kaum mehr zu erkennen. Vor einem halben Jahr traf ich sie noch blühend und strahlend in einer Soiree bei Weikers. Ist sie vielleicht leidend?«

Auch mir war es aufgefallen. Die Hausfrau aber rückte etwas verlegen auf ihrem Sitze hin und her. »Sie wissen also nichts?« erwiderte sie nach einer Pause.

»Nicht das geringste. Wir Komödianten leben ja eigentlich doch nur in unserer Kulissenwelt.«

»Auch Ihnen ist nichts bekannt?« wandte sich die Hausfrau an mich.

Ich verneinte.

»Merkwürdig. Es wird doch überall davon gesprochen, und so ist es wohl keine Indiskretion, wenn ich Ihnen die Sache mitteile. Die junge Frau hat sich nämlich scheiden lassen, um den genialen Ästheten zu heiraten, der seit ein paar Jahren eine so große Rolle in der Gesellschaft gespielt. Sie kennen ihn ja beide?«

Wir stimmten zu.

»Nun aber hat es der Herr für gut befunden, zurückzutreten und nach London abzureisen. Welch ein Schlag das für die Ärmste war, können Sie sich denken. Mir selbst ist die Affäre[95] auch deshalb peinlich, weil sie sich in meinem Hause angesponnen hat.«

»Ach Gott!« sagte die Schauspielerin. »Man darf derlei nicht zu tragisch nehmen. Die Frau ist ja noch so jung – sie wird sich schon wieder zurecht finden.«

»Das hoff' ich auch«, erwiderte die Dame des Hauses. »Übrigens hatte die Absicht, sich scheiden zu lassen, schon lange vorher bei ihr bestanden. Denn der Baron ist ein ganz unwürdiger Mensch. Ein Spieler, der das kleine Gut, das er besitzt, schon dreifach überschuldet hat. So reizend sie als Mädchen war, hat er sie doch nur ihres Geldes wegen geheiratet. Denn ihr Vater, der verstorbene Hofrat, hat ein sehr bedeutendes Vermögen hinterlassen.«

»Ja, die jungen Mädchen!« sagte die Schauspielerin. »Die springen nur so in die Ehe hinein. Und nun gar mit der Aussicht auf eine siebenzackige Krone im Trousseau.«

»Da irren Sie sich. So oberflächlich war sie nicht, daß sie sich durch Titel ködern ließ. Es wirkten ganz andere Umstände mit. Sie hatte sich im elterlichen Hause sehr unglücklich gefühlt. Denn ihre Mutter hegte seit jeher eine ganz unbegreifliche Abneigung gegen sie, unter der sie sehr litt. Der Baron war ein Bekannter ihres um zwölf Jahre älteren Bruders – und da hatte sie sich entschlossen.«

»Lebt ihre Mutter noch?« fragte ich.

»Kennen Sie sie?«

»Vor vielen Jahren bin ich flüchtig mit ihr zusammengetroffen.«

»Sie kennen Sie also nicht näher. Eine ganz merkwürdige Frau. Sie war nie schön, aber höchst interessant. Dabei eine stolze, herrische Natur. Sie soll einst sehr leidenschaftlich gewesen sein – mir aber hat sie stets den Eindruck großer, fast eisiger Kälte gemacht. Jetzt ist sie – schon seit zwei Jahren schwer krank. Eine Gesellschafterin und zwei Pflegerinnen sind[96] um sie. Ihre beiden Kinder – auch der Sohn ist verheiratet – läßt sie nur selten vor sich.«

»Wer weiß, wie das alles zusammenhängt«, bemerkte die Schauspielerin obenhin.

»Das ist eben ein Rätsel. Was aber die Tochter betrifft, so kann ich nur sagen, daß sie ein ganz wundervoller Charakter ist. Sie hat mir soeben anvertraut, daß sie dem Baron ihren fünfjährigen Knaben ein für allemal abgekauft hat. Das heißt: gegen so und soviel verzichtet er auf seine Vaterrechte. Sie mußte dabei schwere Geldopfer bringen, aber das Kind bleibt ihr bis zur Großjährigkeit erhalten. Sich ganz seiner Erziehung zu widmen, betrachtet sie jetzt als Lebensaufgabe. Sie heiratet gewiß nicht wieder. Und im übrigen wird sie auf dem Gebiete der Frauenfrage und der öffentlichen Wohltätigkeit einen angemessenen Wirkungskreis zu finden trachten.«

Zwei neue Besuche traten ein, das Gespräch unterbrechend ....[97]

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 94-98.
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