6.

[17] Aber so klein du auch warst, so eng umschlossen, mein altes

Trauliches Wien: es ging Großes aus dir doch hervor!

Alles, was heute verklärt aufragt in Erz und in Marmor,

Redend als Denkmal zum Volk, lebte und wirkte in dir.

Bargen die schützenden Wälle, die alten, schlichten Paläste

Denn nicht Oesterreichs Ruhm? Oesterreichs Liebe und Stolz?

Fuhr Maria Theresia nicht mit Lust durch die Straßen,

Die ihr erleuchteter Sohn oft als ein Bürger besucht?[18]

Waren nicht heimisch in ihnen die Sieger von Zentha und Aspern,

Denen als dritter zuletzt der von Novara gefolgt?

Wie? Und schufen in ärmlichsten Häusern nicht Haydn und Mozart?

Nicht Beethoven und schritt mächtigen Hauptes einher?

Klangen im engeren Weichbild zuerst nicht die Lieder von Schubert,

Dessen behäbiger Sinn nie sich in's Weite verlangt?

Und Grillparzer? Empfing er die Weihe der tragischen Muse

Nicht im Bann der Bastei, die er stets einsam betrat?

Blickte mit schalkischem Aug' nicht Bauernfeld auf die Phäaken,

Während in Raimund's Gemüth still der »Verschwender« entstand,

Lenau's melodische Schwermuth die Herzen ergriff und entzückte –

Und Grün's Lerchengesang schmetterte über der Stadt?![19]

Scheltet mir nimmer Altwien, Ihr Neuern, und lasset euch sagen:

War es ein Capua auch, war es doch keines des Geists.


Quelle:
Ferdinand von Saar: Wiener Elegien, Heidelberg 1893, S. 17-20.
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