§. 2. Windmärchen.

[108] Warum der Wind vom Meere her weht.

Bey Erschaffung der Welt war der Wind schon persönlich auf der Welt und hatte auch eine Frau. Beyde waren aber sehr dick, und der Mann hatte überdieß einen Bart so groß, daß er dreymal um den dicken Leib herumging. Ungeachtet dieser Dicke konnten sie durch jeden Spalt, jedes noch so kleine Loch mit grosser Leichtigkeit hindurch. Doch müssen sie schon lange auf der Welt gewesen seyn, weil es zu ihrer Zeit, wie jetzt, Grafen, Fürsten und Könige gab.

Nun lebte auch ein Graf, der konnte den Wind nicht leiden und äusserte sich oft sehr beleidigend über denselben. Eines Tages ging er in seinem Walde spazieren, und wie er so ging, kam ihm ein altes dickes Weib in den Weg. Als der Graf ihrer ansichtig wurde, frug er sie: »Wer bist du, woher kommst du, wohin gehst du, warum bist du so dick?« Das Weib erwiderte: »Ich bin die Windin, welche du nicht leiden kannst.« »Wo hast du deinen Mann?« frug der Graf weiter. »Den sollst du gleich sehen!« war die Antwort. Dabey hub sie zu blasen an und führte den Grafen in einem Augenblicke zu dem gläsernen Berge, wo sie ihn niedersetzte und warten hieß. Dann schlof sie zu einer Spalte des Berges hinein, und nicht lange, so kam ein ungeheuer dicker Mann heraus, mit einem Barte, der dreymal um den dicken Leib herumging. Dieser näherte[109] sich dem Grafen und sprach zu ihm: »Kennst du jetzt den Wind, über den du so oft geschmäht hast?« – und schlug ihn dann mit einer Ruthe, worauf der Graf sogleich in Stein verwandelt war. Doch sah und hörte er auch als Stein Alles, was um ihn her vorging und in dem gläsernen Berge geschah. Jeden Tag sah er Leute aus allen Ständen ankommen und zu Stein werden; er erfuhr auch, daß diese Steine zehn Jahre so stehen mußten und daß nach dieser Zeit die Vornehmen gebraten, die Geringen gesotten wurden, worüber er in grosse Angst gerieth.

So waren zwey Jahre vergangen. Da gedachte er, wie heute sein Geburtstag sey und daß seine treue Gattin, wenn sie um sein Loos wüßte, gewiß Alles aufbieten würde, ihn zu befreyen. Kaum hatte er es gedacht, so kam ein sonderbarer Vogel, den er noch nie gesehen, setzte sich auf seinen Kopf und ließ aus dem Schnabel einen Ring, den Ehering seiner Gattin, und ein Zettelchen fallen. Sogleich stand der Graf in seiner menschlichen Gestalt da und las, daß er sich sofort aufmachen, und dem Vogel folgen solle, wohin er immer fliege. – Der Vogel flog und der Graf ging ihm nach und kam vor ein Schloß, das ganz voll Feuer war. Der Vogel flog mitten in das Feuer hinein, der Graf aber getraute sich nicht, ihm dahin zu folgen und blieb aussen stehen. Nach einiger Zeit kam ein reichgeschmückter Fürst heraus, nahm den Grafen bey der Hand und führte ihn unversehrt mitten durch die Flammen in einen prächtigen Saal, in welchem gleichfalls[110] eine Menge steinerner Figuren standen. Da sagte der Fürst: »Weißt du, ich habe dich erlöst und aus der Gewalt des Windes gerettet; denn es wäre dir sonst ergangen wie Allen anderen, welche am gläsernen Berge versteinert stehen. Ich war wie du in Stein verwandelt, bin aber nun befreyt durch den Feuergeist. Siehst du diese Gestalt von Stein – und damit deutete er auf eine Bildsäule hin – es ist ein verwandelter König: ihn wird der Wassergeist erlösen.«

Kaum hatte er diese Worte vollendet, so kam ein Vogel geflogen, ein Zettelchen im Schnabel, und setzte sich auf den Kopf des Steinbildes, und sogleich fing dieses sich zu rühren an und bald stand der König vor den Beyden da.

Auf dem Zettel aber stand geschrieben, daß Jeder von den Dreyen einen Wunsch thun könne, nach der Grösse der drey Stücke, in welche sie den Zettel zerreissen sollten. Da wünschte sich der Graf so dick zu werden als er wolle, und der Fürst, so weit zu sehen als er wolle, und der König, so hoch zu werden, daß er bis an die Sterne reiche.

Nun führte sie der Fürst, der so weit sehen konnte, durch einen unterirdischen Gang hinaus und bemerkte draussen in gläsernen Berge Schaaren von Bewaffneten, an der Spitze den Wind, am Ende die Windin, und wie er in die Höhe schaute, erblickte er eine Unzahl bewaffneter Vögel. Da machte sich der König so lang, als er es brauchte und holte die Vögel, einen um den anderen, herunter, und die beyden Anderen erschlugen sie.[111]

Der Fürst aber sah nun wieder, wie der Wind mit seinem Heere den gläsernen Berg verließ und gegen sie anzog. Und es ward den Dreyen recht bang um ihr Leben: denn es fehlte nicht viel mehr auf eilf Uhr Nachts, und wenn diese geschlagen, wußten sie, daß der Wind über sie Gewalt habe.

Da machte sich der Dritte so dick als er es vermochte und that den Mund weit auf, und der Wind und sein Heer und die Windin zogen alle in den Mund hinein, und wie die Windin eingezogen war, rief der, welcher so weit sah: »den Mund zu!« und der Graf schloß den Mund und hatte nun Wind und Heer und Windin in seinem Leibe, so daß ihm ganz übel wurde. Der aber, welcher so weit sah, führte ihn an das Meer und hieß ihn niederknien und Alles, was seinen Magen so sehr beschwerte, in das Meer speyen. – Und er that so, und Wind und Heer und Windin versanken im Meere. Seit dieser Zeit ist das Meer so unruhig und kommen alle Winde vom Meere her. Tiefenbach.

Quelle:
Franz Schönwerth: Aus der Oberpfalz. Sitten und Sagen 1–3, Band 2, Augsburg 1857/58/59, S. 108-112.
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