939. Die unverwesliche Hand.

[11] Schillers Volkskalender »der Sickinger Bote« für 1853. – Eisenberg bei Grünstädt.


In grauen Zeiten geriethen zwei Waldbesitzer über die Grenzen ihrer an einander stoßenden Wälder in heftigen Streit. Da es aus Mangel an deutlichen Kennzeichen nicht zu erweisen war, wie ursprünglich die Grenze lief, so mußte das Gericht auf die Aussage eines Försters hin entscheiden, der behauptete, die nöthige Auskunft geben zu können, und von beiden Parteien als unparteiischer Zeuge anerkannt wurde. Aber der Gewissenlose war von demjenigen gewonnen, der seinen Wald auf Kosten des andern erweitern wollte. Nachdem er geschworen hatte, genau berichten zu wollen, wie vormals die Grenze gezogen, beschrieb er eine Linie, welche Demjenigen, der ihn bestochen hatte, ungeheuern Gewinn brachte. Das Gericht urtheilte auf seine Angaben hin, und aller Widerspruch dessen, der im Schaden war, half nichts. Zwar entging der Förster hernach dem menschlichen Richter, aber die Strafe erreichte ihn dennoch. Als er gestorben, in's Grab gesenkt und mit Erde bedeckt war, zerbarsten mit großem Gekrache die Bretter seines Sarges, und wie vom heftigsten Donnerschlage erschreckt, fuhr die Leichenbegleitung zusammen. Aber noch heftiger er schrak dieselbe, als plötzlich der Boden klaffte und die Hand des Todten schnell in die Höhe fuhr. Man drückte sie nun nach der ersten Bestürzung wieder in das Grab zurück, um sie mit Erde zu bedecken, aber umsonst. Da sie sich zu einem falschen Schwure erhoben hatte, so fand sie im Grabe, das sie immer wieder ausspie, keine Ruhe. Da erkannte man[11] das Gericht Gottes an dem Meineidigen und löste die Hand zum ewigen Andenken ab. Unverweslich, wie sie ist, wird sie wohl noch heute in der Kirche zu Eisenberg gezeigt. Erzähler wenigstens hat sie mit eigenen Augen gesehen.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 11-12.
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