375. Der beleidigte Storch.

[374] Bensen a.a.O. S. 88.


Als das Rathhaus mit seinem hohen schlanken Thurme fertig war, fand sich auch bald ein Paar Störche ein, das sich auf der Spitze ein Nest erbaute; denn von dieser Höhe aus ließ es sich gar gut in die weite Luft hinausschwingen. Wenn nun der eine Wächter hinaus auf des Thurmes Steinkranz stieg, um in die Gegend nach Feinden und Gefahren zu schauen, so hatte er stets seine Freude an den Thieren. Des andern Wächters schlimmes Weib aber, die mit ihm zu oberst auf dem Thurme wohnte, verdroß die Unreinlichkeit der Vögel gar sehr, und wie sie erst Junge ausgebrütet hatten, die zuweilen eine halbe Schlange oder Kröte auf dem Kranz fallen ließen, da reizte sie ihren Mann an, die jungen Thiere hinabzustoßen. Alsbald kam der alte Storch mit einem Feuerbrand im Schnabel geflogen, den er in sein Nest warf. Das Feuer fiel vom Nest herab auf den Thurm und das dürre Holzwerk gerieth schnell in Flammen. Der böse Wächter vermochte nicht zu entrinnen und verbrannte sammt seinem Weibe; der fromme hingegen stieg auf eines der alten Steinbilder hinaus, die man noch sieht, und rettete mit Mühe sein Leben. Das Innere des Thurmes brannte gänzlich aus, doch erhielten sich die festgefügten Mauern bis auf den Steinkranz, an dessen Stelle ein eiserner kam.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 374-375.
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