134. Die weiße Taube.

[106] Oberhalb Dörrigsen liegt das sog. Enge Thal. Eines Abends kommen zwei Holzhauer aus dem Walde zurück, wo sie Holz gehauen haben. Als sie unter dem Engen Thale herauskommen, hören sie eine Stimme rufen: »Hülfe! Hülfe!« Sie gehen zu der Stelle, woher die Stimme kommt, und sehen da auf einem Baume eine weiße Taube sitzen. Nun fliegt diese zu einem einsamen Orte fort. Doch da ihr die Männer nicht dahin folgen, so kommt sie zurück, ruft wieder: Hülfe! Hülfe! und fliegt dann wieder nach dem einsamen Orte. Jetzt folgen ihr die beiden Männer und kommen zu einer Höhle. Hier liegt ein Schlüssel; zu diesem fliegt die Taube hin und nickt ihnen zu, sie möchten ihn nehmen. Sie thun dieß auch und schließen damit eine eiserne Thür in der Höhle auf. Vorher hatte ihnen die Taube noch gesagt, sie möchten, wenn sie zurückkämen, ja den Schlüssel nicht vergessen, sonst käme ein großer schwarzer Hund und zerrisse sie. Nachdem sie die Thür aufgeschlossen haben, kommen sie in ein Gewölbe (grûbe); darin steht eine Tonne mit Geld. Sie stecken davon ein, so viel sie nur tragen können, und gehn dann zurück. Als sie wieder vor die Thür kommen, haben sie den Schlüssel verloren und können nicht heraus. Da kommt auch der große schwarze Hund an und will den einen »fassen«. Dieser nimmt seine Axt und schlägt damit auf ihn los, so daß er zurückweicht. Während der Zeit hatte der andere den Schlüssel gesucht und auch glücklich gefunden. So kamen sie mit dem Gelde heraus. Einige Tage darauf kommen wieder Leute desselben Weges, und jene beiden sind auch dabei. Da hören sie wieder die Stimme der weißen Taube, die um Hülfe ruft. Die beiden gehn abermals zu der Stelle hin und finden[106] wieder die weiße Taube auf einem Baume sitzend. Dieß Mal aber hat sie ein Schwert; damit schlägt sie auf die beiden zu und hätte bald dem einen ein Bein abgehauen. Da liefen sie weg und gingen nachher auch nicht wieder dahin, wenn die Stimme rief.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 106-107.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.