Sechster Auftritt


[55] Rübezahl. Rüffel. Raxer. Drei Touristen.


ZWEITER TOURIST. Sie entschuldigen, meine Herren! Wissen Sie, ob hier in der Nähe ein Wirtshaus ist?

RÜFFEL. Setzen Sie sich, meine Herren! Benutzen wir den toten Esel als Fusswärmer! Er wirft den Esel mit dem Kopf nach vorn vor den Schlitten und setzt sich neben Rübezahl auf die grosse Leiter – doch so, dass Rübezahl der Lampenreihe zunächst sitzt. Der zweite Tourist setzt sich neben Raxer auf die kleine Leiter, der dritte Tourist auf den Schlitten neben den ersten Touristen.

RÜBEZAHL. Raxer, gib uns einen Kognak


Raxer schenkt im Folgenden öfters in kleine silberne Becher Kognak ein – und gibt mal diesem und mal jenem.


RÜFFEL. Jetzt sehe ich auch in die Zukunft.[55]

RÜBEZAHL. Was siehst Du?

RÜFFEL. Ich sehe, dass Rübezahl auch den Geschmack an den besseren Menschen verlieren wird.

DRITTER TOURIST. Ah, wir habens mit Herrn Rübezahl zu tun?

ZWEITER TOURIST. Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen, Herr Rübezahl!

RÜBEZAHL. Ich möchte mich auch freuen, Sie kennen zu lernen.

ZWEITER TOURIST. Dürfen wir unsre Namen..

RÜBEZAHL. Behalten Sie nur Ihre Namen. Sagen Sie lieber, ob Sie ihr Leben sehr hoch schätzen – oder nicht.

DRITTER TOURIST. Sehr drollige Frage! Na – ich führe schon seit vielen Jahren ein Leben, in dem ich immerzu den Tod sehe – überall. Und was ich tue, tu ich mit dem Messer am Halse. Und dem entsprechend bemerke ich überall nur Wutkrämpfe. Und so, wie's auf der Erde ist, ist es auch in der ganzen, unendlichen Welt.

ZWEITER TOURIST. Und das mal ich – das ist die neue Kunst.

ERSTER TOURIST. Da haben Sies, Herr Rübezahl! Wir leben alle in den Armen des Todes, sollen wir da das Leben sehr hochschätzen?

ZWEITER TOURIST. Das wäre beinahe leichtsinnig, deswegen möchten wir auch – Räuber werden.

DRITTER TOURIST. Jawohl – denn es ist gleichgiltig, wie man lebt. Wesen, die immerzu mit Vernichtung bedroht werden, müssen naturgemäß auch zu Vernichtern werden.

RÜBEZAHL. Wut und Verzweiflung! Glauben Sie denn, dass das menschliche Leben nur deshalb so lächerliche und beängstigende Formen annimmt, um Sie und die Menschheit einfach zu Tode zu quälen?

DRITTER TOURIST. Ja – das glaube ich. Soweit ich sehe, finde ich das bestätigt.

ZWEITER TOURIST. Ich glaube, dass nur diejenigen, die geistig beschränkt sind, daran nicht glauben.

RÜFFEL. Wie unvorsichtig! Glauben kann man an Alles.[56]

RÜBEZAHL. Wir wollen nicht schimpfen. Hören Sie: nehmen Sie mal an, Sie befänden sich in Ihrer Haut sehr wohl – würden Sie da mal raus wollen? Würden Sie sich, wie man so sagt, um Gott und die Welt bekümmern? Nein! Sie würden bleiben, wo Sie sich wohl fühlen – in dem engen Kreise Ihrer kleinlichen Lebensverhältnisse. Und darum muss es Ihnen schlecht gehen in diesen kleinlichen Lebensverhältnissen, damit Sie rauskommen und grosse Lebensverhältnisse kennen lernen – in weiten, himmelgrossen Sternwelten – und in erhabenen Geisterwelten. Beide wären Ihnen verschlossen für ewig, wenns Ihnen ewig gut ginge in – Ihrer Haut.

DRITTER TOURIST. Sehr lustig! Sehr lustig!

ZWEITER TOURIST. Und der Tod? Was sagt der dazu?

RÜBEZAHL. Ja – Sie leben doch noch! Kümmern Sie sich doch nicht um den drohenden Tod. Drohen Sie wieder.

ERSTER TOURIST. Der Humor zieht nicht mehr – damit machen Sie nichts besser.

DRITTER TOURIST. Der Humor ist verletzend geworden.

RÜBEZAHL. Ja glauben Sie, dass die Todesangst nicht mit derselben Absicht wie alle anderen Uebel an Sie herantreten möchte? Sie sollen Ihren Blick von der Kleinlichkeit abkehren – Sie sollen weiter und grösser werden. Und dann! Was wissen Sie vom Tode? Sie können niemals beobachten, wie es ist, wenn Sie abends einschlafen – ist das nicht Zeichensprache genug? Glauben Sie, dass Sie empfinden werden, wie es ist, wenn Sie sterben? Sie sind rings von Wundern umgeben, und Ihr Leben ist so, dass es Sie blos immer wieder in andere grössere Kreise hinausdrängen soll. Ist das nicht so natürlich? Wenn plötzlich die Sterne des Himmels in irdischer Sprache, die Sie verstehen, zu reden begännen, dann würden Sie vor Staunen nicht zu atmen wagen. Aber – dass Sie schlafen können und träumen – ist das nicht ein noch viel grösseres Wunder? Wenn Sterne reden, so reden doch nur Lebewesen, die grösser sind als Sie. Wenn Sie aber schlafen und träumen – dann leben Sie plötzlich in Ihrem Leben noch gleich ein andres – ein noch viel grösseres Leben. Ist das nicht ein Ungeheuerliches für Sie? Ebenso gut[57] wie Sie sich vor dem Tode fürchten, ebensogut könnten Sie sich auch vor dem Schlafe fürchten. Die Todesfurcht ist eins der stärksten Mittel, Sie zu einem höheren, grösseren, gewaltigeren Lebensgenuss hinzureissen – Sie sollten also die Todesfurcht jedesmal mit Entzücken willkommen heissen.


Quelle:
Paul Scheerbart: Gesammelte Arbeiten für das Theater. Band 1, München 1977, S. 55-58.
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