Zweiter Akt


[83] Konferenzzimmer im Sternpalast.

Rechts eine weisse Wand und links eine weisse Wand – beide aber in der Mitte geteilt und so weit von einander gerückt, dass ein Durchgang entsteht.

Hinten auch eine weisse Wand, die fast dicht an die Seitenwände stösst.

[83] Die weissen Wände stehen immer rechtwinklig zu einander. Vorne links ein glatter niedriger Diwan mit kleinem runden Tonnentisch. Vorne rechts ein Himmelsglobus mit bunten Punkten und Linien und Figuren. Sieben kleine runde tonnenartige Stühle ohne Lehne. Hellgrüne Stoffbezüge mit silbernen Kometen an Tisch und Stuhl; auch die hellgrüne Diwandecke zeigt vorne silberne Kometen.

Auf dem Fussboden hellblaue Decke ohne Ornament wie im ersten Akt.

Die hintere Wand wird von hinten und von den Seiten durch Licht, das sich hinter farbigen Gläsern befindet, an einzelnen Stellen bunt gemacht, sodass rote blaue grüne oder andersfarbige Kreise Ringe und andere Farbenflecke entstehen; die Formen können stellenweise auch wolkenartig wirken, dürfen aber nichts Gesichtsartiges haben.

Auf den sieben Stühlen, die unregelmässig über das ganze Zimmer verteilt sind, stehen die sieben

Zylinder der Welträte, die beim Aufgehen des Vorhanges sämtlich ihre Handschuhe anziehen.

Die Okurirasûna sitzt in einen weiten gelben Mantel gehüllt auf dem Diwan in europäischer Manier; auf dem Mantel ist ein grosser himbeerroter Komet mit sieben Schweifen zu sehen.

Die Kopfbedeckung mit den sieben Ringen steht auf dem Diwantisch.


GRAF ABGRUND. Wir wünschen Euer Gnaden eine angenehme Siesta!


Die Herren ergreifen ihren Zylinder, drücken ihn mit beiden Händen an ihre Brust und verbeugen sich dabei vor der Weltgebieterin, die freundlich nickt. Während die Herren rechts abgehen, kommen von links Lekafolirâm und Mesmeimônio herein.


OKURIRASÛNA. Seid mir willkommen. Ich danke Euch, dass Ihr sofort gekommen seid. Setzt Euch.


Lekafolirâm setzt sich auf[84] einen Stuhl, Mesmeimônio auf eine Fussbank, die neben dem Diwan steht – sodass Mesmeimônios Kopf Okurirasûnas Knie berühren kann. Die Kleider von beiden wie im ersten Akt.


LEKAFOLIRÂM. Armes Kind!

OKURIRASÛNA. Warum Arm? Ich bin nicht zu bedauern. Ich bin sehr glücklich.

MESMEIMÔNIO. Ist das wahr? O, erzähle!

OKURIRASÛNA. Das kann ich garnicht so rasch erzählen. Es ist zu viel. Vor drei Tagen glaubte ich noch, dieser ganze Sternpalast sei blos ein grosses Tollhaus und meine Welträte seien veritable Herren. Aber nun haben mir meine Welträte drei Tage hindurch fast ohne Unterbrechung Vorträge gehalten – und jetzt bin ich einfach toll vor Begeisterung


Springt auf und geht herum.


LEKAFOLIRÂM. Armes Kind!

OKURIRASÛNA. Wie kannst Du mich nur immerfort bedauern? Lass das! Ich verstehe dich nicht. Mesmeimônio, höre blos auf mich.

MESMEIMÔNIO. Ich höre mit beiden Ohren. O, erzähle!

OKURIRASÛNA. Liebe liebe Freundin! Es ist zu viel! Sieh nur! da drüben die geheimnisvolle Wand – sie zeigt Dir ein Bild aus der vierten Zone, in der die traurigen Sterne sind, die lieber nicht leben möchten – oder vielmehr immer anders leben möchten.

MESMEIMÔNIO. Das sind also traurige Sterne? Wundervoll sehen sie aus. Wie schön müssen dann erst die heiteren Sterne sein!

OKURIRASÛNA. Ja! Ja! Die ganze Welt ist schön! Und wenn ich bedenke, dass ich jetzt dieser ganzen Welt – allen sieben Zonen – zu gebieten habe, dann begreife ich zuweilen, dass die Weltgebieterinnen wohl mal ihren Verstand verlieren können. Sie umarmt die Lekafolirâm, die gleich aufsteht. Meine liebe liebe Lekafolirâm! nenne Dich nicht arm und nenne mich auch nicht arm! Wir haben das herrlichste Glück genossen! Vergiss das nicht! Sei glücklich, dass Du mal der Welt gebieten durftest – allen diesen unzähligen Trillionen von Sternscharen![85] Solch ein Glück kann doch nicht ewig dauern – das kanns doch nicht! Genug, wenn wir's ein paar Jahrzehnte aushalten!

LEKAFOLIRÂM. Dass die Welt herrlich ist – das glaube ich schon. Dass ich aber damals, als ich Deine Rolle zu spielen hatte, der Welt gebieten durfte – das glaube ich nicht. Man hat mir, als ich daran zweifelte, gesagt, dass ich meinen Verstand verloren hätte. Nun – ich habe nichts davon gemerkt. Nur traurig bin ich geworden. Und frei reden darf man hier nicht – denn die Wände könnten Ohren haben.

OKURIRASÛNA. Wie meinst du das? Ich verstehe Dich nicht. Meinst Du, all die kolossalen Sternkarten und all die kolossalen Rechnungen und die weit ausschauenden Untersuchungen der astralen und kosmischen Verhältnisse, mit denen hunderte unsrer Beamten ihr Leben ausfüllen – diese grossen Dinge sollten blos zum Spasse da sein?

LEKAFOLIRÂM. Ich – weiss es nicht.

MESMEIMÔNIO. Die Okurirasûna ist doch zur Weltgebieterin erhoben worden – also ist sie's doch.

OKURIRASÛNA. Ich fühle, dass ichs bin – und das genügt mir.

LEKAFOLIRÂM. Armes Kind!

OKURIRASÛNA. Ich verbitte mir, dass Du mich so nennst. Sie setzt sich wieder auf ihren Diwan. Aber ich habe Euch rufen lassen, um Euern Rat zu hören. Haltet Ihrs nicht für richtig, dass ich jetzt vor die Völker unsrer Sonne trete und in einer gewaltigen Rede kurz und klar sage, wie ich mein Amt ausfüllen will? – Mein Amt als Weltgebieterin? Was meint Ihr?

MESMEIMÔNIO. Das musst Du tun.

LEKAFOLIRÂM. Das kannst Du tun.


Laut aufschluchzend.


OKURIRASÛNA. Flenn hier nicht! Ich verbitte mir das! Sie klingelt, und es erscheint ein rot gekleideter Diener mit Hörnern auf dem Kopfe. Hole mir den Grafen Abgrund her! Diener ab. Sieh, Mesmeimônio, die grünen Flecke da hinten an der Wand sind astrale Organe, mit denen es den Sternen möglich ist, alle Gedanken, die im Weltraume gedacht werden, sofort aufzunehmen. Mit diesen grünen Organen können die Sterne ohne Weiteres mit jeder Weltpartie mitleben – indem sie dasselbe[86] denken wie diese. Die Organe können, wenn sie auf unsere Centralsonne gerichtet sind, ohne Weiteres wissen, was ich denke und was Du denkst.

GRAF ABGRUND. Ich stehe zu Diensten.

OKURIRASÛNA. Ich danke Euch für Eure Bereitwilligkeit. Ich möchte vor die Völker unsres Sterns treten und in einer Rede sagen, wie ich mein Amt als Weltgebieterin zu verwalten gedenke. Darf ich die Rede halten?

GRAF ABGRUND. Da muss ich erst die andern Räte fragen.


Er klingelt, der rote Diener erscheint wieder, der Graf schreibt was auf einen Zettel und giebt ihn flüsternd dem Diener, der eilig verschwindet.


OKURIRASÛNA die aufgestanden ist und erregt umhergeht und sich Luft fächelt mit einem schwarzen Fächer. Ich danke Euch, Herr Graf.

GRAF ABGRUND. O, bitte! keine Ursache! Sehr gern geschehen. Darf ich Euer Gnaden allein sprechen?

OKURIRASÛNA. Gewiss!


Lekafolirâm und Mesmeimônio nahen ehrfürchtig der Okurirasûna, küssen ihr die Hand und gehen

links ab.


GRAF ABGRUND auf und abgehend, die Handschuhe ausziehend und seinen Zylinder bald auf den einen Stuhl und bald auf den andern legend. Das Wetter – ist heute – draussen – etwas neblig.

OKURIRASÛNA setzt sich wieder auf den Diwan. Wollt Ihr damit etwas Symbolisches sagen?

GRAF ABGRUND. O Du heilige – Okurirasûna! Wohl gibt es in der Welt einen grossen Rausch – einen Rausch, der grösser ist als alles Andre – in dem wir uns so viel einbilden können – dass schlechterdings das Diesseits und Jenseits der Welt vergeht – und Wir nur da sind – Wir – Wir – und alles Andre Nichts – tatsächlich Nichts ist. Versteht Ihr mich?

OKURIRASÛNA. Noch nicht ganz. Sprecht Ihr von Zuständen, die mir bekannt sein sollen – oder von Zuständen, die ich kennen lernen soll?

GRAF ABGRUND. Glaubt Ihr, dass man lenken kann, was man[87] noch nicht kennt?

OKURIRASÛNA. Wie soll ich das verstehen? Ihr kennt doch die Welt, und durch Euch kenne ich die Welt doch auch. Demnach ist sie mir doch bekannt, und folglich kann ich sie auch lenken.

GRAF ABGRUND. Seid Ihr auch ganz gewiss, das Ihr im Ernste den Spass und im vollkommensten Spasse die Ernstfalten zu allen Zeiten herausfindet?

OKURIRASÛNA. Das klingt ja so geheimnisvoll.


Der rote Diener bringt einen Brief, den der Graf gleich liest.


GRAF ABGRUND. Die geheimen Welträte erklären sich mit Eurer Rede einverstanden. Ihr könnt auf dem Weltbalkon vor die Völker unsrer Centralsonne hintreten und dort reden, so viel Euch beliebt.

OKURIRASÛNA drückt ihm die Hand. O, wie danke ich Euch! Wie danke ich Euch! Ich werds ganz kurz machen.

GRAF ABGRUND. Freut mich, zu hören! Jedenfalls werden übermorgen die gesamten Völker unsrer dunklen Sonne zusammengetrommelt sein. Aber –

OKURIRASÛNA. Nun? Was ist?

GRAF ABGRUND. Nehmt Ihr Euer Amt auch nicht zu ernst?

OKURIRASÛNA. Das kann doch nicht ernst genug genommen werden.

GRAF ABGRUND. Und wisst Ihr auch schon ganz genau, was Ihr eigentlich wollt? Ihr könntet uns in Ungelegenheit bringen, wenn Ihr nicht klar sprechen würdet. Es ist doch immer eine fatale Angelegenheit, gleich so die ganze Welt – verbessern zu wollen! Das wollt Ihr doch – nicht wahr?

OKURIRASÛNA mit starker Stimme. Herr Graf, ich weiss, was ich zu tun habe.

GRAF ABGRUND. Donnerwetter! Eine solche Weisheit ist ja noch garnicht dagewesen. Da gestattet gütigst, dass ich mir erlaube, Euch, Frau Weltgebieterin, einfach anzubeten – auf meinen Knieen!


Er stürzt vor ihr auf beide Kniee und faltet die Hände – sie lächelt.

Vorhang!
[88]

Quelle:
Paul Scheerbart: Gesammelte Arbeiten für das Theater. Band 1, München 1977, S. 83-89.
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