Die blaue Blume

Ein Hexenmärchen

[180] Feine weiße lange Finger kamen aus den Wolken raus und bewegten sich wie gefangene Aale.

Sepu, die junge Hexe, saß in ihrer dunkelgrünen Moosgrotte und ordnete ihre alten Steinbüchsen, in denen die vielen Zauberkräuter staken. Die Hexe hörte das Meer rauschen, denn es war ganz in der[180] Nähe und so lebhaft in Bewegung, wie die langen Finger, die aus den Wolken herauskamen.

Die Sepu ist eine kluge Hexesie hat nur ein einziges Zielsie will bloß die Menschen toll machenweiter will sie nichts.

Und es ist so klug, Alles in Einem zu sehen.

Die Finger in den Wolken werden zu Krallenzu sehnigen Krallensie zittern und bebenals ströme Lustsucht durch ihre Adern.

Die Sepu hat verschiedene blaue Blumen unter ihren Kräuternaber die alten blauen Blumen sind alle vertrocknet und nicht mehr scharf genug. Mit so trockenem Kraut ist nicht viel auszurichtenbei den Menschen schon ganz und gar nicht, denn die haben sich allmählich derart an die verschiedenen Gifte gewöhnt, daß es den Hexen immer schwerer wird, zum Ziele zu kommen. Die Krallenfinger werden oben ganz steif.

»Es gibt trotzdem noch eine gute blaue Blumesagt die Hexe zu sich selbst, »und die hat doch immer die Menschen toll gemacht. Die blaue Blume reizt die Phantasie der Menschen so schrecklich auf, daß die armen Menschen immer Tolleres sehen und hören und schließlich glauben, sie sähen das Unsichtbare und vernähmen das Unhörbaredas Weltgeheimnis aus dem neuen Reichdas, was hinter Mond und Sternen in ganz andren Zaubergrotten thront. Mag's kosten, was es willdiese blaue Blume muß ich finden

Die Sehnenkraft in den Krallenfingern läßt nach.

Die Hexe weiß: es ist keine Kleinigkeit, die blaue Blume des Jenseits zu finden. Sie ist ganz dünn wie ein Zwirnsfaden und mit dem bloßen Auge nicht zu entdecken. Die seltsame Blume streut kleine, scharfe Stachelfädchen um sich. Und wo diese Stachelfädchen sind, da ist sie in der Nähetief im Erdreich verborgen; sie zieht sich tief ins Innre der Erde hinein, wenn was nahtläßt kaum ein Loch zurückso schlank ist sie.

Die Finger in den Wolken werden schlaff.

Oh, diese schlanke Wunderblume muß die Sepu habensie geht gleich suchenmit nacktem Leibedie Stachelfädchen will sie fühlenwenn's auch weh tun sollte. Das Tastgefühl des Leibes wird immer feiner. Die Sepu windet sich über die Dünenhügel und über die Steine am Strande des Meeres wie eine Schlangeund fühltmit dem ganzen Leibemit ungeheurer Aufmerksamkeit. Die Sepu sucht lange Zeit.[181]

Die Finger in den Wolken sind nicht mehr Krallen, sie sind so wie hängende tastende Fühlhörner. Die Finger suchen auch nach einem neuen Kitzel wie die Sepu.

Die Sepu sucht lange Zeit.

Plötzlich schreit sie aufein Stachelfädchen hat ihr das Knie geritztes tut wehBlut sickert in den Sand am Meeresstrande.

Aber die Sepu wird jetzt das Kraut, das den Menschen das Jenseits offenbaren soll, schon finden.

In den Wolken sieht die junge Hexe lauter Handteller mit ausgespreizten langen Fingern.

Die Sepu gräbt. Sie gräbt immer tiefer und noch tieferundfindet die blaue Blume.

Die blaue Blume ist wie ein Zwirnsfaden. Wenn sie sorgsam gestreichelt wird, faltet sie sich langsam auseinander und zeigt Blätter und Blütenaber sie muß sehr zart gestreichelt werden.

Der Himmel ist voller Fäuste.

Sepu läuft lachend über den Strand mit der blauen Blume des Jenseits.

Sepus Knie blutet noch immer.

Die Fäuste in den Wolken tun sich auf und lassen funkelnde Sterne herunterfallen.

Die Sterne haben alle nur denkbaren Farben und Formen. Die Sepu sieht's und nickt.

Hexengelächter!

Händegeklatsch!


Und dann kam die Stunde, in der ich Abschied nehmen sollte.

Der Pyramideninspektor flüsterte mir noch zu:

»Was jedem Schaf im Schlaf kommtkann doch nicht so erhebend seinwie das, was Andern in wilder Qual kommt

»Verachte Nichtssagte mir noch der Oberpriester, »je unwissender und dümmer Jemand istum so mehr steht ihm noch bevor

Und dann standen wir auf.

Und alle Nilpferdchen umarmten mich.

Da sie halb so groß als ich waren, kletterten sie alle zu diesem Zweck auf den Tisch.

Ich mußte lächelnaber die Aufmerksamkeit gegen mich war doch sehr fein.

[182] Indessenich weiß heute noch nicht, wie's kamjedenfalls erinnerte ich mich plötzlich an eine Geheimtasche, in der noch eine Geschichte stak.

Kurz und gut: ich holte sie vorund die Herren lasen sie, ohne vom Tische runterzuklettern.

Quelle:
Paul Scheerbart: Immer mutig! Frankfurt a.M. 1986, S. 180-183.
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