Der Haarproceß.

Im seidnen krausen braunen Haar,

Saß jüngst der Liebesgott,

Und trieb da übers Scheitelhaar,

Den freventlichsten Spott.


Er lachte überlaut und schrien:

»Seht diese Locken an,

Euch macht man krauß mit vieler Müh,

Hier hats Natur gethan.
[127]

Euch salbt man mit Pomaden ein

Kämmt, pudert euch erst schön,

Dies parfümirt sich ganz allein,

Und riecht zehnmal so schön.«


Das weiche braune Scheitelhaar

Lang gnung sanftmüthig, sprach:

»Prahl doch nicht so mit diesem Haar,

Und setz' so sehr uns nach.


Eh' Damon jens gesehn, berührt

Hatt' er uns längst geküßt,

Wer weis wenn wir ihn nicht geführt,

Ob er noch von dem wüßt.
[128]

Ihn reizte unsrer Locken Pracht,

Erbaut von Doris Hand

Von uns erst dreust und warm gemacht

Traf sichs, daß er jens fand.


Und kurz das Haar, das wie man glaubt

Am Sternenhimmel steht,

War von der Berenice Haupt

Nicht sonst wo abgemäht – – «


Jetzt ward das kurze Haar auch laut,

Und rief: »Ich muß gestehn

Wenn Doris eure Locken baut;

So findt euch jeder schön.
[129]

Ihr schmückt Ihr blühendes Gesicht,

Erhebt der Stirne Weiß,

Doch wenns Chignon recht glat gleich liegt

Machts doch das Blut nicht heiß.


Nur dann, wenn Kunst euch gar nicht zwingt,

Und wenn ihr schön verwirrt

Um Doris Hals und Stirn euch schlingt,

Und um den Busen irrt;


Dann sieht der Jüngling im Tapon

Mein reitzend Ebenbild:

Denkt an den weichen Wollustthron

Der bey ihm alles gilt.
[130]

Küßt euch denn zärtlich, nennt euch schön;

Denkt aber mich dabey,

Und wird, so bald er mich gesehn

Gewis euch ungtreu – – «


Als Richter sprach drauf Venus Sohn!

»Schweigt Zänker und hört mich:

Du kleines Haar, schmückst Venus Thron,

Vorzüglich liebt sie dich.


Ihr Scheitelhaare seyd mein Netz

In dem sich mancher fängt,

Der thöricht über mein Gesetz

Sich längst erhaben denkt.
[131]

In euren Schlingen führ ich ihn

Dann hin zu Venus Thron,

Und laß das Grottchen ihn beziehn;

Wo ich bei Psychen wohn.
[132]

Quelle:
[Johann Georg Scheffner]: Gedichte im Geschmack des Grecourt, Frankfurt; Leipzig 1771, S. 122-123,127-133.
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