Zehnter Auftritt

[678] Leicester allein zurückbleibend.


Ich lebe noch! Ich trag es, noch zu leben!

Stürzt dieses Dach nicht sein Gewicht auf mich!

Tut sich kein Schlund auf, das elendeste

Der Wesen zu verschlingen! Was hab ich

Verloren! Welche Perle warf ich hin!

Welch Glück der Himmel hab ich weggeschleudert!

– Sie geht dahin, ein schon verklärter Geist,

Und mir bleibt die Verzweiflung der Verdammten.

– Wo ist mein Vorsatz hin, mit dem ich kam,

Des Herzens Stimme fühllos zu ersticken?

Ihr fallend Haupt zu sehn mit unbewegten Blicken?

Weckt mir ihr Anblick die erstorbne Scham?

Muß sie im Tod mit Liebesbanden mich umstricken?[678]

– Verworfener, dir steht es nicht mehr an,

In zartem Mitleid weibisch hinzuschmelzen,

Der Liebe Glück liegt nicht auf deiner Bahn,

Mit einem ehrnen Harnisch angetan

Sei deine Brust, die Stirne sei ein Felsen!

Willst du den Preis der Schandtat nicht verlieren,

Dreist mußt du sie behaupten und vollführen!

Verstumme Mitleid, Augen, werdet Stein,

Ich seh sie fallen, ich will Zeuge sein.


Er geht mit entschloßnem Schritt der Türe zu, durch welche Maria gegangen, bleibt aber auf der Mitte des Weges stehen.


Umsonst! Umsonst! Mich faßt der Hölle Grauen,

Ich kann, ich kann das Schreckliche nicht schauen,

Kann sie nicht sterben sehen – Horch! Was war das?

Sie sind schon unten – Unter meinen Füßen

Bereitet sich das fürchterliche Werk.

Ich höre Stimmen – Fort! Hinweg! Hinweg!

Aus diesem Haus des Schreckens und des Todes!


Er will durch eine andre Tür entfliehn, findet sie aber verschlossen, und fährt zurück.


Wie? Fesselt mich ein Gott an diesen Boden?

Muß ich anhören, was mir anzuschauen graut?

Die Stimme des Dechanten- Er ermahnet sie –

– Sie unterbricht ihn – Horch! – Laut betet sie –

Mit fester Stimme – Es wird still – Ganz still!

Nur schluchzen hör ich, und die Weiber weinen –

Sie wird entkleidet – Horch! Der Schemel wird

Gerückt – Sie kniet aufs Kissen – legt das Haupt –


Nachdem er die letzten Worte mit steigender Angst gesprochen, und eine Weile inne gehalten, sieht man

ihn plötzlich mit einer zuckenden Bewegung zusammenfahren, und ohnmächtig niedersinken, zugleich erschallt von unten herauf ein dumpfes Getöse von Stimmen, welches lange forthallt.

[679] Das zweite Zimmer des vierten Aufzugs.


Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 2, München 31962, S. 678-680.
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