[304] Frau Praatgern. Charlotte.
PRAATGERN.
Komm her! Charlotte, küsse mich,
Und hiermit wisse, du bist meine Tochter.
CHARLOTTE.
Ich?
PRAATGERN.
Ja du, mein liebstes Kind, ich habe dich geboren.
Aus Liebe gegen dich vertauscht ich Leonoren.[304]
Herr Richard gab mir sie, da sie noch nicht ein Jahr,
Und dir an Alter gleich, und gleich an Grösse war.
Sonst niemand weiß den Tausch, den ich getroffen habe,
Als eine Wärterin, doch die liegt schon im Grabe.
Herr Richard, welcher mir sein Kind vertrauet hat,
Kriegt, meine Tochter, dich, an seiner Tochter statt.
Er glaubet, du bist sein, und wenn er einst wird sterben,
Wird seine Tochter nichts und du den Reichthum erben.
So glücklich hab ich dich durch meine List gemacht.
CHARLOTTE.
So?
PRAATGERN.
Aber nimm nun auch den Vortheil wohl in acht.
Du mußt dich nur einmal, wie Richard will, geberden;
So kannst du eine Frau von grossen Mitteln werden,
Den andern recht zum Trutz in schönen Kleidern gehn,
Und nach und nach im Rang, wo du verlangest, stehn.
Ich bitte dich, laß ja das Glück nicht aus den Händen.
Bist du Jungwitzens Frau: so mag das Blatt sich wenden.
Doch eher ruh ich nicht, bis du versorget bist.
Denn Richard ist nicht dumm, er merkt vielleicht die List.
Ein einziger Verdacht reißt alles gleich darnieder.
Weiß ers, so kennt er leicht die rechte Tochter wieder.
Sie hat an ihrem Arm ein Maahl zur Welt gebracht,
Kennt er dieß Maahl zuvor, dann: alles gute Nacht!
Drum gieb dir alle Müh den [Jungwitz] wegzukriegen.
Ich habe schon gedacht, wie man ihn kann betrügen.
Er klagt, du denkest nichts, und schweigst beständig still.
So machs dem Narren denn, wie er es haben will.
Selbst Leonore soll, ohn wer sie ist, zu wissen
Was ihr bestimmet war, dir mit verschaffen müssen,
Sie klingelt.
Sag du nur niemand was; Es liegt dir selber dran.
Cathrine tritt herein.
Ruff Leonoren her.
Cathrine geht ab.
Es ist um mich gethan,
Wenn es ein Mensch erfährt: Sey klug und lerne schweigen.
Wie du es machen sollst, will ich dir itzt gleich zeigen.
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Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.
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