Das 42. Capitel.
Es ist nicht gut / wenn man über die Nägel gehet.

[344] Hiermit wollen die alten Weiber die Nägel, so von denen Händen oder Füssen abgeschnitten sind, verstanden haben; wiewohl sich die Sache viel eher glauben liesse / wenn eiserne Nägel damit gemeynet würden, weil man sich in diese viel eher verletzen könte, so man darüber gehet / als in jene. Aber nein! die alten Weiber wissen eine andere Bedeutung / und sagen: Wer über die von Händen oder Füssen geschnittene Nägel gienge, der würde dem gram, dem die Nägel gewesen wären. Und dieses soll auch eben die eigentliche Ursach seyn, warum es nicht gut sey,[344] so man über die Nägel gehet. Ich aber bin gantz contrairer Meynung, und sage, oder erweise vielmehr, es sey gut, wenn man über die Nägel gehet. Denn so man die grossen Nägel noch an Fingern stehen hat, so stehet es erstlich nicht fein / zumahl, wenn so viel Koth s.v. darunter verwahret liegt, daß man könte Spargel oder Salat-Saamen hinein säen; zum andern, so kan man entweder sich selbst / oder auch einen andern damit verletzen, sonderlich, wenn sie fein lang gewachsen sind, daß man sie an statt der Wurffschauffeln gebrauchen möchte, oder Peruqven- Kämme daraus machen könte; dergleichen Gattung der Nebucadnezar mag gehabt haben, als er mit denen wilden Thieren unter dem Thau des Himmels gelegen hat, und seiner menschlichen Vernunfft beraubet gewesen. Muß demnach nothwendig besser seyn, wenn solche Schinder-Klauen von Fingern abgeschnitten und auf die Erde geworffen sind, daß man kan darüber hin gehen. Ich meines Orts gestehe gern, daß ich einem bey weiten nicht so feind seyn würde, wenn ich über seine abgeschnittene Nägel gienge, als wenn ich solche grosse Habichts-Krallen an seinen Händen gewahr würde, und kan ich die Ursach keinesweges erforschen, woher die Feindschafft kommen solle, wenn man über abgeschnittene Nägel gehet / und wird ja auch besser seyn, man gehe drüber, als daß man sie auf dem Tisch, im Fenster, oder wohl gar in der Speise siehet liegen, dergleichen bey säuischen Leuten sich wohl ehe zutragen kan. Ich bleibe demnach darbey,[345] es sey gut, wenn man über die Nägel gehet. Jedoch nehme ich noch aus, daß es nicht irgend müsse verstanden werden, daß, wenn man über die Nägel gienge, welche noch an denen Händen oder Füssen stünden; denn das weiß ich wohl, daß es keinem würde gut seyn / wenn ihm ein anderer wolte auf die Hände oder Füsse treten. Und soferne dieser Punct auf diese Art verstanden wird, geb ich ihme Beyfall.

Quelle:
Schmidt, Johann Georg: Die gestriegelte Rocken- Philosophie. 2 Bände, Chemnitz 1718 (Bd. 1), 1722 (Bd. 2), [Nachdruck Weinheim; Deerfield Beach, Florida 1987]., S. 344-346.
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