Das 98. Capitel.
Wenn an einer Stuben-Thür angepochet wird / so soll man die Thür nicht aufmachen / ehe man weiß / wer angepochet hat / denn es kan der Tod seyn / und müste denn der / der die Thür aufmacht / und niemanden aussen vor der Thür siehet / sterben.

[193] Es nähmen einige Leute nicht viel / wenn sie hören an die Thür anklopffen / und machten die Thür auf / ehe sie gewiß sind / ob iemand vor der Thür sey oder nicht / denn sie bilden sich gäntzlich ein / wenn sie es nur so gedaucht hätte / als ob iemand anklopffete /und sey nicht so gewesen / sie aber doch die Thür aufthäten und zuschaueten / ob niemand angeklopfft hätte / so machten sie dem Tode auf / und müste der /der aufmachte / sterben. Drum ists auch eine Gewohnheit worden / daß wenn iemand an der Stubenthür anklopfft / so wird (sonderlich bey gemeinen abergläubischen Leuten) einem nicht leicht die Thür aufgemacht werden / sondern man sagt insgemein: Herein! da dann entweder / der angeklopfft / hinein gehet /oder gewarten muß / daß noch mehr geruffen werde: immer herein / rein! biß er selbst aufmacht und eingehet. Was aber Leute seyn von guten Verstande / die kehren sich an solche alte Weiber-Fratzen gar nicht /und machen kein Bedencken / wenn sie vermeynet /daß iemand anklopffet / die Thür aufzuthun / und habe ichs aus eigener Erfahrung / daß uns alle gedaucht gehabt / es klopffte iemand an die Stuben-Thür / und niemand aufmachen wolte / habe ich selbst aufgemacht / aber niemanden vor der Thür funden /und lebe[194] gleichwohl noch so lange als GOtt will. Wie manchmahl trägt sichs zu / daß eine Henne an die Stuben-Thür kommt / und irgend nach einem daran hangenden Körngen oder Würmgen hacket / und alsbald wieder davon laufft? wenn man nun hierauf die Thür aufthut / ist niemand da. Soll denn das der Tod gewesen seyn? der Tod kommt ohne angeklopfft /ohne gebeten / und ohne aufgemachte Thüren. Und so du abergläubischer Naar dich mit einer starcken Mauer liessest ummauren / darein gar keine Thür eingienge / so würde der Tod doch wohl zu dir kommen /und dich würgen. Drum laß solche Narren-Possen aus deinen Gedancken / sondern bedencke vielmehr / daß du / und alle Menschen schon den Tod aus Mutterleibe gebracht hast / und solchen in dir selbst trägst biß ins Grab. Drum habe du lieber acht auf dein Hertz /und gedencke stets: der Tod klopfft an deine Hertzens Thür / und bereite dich auf diesen Gast stets recht wohl / und stirb immer / so stirbst du nicht / wenn du stirbst / sondern gehest durch den Tod ins ewige Leben.

Quelle:
Schmidt, Johann Georg: Die gestriegelte Rocken- Philosophie. Band 2, Chemnitz 1722 [Nachdruck Weinheim; Deerfield Beach, Florida 1987]., S. 193-195.
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