Siebentes Buch
September 1887 bis Juni 1889

An einem Septemberabend des Jahres 87 stand ich mit meinem Freund Kuwazl auf der Plattform einer Pferdebahn, die eben vom Ring in die Universitätsstraße einbiegen wollte, als wir unter der Menge, die die Fahrbahn überschritt, eine hübsche junge Dame gewahrten, dem Ansehen nach besseres Ladenfräulein oder Probiermamsell, die unsere galant bewundernden Blicke mit einem nicht unfreundlichen Lächeln erwiderte. Da wir beide, was manchmal vorkam, eben nichts Wichtigeres zu tun hatten, sprangen wir ab und trugen der jungen Dame höflich unsere Begleitung an. Wir wurden nicht abgewiesen, setzten den Weg nun gemeinsam fort, und auf der kurzen Strecke vom Schottentor bis zum Krankenhaus machte die Bekanntschaft so rasche Fortschritte, daß das Fräulein, das offenbar gleichfalls nichts Wichtigeres zu tun hatte, unserer, oder vielmehr meiner Einladung folgend, sich mit uns beiden in meine Spitalswohnung begab, wo jederzeit eine Flasche Cognac und etwas Bäckerei für vorher- und unvorhergesehene Gäste bereitgehalten war. Außerdem gab es an stimmungsvollen Dingen ein Pianino, einen Bett-Teppich, in den zwei spielende Kinder gestickt waren, eine rot-grüne Ampel, die von der Decke herabhing, und auf dem Fensterbrett, als Prunkstück, dem elterlichen Salon entstammend, stand eine halbzerbrochene Alabastervase mit einem Makartbouquet.

Man aß und trank ein wenig, unterhielt sich in heiterer, aber ganz gesitteter Weise, entfernte sich endlich zu dritt; ich aber hatte die Ehre, das Fräulein bis an ihr Haustor in der Zimmermanngasse zu begleiten, und sie war so freundlich, mir beim Abschied für den übernächsten Tag ihren Besuch zu versprechen.

Ich erwartete sie, auf meinem Pianino phantasierend, in angenehmer Erregung, sie erschien mit verheißungsvoller Pünktlichkeit,[281] lagerte sich zu meinen Füßen nieder, was mich freilich ein wenig am Pedalnehmen hinderte; aber da ich meine Finger bald statt über die verstimmten Tasten über die blonden Haare meiner Besucherin streichen ließ, hatten Spiel und Vorspiel ohnehin bald ein Ende. Wie ernst das Spiel noch werden sollte, ahnten wir an jenem Abend freilich beide nicht.

Zwei- bis dreimal wöchentlich kam Jeanette des Abends zu mir. Manchmal nachtmahlten wir vorher zusammen in irgendeinem Restaurant, – im Römischen Kaiser oder im Riedhof, anfänglich, an schönen Herbstabenden in Pratergärten; – die Nacht verbrachte sie in meiner Spitalsstube, ließ sich auch im Schlaf nicht stören, wenn ich auf die Abteilung ging, meinen Dienst zu versehen, und es war mir eine rechte Lust, wenn ich gegen Mittag wiederkehrte, mein süßes Mädel, zu neuer Zärtlichkeit bereit, auf den zerwühlten Polstern wiederzufinden. In der Rückerinnerung eines solchen Morgens war es, daß ich dieses Schmeichelwort vom süßen Mädel zum erstenmal in mein Tagebuch schrieb, ohne zu ahnen, daß es bestimmt war, einmal gewissermaßen literarisch zu werden. Und damals mag es wohl auch, zum mindesten meiner Empfindung nach, auf Jeanette nicht so übel gepaßt haben.

Eine kurze Trennung gleich in den ersten Wochen unseres Glücks sollte unsere Verliebtheit nur noch höher anfachen. Mit meinem Vater, der mich auf alle Weise und von jeder Seite her in die Medizin einzuführen trachtete, fuhr ich nach Wiesbaden zur Naturforscherversammlung. Er mußte vor mir nach Wien zurück; ich verbrachte einen Tag allein in Rüdesheim in einem Wirtshausgarten am Ufer des Rheins, schrieb dort Briefe, nicht nur an Jeanette, sondern auch an Olga, an diese natürlich einen viel schöneren, und erlebte in dieser Stunde den einzigen Moment der Reise, dessen ich mich noch heute mit vollkommener Lebhaftigkeit entsinne. Auf der Rückfahrt hielt ich mich in Frankfurt auf, wo es mir beliebte, auf Goethes Jugendspinett ein paar Wiener Walzer anzuschlagen; und in München, ohne von den Gemälden, die ich sah, und Theateraufführungen, die ich besuchte, irgend stärkere Eindrücke mit nach Hause zu nehmen. Nicht nur Sehnsucht, auch Unruhe jagte mich zurück. Damit, daß Jeanette mit ihren zweiundzwanzig Jahren ihre Tugend nicht bis zu dem Tage bewahrt hatte, an dem sie mir begegnet war, hatte ich mich abfinden müssen. Sechs oder sieben[282] Liebhaber hatte sie mir eingestanden; was sie mir aber sonst noch und Ausführlicheres von ihrem Liebesleben erzählt hat – es dürfte wohl nicht viel und kaum völlig wahr gewesen sein – ist mir völlig entschwunden. Sie lebte zusammen mit drei Schwestern und einem Bruder in einer sehr bescheidenen Wohnung in der Zimmermanngasse; die älteste Schwester, damals gewiß nicht älter als fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig, aber reizlos und verblüht, führte die Wirtschaft und verdiente wohl auch etwas durch Näharbeiten, meine Jeanette, die zweite, war Kunststickerin (ich bewahre heute noch Proben ihrer Fertigkeit auf) und arbeitete meist zu Hause für größere Geschäfte, die dritte, Tini, kaum zwanzig, war abwechselnd Kindermädchen und Ladenmamsell und sah auch nach nichts Besserem aus, an die vierte, Ritschi, habe ich überhaupt keine Erinnerung bewahrt, so wenig als an den Bruder Theobald, der bald von den Schwestern fortzog und mir eigentlich nur in Zusammenhang mit der Geschichte von einer versetzten Uhr und zehn Gulden, die man ihm schuldig war, einigermaßen wirklich und lebendig wird. Die Jugendgeschichte Jeanettens, die, wie ich in meinem Tagebuch bemerkte, viel Anziehendes und Rührendes hatte, habe ich gleichfalls völlig vergessen. Aus ihren noch vorhandenen Briefen geht nur hervor, daß irgendwo in der Provinz ein Vater lebte, von dem übrigens nie die Rede war, und daß vierzehnhundert Gulden von einem Onkel-Finanzrat vorhanden waren (wenn diese Summe nicht die Abfindungssumme eines der sechs Liebhaber vorstellte), die mit dem, was die Geschwister verdienten, dem Haushalt zugute kamen. Jedenfalls stellte Jeanette in den ersten Monaten nicht nur keinerlei finanzielle Ansprüche an mich, sie lehnte es geradezu ab, von derlei Dingen zu reden, und ich halte es für möglich, daß sie in jenem ersten Winter unserer Liebe nicht nur uneigennützig, sondern auch, wenigstens im üblichen Wortsinn, treu gewesen ist. Auch wenn ich aus Gesellschaften oder aus dem Theater kam, das ich sehr oft, manchmal mit Bekannten, aber niemals mit Jeanette besuchte, pflegte sie mich in meinem Spitalszimmer zu erwarten und blieb bei mir, bis im Morgendämmer oder noch in tiefer Dunkelheit die alte gute Bedienerin eintrat, Frau Ettel genannt, um uns das Frühstück zu bereiten. Es würde einmal was Schönes zum Erinnern sein, so dachte ich mir in jener Zeit; und das wäre es auch gewesen, wenn ich nur[283] verstanden hätte, zur rechten Zeit ein Ende zu machen. Aber immer heftiger schloß ich mich an sie an, immer törichter wühlte in mir die Eifersucht auf ihre Vergangenheit, immer unfaßbarer wurde mir der Gedanke, mich jemals von ihr trennen zu müssen. Nicht immer blieben wir zu zweit. Richard zog ich zu unseren kleinen Soupers aus begreiflichen Gründen allerdings nicht mehr zu; anfangs war Fritz manchmal mit uns zusammen, der mit Amy endgültig gebrochen hatte, aber als glücklicher Bräutigam immer seltener für uns Zeit hatte; an seine Stelle trat ein alter Bekannter, Schulkollege meines Bruders, der sich mir, ich weiß kaum mehr recht, warum, in der letzten Zeit näher angeschlossen hatte.

Rudolf Spitzer war der einzige Sohn eines wohlhabenden, frühverwitweten Kaufmannes, der ihn von Kindheit auf verwöhnt und gewissermaßen für den Dichterberuf erzogen hatte. Als Beispiel dafür mag gelten, daß er seinen Sohn einmal zum Geburtstag mit einer gedruckten Ausgabe von dessen gesammelten deutschen Aufsätzen überraschte. Über die deutschen Aufsätze war Rudolf Spitzer, der sich für seine literarische Laufbahn den besser klingenden Namen Lothar gewählt hatte, längst hinausgekommen, er verfaßte Gedichte, Novellen, Romane, Dramen, Kritiken, Essays, alles schon damals mit jener wunderbaren Oberflächlichkeit, die er sich bis in sein reifes Alter zu erhalten und, wenn man so sagen darf, zu vertiefen verstanden hat. Denn der Grundzug seines Wesens war Oberflächlichkeit, was sich gewissermaßen schon in seiner Art zu reden ausdrückte, die durch die Eilfertigkeit, mit der er zehn, hundert, tausend Einfälle, Neuigkeiten, Halbwahrheiten, Unwahrheiten, an die er zuweilen selber glaubte, vorzubringen und durch das häufige Lachen, mit dem er sich zu unterbrechen pflegte, manchmal nahezu unverständlich wurde. Auch seine Gutmütigkeit, an der nicht zu zweifeln war, kam nicht so sehr aus der Reinheit einer Kinderseele, obzwar er im wesentlichen ein naiver und ziemlich neidloser Mensch war, sondern eben aus seiner Oberflächlichkeit; – ebenso wie seine Gefälligkeit, für die auch ich ihm oft dankbar zu sein hatte, mehr in seiner Betriebsamkeit und Wichtigtuerei als in Güte und Altruismus begründet war. Damals wohnte er in der schönen väterlichen Wohnung in der Asperngasse und sah zuweilen gleichstrebende und schon weiter gelangte Freunde bei sich, Journalisten, Schriftsteller,[284] wie Ludassy (der indes, im Dezember des Jahres 87, meine Cousine Olga Mandl geheiratet hatte), Fuchs-Talab und auch J.J. David, dem ich dort zum erstenmal begegnet bin. Schon damals hatte Lothar seine Beziehungen zur Presse (es bestand eine weitläufige Verwandtschaft zwischen seinem Vater und einem der Chefredakteure) und den redlichen Willen, sie auszunützen. All dies sah sich zu jener Zeit noch recht harmlos und gelegentlich etwas spaßig an. In meinem Tagebuch finde ich verzeichnet, daß er einmal mir und Richard Tausenau ein Stück vorlas, von dem ich aber weiter nichts zu vermelden weiß, als daß es »Der Zauberlehrling« hieß. Hingegen ist mir der schöne Wintertag unvergeßlich geblieben, an dem ich mit ihm und seinem ehrgeizigen Vater einen Ausflug nach Baden unternahm, um der Premiere eines von ihm verfaßten sozialen Dramas »Die Tantaliden« beizuwohnen. Auch für den Erfolg sorgte er in seiner Weise und erbat vom Vater in meiner Gegenwart einen kleinen Betrag zum Ankauf von Sitzen für die Claque. Lothar wurde oft und stürmisch gerufen und mit ihm der Vertreter der Hauptrolle, ein gewisser Herr von Varndal, der, an die Rampe tretend, gewaltige Sätze gegen die Besitzenden ins Parkett zu schleudern hatte, ohne daß übrigens davon für die Hausbesitzer in der Asperngasse eine weitere Gefahr erwachsen wäre. Aber noch weit begabter als das Stück war der Bericht, den Lothar selbst über die begeisterte Aufnahme verfaßte und in verschiedene Wiener Blätter einrücken ließ, womit allerdings die Bühnenlaufbahn der »Tantaliden« endgültig beschlossen war.

Dieser liebenswürdige, heitere und rührige Jüngling, dessen eigentliches Talent ich aber auch in jener kurzen Blütezeit unserer Freundschaft nicht sehr hoch einzuschätzen vermochte, hatte sich nun in den Kopf gesetzt, mich literarisch zu managen, wobei es ihm freilich weniger auf meine persönlichen Erfolge als auf das Vergnügen des Managens angekommen sein dürfte. Ich selbst hatte mich in der letzten Zeit wieder damit begnügt, als Poet nur im engeren Kreise zu wirken. Meine beiden Novellen »Menschenliebe« und »Gabrielens Reue« hatte ich an Olga Waissnix nach Reichenau gesandt und freundliches, ja begeistertes Lob dafür geerntet; die zweitgenannte Novelle hatte ich überdies Dora Kohnberger unter vier Augen vorgelesen; aber, von begründetem Mißtrauen gegen den Wert dieser dichterischen Produkte erfüllt, in der Öffentlichkeit nichts weiter für sie[285] unternommen. Indes waren auch ein paar kleine novellistische Skizzen entstanden, »Erbschaft« und »Der Wahnsinn meines Freundes Y.« sowie ein Akt unter dem Titel »Das Abenteuer seines Lebens«. Hier in Kürze der Inhalt: Ein junger Mann hat eine Geliebte, Nähterin oder dergleichen, und betet zugleich eine junge Frau an, die er als das Abenteuer seines Lebens bezeichnet. Eines Abends erscheint sie unerwartet in seiner Studentenbude, findet vorerst nur sein Liebchen vor, da er selbst sich eben entfernt hat, um ein kaltes Abendessen zu besorgen, bald aber kehrt er zurück, und da auch der »Freund« nicht lange auf sich warten läßt, entwickelt sich ein Verlegenheitssouper zu viert, an dessen Ende der Liebesdilettant, von beiden Frauen verlassen und vom Freunde milde verspottet, den Beschluß faßt, sich zum Ersatz für die Verlassenen eine oder vielmehr – wie er um der Schlußpointe willen ausruft – zwei andere zu suchen. Aus diesem an sich keineswegs unfruchtbaren Einfall, dessen Erlebnisquellen nicht erst erforscht werden müssen, hatte ich freilich nichts gemacht als eine leere, ungeschickte, ziemlich witzlose Posse, deren Dialog öfters klingt wie eine steife Übersetzung aus dem Französischen. Schon tragen Held und Vertrauter die Namen Anatol und Max; von dem allerdings auch in den späteren Einaktern nur stellenweise angenehm wirkenden Geist und der bescheidenen Poesie der beiden Figuren ist noch wenig zu verspüren, wenn sich auch Max als Dichter vorstellt und es an Aphorismen nicht mangelt, die zuweilen ihrer eigenen Schiefheit zu spotten scheinen. Lothar hielt aber nun den Augenblick für gekommen, etwas Entscheidendes für mich zu tun. Er übergab das Stückchen dem schon damals ziemlich berüchtigten Theateragenten O.F. Eirich, dieser nahm es gegen Bezahlung der Druckkosten in Vertrieb, und das Erscheinen dieses »Lustspiels in einem Aufzug« als »Bühnenmanuskript« bildete einen Abschnitt in meinem Literatenleben, den ich als solchen stärker empfand, als ich manchen weit bedeutungsvolleren später empfunden habe; und mit einiger Selbstironie, als wollte ich das Schicksal nicht gar zu kühn versuchen, schrieb ich anläßlich dieser ersten Drucklegung eines eigenen Theaterstückes in mein Tagebuch: »Am Ende werd' ich gar aufgeführt.« Wie sich das ein paar Jahre später wirklich, gerade mit dem »Abenteuer seines Lebens« ohne mein Dazutun und jedenfalls ohne mein Verdienst zutrug, soll an seiner Stelle erzählt werden.[286]

Mein Vater stand meinen schriftstellerischen Versuchen (er bekam natürlich nicht alle zu Gesicht) nach wie vor ohne Sympathie gegenüber, und mit Rücksicht auf meinen ärztlichen Ruf, der sich aus guten Gründen noch immer nicht befestigen wollte, wünschte er damals, daß ich als Belletrist mindestens nicht unter meinem Namen hervortreten sollte. Daß er meinem ganzen Treiben in Literatur, Medizin und Leben ohne Freude zusah, war ihm wahrhaftig nicht übelzunehmen. Insbesondere meine Beziehungen zum weiblichen Geschlecht, über die er natürlich nur vage unterrichtet war, erfüllten ihn mit wachsender Sorge. Zu dieser oder einer etwas späteren Zeit geschah es, daß ich einmal mit ihm nach dem Theater im Restaurant zusammensaß und wir in eine vertrautere Unterhaltung gerieten, als sie sonst zwischen uns üblich war. Im Verlauf unseres Gesprächs drängte sich mir die Frage auf die Lippen, wie es denn eigentlich ein junger Mensch anstellen solle, um nicht entweder mit den Forderungen der Sitte, der Gesellschaft oder der Hygiene in Widerspruch zu geraten. Verführung, Ehebruch seien unerlaubt und gefährlich, Verhältnisse mit Kokotten und Schauspielerinnen bedenklich und kostspielig, dann gab es noch eine gewisse Sorte von sozusagen anständigen Mädchen, die zwar schon vom Pfade der Tugend abgewichen waren, bei denen man aber geradeso wie bei einer Verführten nach dem Ausdruck meines Vaters »hängenbleiben« könne; so blieben also wirklich nur Dirnen übrig, was immer, selbst wenn man sich gesundheitlich zu schützen wisse, eine recht widerwärtige Angelegenheit zu bedeuten habe. Und ich stellte an meinen Vater das Ansinnen, mir selber einen Rat zu geben. Mein Vater ließ sich auf Erörterungen nicht ein, sondern mit einer erledigenden Handbewegung bemerkte er einfach und dunkel zugleich: »Man tut es ab.« Damit war mir freilich wenig geholfen, und er mochte wohl selbst fühlen, daß ich zum »Abtuer« in diesem und in jedem Sinn nicht geboren sei. Am liebsten hätte mein Vater gewiß gesehen, daß ich ein wohlhabendes Mädchen aus guter Familie zur Frau nehme; aber dazu war es noch etwas zu früh, und überdies wußte er, wenn auch sonst nichts Genaueres, daß ich allzu tief in einem Verhältnis mit einem Geschöpf unter meinem Stande verstrickt und Vernunftgründen unter den gegenwärtigen Umständen nicht zugänglich sei. Peinlich hatte ihn berührt, daß ich einmal, als er mich des Abends im Krankenhaus[287] auf meinem Zimmer besuchen wollte, ihn an der Tür empfangen und bitten mußte, nicht einzutreten; und in diesem Augenblick vielleicht gedieh sein schon früher gehegter Entschluß zur Reife, mich zu weiterer medizinischer Ausbildung, insbesondere auf spezialistisch laryngologischem Gebiet, für einige Zeit ins Ausland zu schicken.

Am 1. Januar 88 war ich auf die chirurgische Abteilung Professor Weinlechners versetzt worden, wo ich mich noch weniger zu Hause fühlte und noch weniger leistete als in meinen früheren sekundarärztlichen Stellungen. Von einer eigentlichen chirurgischen Tätigkeit hielt ich mich so fern als möglich und erinnere mich nur daran, daß ich einmal eine Fettgeschwulst des Oberarms operierte, ein anderes Mal einem Betrunkenen, der bei einem Raufhandel verletzt worden war, die Oberlippe zusammennähte (die zu meinem Erstaunen ohne Narbe verheilte). Außerdem extrahierte ich Zähne, wenn ich die Ambulanz abzuhalten hatte, und hatte allen Grund, mich bei solchen Gelegenheiten über die Geduld meiner Patienten zu wundern. Auf die Visite kam ich öfters zu spät und meist in verschlafenem Zustand, was den Chef veranlaßte, mich für einen Alkoholiker zu halten, und schrieb dienstgemäß meine Krankengeschichten, doch in einer äußeren Form, die Weinlechners Beifall so wenig fand, daß er einmal mit den heftigsten Worten über meine »hundsmiserable Schrift« loszuziehen anfing. Ich verbat mir seinen Ton so energisch, daß er es vorzog, sich von diesem Moment an überhaupt nicht mehr um mich zu kümmern, was mir, bei meinem Verhältnis zu seiner Person im besonderen und zur Chirurgie im allgemeinen, nur recht sein konnte. Er war übrigens ein sehr tüchtiger Praktikus, hatte aber im Wesen und Gebaren mehr vom Bader als von einem Arzt, und sein vielleicht nur ungeduldiges, aber zuweilen wie Herzensroheit wirkendes Benehmen gegenüber Patienten, die vor einer lebensgefährlichen Operation standen, ist mir in peinlicher Erinnerung geblieben. Unter diesen Umständen konnte es mir nur lieb sein, von seiner Abteilung zu scheiden, und auch abgesehen davon hätte die Aussicht auf eine Reise nach Berlin, Paris, London viel Verlockendes für mich gehabt, wenn nicht der Gedanke, für mindestens ein halbes Jahr Jeanette allein oder wenigstens unbehütet in dem gefährlichen Wien zurücklassen zu müssen, mich in lebhafte Unruhe versetzt hätte.[288]

Für Anfang April war die Abreise in Aussicht genommen. Jeanette und Lothar begleiteten mich in einer frühen Morgenstunde auf den Nordbahnhof, zu meinem Mißvergnügen fanden sich vor Abgang des Zuges dort, gegen ihr ausdrückliches Versprechen, auch meine Eltern ein, so daß ich genötigt war, Jeanette, die bei dieser Gelegenheit von meinem Vater zum erstenmal und ohne Sympathie in Augenschein genommen wurde, mit Lothar heimzuschicken. Gleich beim Einsteigen gab es einen Zank mit einem mitreisenden Berliner, der sich aber im Verlauf der Reise als ein sehr umgänglicher, nur allzu trinkfreudiger Herr erwies. In Berlin angelangt, stieg ich in dem eben eröffneten Hotel Continental ab, wo ich zum erstenmal ein Zimmer mit elektrischer Beleuchtung bewohnte, die nicht nur für mich, sondern für die gesamte mitteleuropäische Menschheit im Jahre 88 noch etwas ziemlich Neues bedeutete.

Am nächsten Tag schon machte ich mich auf die Wohnungssuche, fand bald zwei hübsche Zimmer in der Dorotheenstraße sechzig, gab pflichtgemäß meine Karten bei einigen Professoren der medizinischen Fakultät ab, bei Senator, Lazarus, Fränkel, Tobold, dem sogenannten Vater der Laryngologie, belegte bei Fränkel einen laryngologischen Kurs, den einzigen, den ich mit leidlicher Regelmäßigkeit, aber ohne Gewinn besuchte, besah mir auch einzelne Abteilungen in der Charité und im Friedrichshauser Krankenhaus und wohnte sogar einer Sitzung in der Gesellschaft für interne Medizin bei, womit ich meine äußeren Verpflichtungen gegenüber dem Studium und meinem Vater so ziemlich abgetan glaubte.

Beinahe jeden Abend besuchte ich irgendein Theater; die stärksten Eindrücke nahm ich von einigen Vorstellungen des Deutschen Theaters, von Kainz, Siegwart Friedmann, Sommerstorff, der Sorma und der Geßner mit nach Hause. Auch an manche Persönlichkeiten der Schriftsteller- und Bühnenwelt war ich empfohlen, und so fand ich mich ein oder das andere Mal bei Julius Rodenberg, Karl Emil Franzos, Siegwart Friedmann zu Gaste, auch bei dem mir aus Wien bekannten Komiker Tewele, wo ich zum ersten- und auf lange Zeit zum letztenmal mit Josef Kainz zusammentraf, der damals am Beginn seiner ruhmvollen Laufbahn stand und sich noch zwanzig Jahre später erinnerte, daß ein junger Landsmann nach dem Mittagessen sein wienerisches Herz durch das Vorspielen von Walzern gerührt[289] hatte, der aber keine Ahnung mehr hatte, daß dieser junge Wiener ich gewesen war.

Mit dem »Abenteuer seines Lebens« unternahm ich einige schüchterne Versuche, übersandte es zuerst an Siegwart Friedmann, der weiter keine Notiz davon nahm, dann an Tewele, der als Freund unseres Hauses sich immerhin veranlaßt fühlte, ein paar freundliche Worte darüber zu äußern. Dem Direktor Lautenburg war das Stück schon von Wien aus durch Eirich übermittelt worden. Er hatte bisher nichts darüber verlauten lassen, doch als Lothar aus Wien eintraf, wurde ein Rendezvous mit Lautenburg bei Krziwanek, in einem bekannten Wiener Restaurant, verabredet, und Lothar wußte das Gespräch bald in feiner Weise auf mein Lustspiel zu bringen. Lautenburg wollte sich zuerst nicht recht besinnen; ich kam seinem Gedächtnis zu Hilfe; nun erinnerte er sich plötzlich, ließ einen höflichmitleidigen Blick auf mir ruhen, schüttelte den Kopf und ließ nichts vernehmen als das eine Wort: »Schrecklich.« Nach einigen Minuten erst, wie zum Trost, fügte er hinzu: »Wohl Ihr erster Versuch?« Da ich nicht einmal das zu meiner Entschuldigung anführen konnte, schien er mich als Literaten endgültig aufzugeben, und das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu.

Die Stimmung der Hauptstadt war in jenen Wochen durch die hoffnungslose Krankheit des Kaisers Friedrich verdüstert. Ein berühmter englischer Arzt, Mackenzie, war zu Rate gezogen worden und hatte zum eifersüchtigen, aber wohl begreiflichen Ärger der deutschen Ärzteschaft die Behandlung des Kranken übernommen. Man warf ihm, nicht ganz mit Unrecht, vor, daß er eine Radikaloperation des Kehlkopfkrebses, an dem der Kaiser litt, unterlassen oder gar hintertrieben hatte, zu einer Zeit, wo vielleicht noch Rettung möglich gewesen wäre. Daß politische Erwägungen in die therapeutischen hineinspielten, war kaum zweifelhaft; eine unerquickliche Polemik dampfte aus Zeitungsspalten um das Leidenslager des edlen und geduldigen Sterbenden; nicht nur medizinische, auch Tagesblätter ergriffen Partei; und Mackenzie war von einem journalistischen, gewissermaßen offiziösen Stab umgeben, dessen Mitglieder von der gegnerischen Seite als »Pressereptilien« bezeichnet wurden.

Eines Tages traf Ernst von Rosenberg in Berlin ein, ein Jugendbekannter, der älteste Sohn eines kürzlich verstorbenen Patienten meines Vaters; ein törichter, stutzerhafter, zudem[290] schon in seinen jungen Jahren sehr schwerhörig gewordener junger Mensch; Mitherausgeber einer zu Wien in französischer Sprache erscheinenden politischen Korrespondenz. Er wünschte, für sein Blatt Mackenzie zu interviewen, und hatte meinen Vater, als einen Wiener Kollegen Mackenzies, um eine Empfehlung ersucht, die ihm in meiner Begleitung Zutritt zu dem berühmten englischen Arzt verschaffen sollte. Sobald Mackenzie uns zu sich beschieden hatte, beeilte sich Ernst von Rosenberg, für einen Tag eine herrliche, mit blauer Seide ausgeschlagene Privatequipage zu mieten, und am 24. April 88 fuhren wir beide am Tor des Charlottenburger Schlosses vor, von wo wir, nicht ohne uns vorher ausreichend legitimiert zu haben, bei dem Arzt des Kaisers Zutritt erhielten. Es war ein weitläufiger, etwas dämmriger Raum, in dem Mackenzie uns empfing und einlud, Platz zu nehmen. Ernst von Rosenberg nahm Anlauf zu einer wohleinstudierten Rede, in der er vor allem die Bedeutung seines Blattes herauszustreichen notwendig fand und, sich auf dem Sessel hin und her wiegend, einige Sätze hintereinander mit den Worten begann: »Die ›Correspondance de l'Est‹ ist ein Blatt, welches ...«, »Die ›Correspondance de l'Est‹ macht es sich zur Aufgabe ...«, »Die ›Correspondance de l'Est‹ würde es sich zur Ehre rechnen, wenn ...« – Mackenzie wurde sichtlich ungeduldig, er wurde es um so mehr, als er merkte, daß der Herausgeber der »Correspondance de l'Est« die freilich sehr diplomatisch gehaltenen Auskünfte, die ihm erteilt wurden, teils aus Taubheit, teils aus mangelhafter Kenntnis der englischen Sprache nicht recht verstand, und bat endlich mich, da er weder deutsch noch laut reden konnte oder wollte, dem Interviewer das Gesagte zu verdolmetschen. Ich tat es so gut, als ich vermochte, wozu ich zum größeren Teil erst in der blauseiden ausgeschlagenen Equipage Gelegenheit fand, die uns kaum eine Viertelstunde nach unserem Eintreffen vom Charlottenburger Schloß wieder in die Stadt zurückbrachte. Ich weiß nicht, ob Rosenbergs offizieller Bericht im Sinne Mackenzies ausfiel; – jedenfalls waren sowohl er als auch ich bereits wenige Tage später in den dem englischen Arzt feindlich gesinnten nationalistischen Zeitungen mit Namen als neue Mitglieder der »Reptilienpresse« angeführt, wogegen ich in einer Berichtigung für meinen Begleiter und mich öffentlichen Einspruch erhob, auf den nichts weiteres mehr erfolgte.[291]

Aber Ernst von Rosenberg war nicht nur Doktor juris, Journalist und Herausgeber der »Correspondance de l'Est«, sondern auch Lebemann, und so fügte es sich, daß wir manche Abende gemeinsam in Vergnügungslokalen, selten ohne weibliche Gesellschaft, verbrachten. Unter den freundlichen Damen, die uns einige Abende verkürzten, erinnere ich mich nicht ungern eines ganz jungen Geschöpfs, das eben erst am Anfang seiner Liebescarriere stand. Wir vertrauten einander unsere Herzensgeschichten an. Sie erzählte mir von einem Medicinae Studiosus Rudolf Gottlieb aus Wien, zufällig einem meiner guten Bekannten, mit dem sie den verflossenen Winter durchlebt und durchliebt und den sie, wie sie mir versicherte, niemals vergessen würde. Als ich ihm, einem sehr braven, fleißigen Muttersöhnchen, ein paar Monate später einen Gruß von ihr überbrachte, tat er so, als verstünde er mich nicht recht, und brachte das Gespräch auf ein anderes Thema. Ich wieder sprach zu Lizzi von der Heißgeliebten, die ich in Wien zurückgelassen, und noch klingt mir der leidenschaftliche Ton im Ohr, mit dem sie mir in der ersten und zugleich letzten Nacht, die wir miteinander verbrachten, beinahe drohend ins Gesicht rief: »Du denkst an die andere!« Wahrscheinlich hatte sie recht. Denn es gab kaum eine Stunde, in der ich dieser anderen nicht gedacht hätte. In Sehnsucht und Erregung erwartete ich allmorgendlich ihre Briefe, in denen sie mir außer ihrer Liebe und Treue viel von allerlei körperlichen Leiden, wie Herzklopfen, Kopfschmerzen, Blutspucken, Zahnweh, Rotlauf sowie von ihren kleinen häuslichen und geschäftlichen Verdrießlichkeiten zu erzählen wußte. Ich wiederum quälte sie in meinen Briefen unablässig mit mißtrauischen Gedanken, die sie als »Hexen« zu bezeichnen pflegte und durch immer wiederholte Beteuerungen ihrer unverbrüchlichen Zärtlichkeit zu verscheuchen suchte. Und für Augenblicke gelang es mir, wirklich an ihre Treue zu glauben, sowenig ich selbst, bei all meiner Liebe zu ihr, imstande war oder mich nur im geringsten bemühte, ihr Treue zu bewahren. Fräulein Lizzi, das Berliner süße Mädel, war keineswegs die erste und einzige gewesen, in deren Armen ich Jeanettens gedacht hatte. Vorher schon, an einem der ersten Abende meines Berliner Aufenthaltes, hatte ich, in der Nähe eines Vorstadttheaters, auf der Straße Bekanntschaft mit einer sehr hübschen, eleganten jungen Dame angeknüpft, die mir zwar ohne weiteres in meine Behausung[292] folgte, die aber, wie ich schon tags darauf in ihrer Wohnung merkte, in ihrem übrigens unzweifelhaften Beruf doch etwas Höheres vorstellte, als ich zuerst angenommen. Es schmeichelte mir fast ein wenig, als, während ich mit ihr die Jause nahm, ein Wagen vorfuhr, dem ich vom Fenster aus zwei höchst elegante Herren entsteigen sah, und ich wie ein richtiger Amant de cœur über die Hintertreppe verschwinden mußte; und als ich ein paar Tage später einem in Berlin lebenden Bekannten mein Abenteuer erzählte, erfuhr ich, daß die junge Dame, deren Namen er mir nach Angabe der Adresse aus dem Mund nahm, zur Zeit als eine der bestausgehaltenen Kokotten bekannt und ihr Name in Berliner Lebekreisen fast berühmt sei. Noch einmal gab sie mir ein Stelldichein am Brandenburger Tor, wo sie in einer Droschke zweiter Güte meiner wartete; wir speisten in einem Cabinet particulier, doch heute gefiel sie sich darin, die Spröde zu spielen, erklärte das Erlebnis von neulich für ungültig, und wir sahen uns niemals wieder.

Eines Tages erschien Herr Cohn, der künftige Schwiegervater meines Freundes Fritz, in Berlin, auch mit ihm verbrachte ich einige Abende von der Art, die man als lustige zu bezeichnen pflegt; so soupierten wir einmal mit drei jüdischen Chansonnetten, den Schwestern Neumann, und zugleich mit deren bravpatriarchalischen Eltern; in den Blumensälen, einem berüchtigten Tanzlokal, spähten wir nach hübschen Frauenzimmern aus; Herr Cohn, der ein wenig wie ein rastaquère aussah und sich eines kühn hinaufgezwirbelten, schwarzen Schnurrbartes und glühender Augen erfreute, walzte unermüdlich mit einer besonders hübschen Person durch den Saal und verschwand endlich mit ihr. Ich wunderte mich ein wenig über seinen Leichtsinn, was ich hinsichtlich des meinen in dieser Zeit allzuoft zu vergessen pflegte; das Wesen des fünfundvierzigjährigen, verheirateten Mannes wurde mir aber erst ganz verständlich, als ich ein paar Jahre später erfuhr, daß er zu jener Berliner Zeit sich eben im Höhestadium einer kürzlich erworbenen Lues befand und ihm daher die Gefahren nicht mehr drohten, von denen mir die kleinen Abenteuer der Stunde vergällt wurden und die mich manchmal auf sie verzichten ließen. Dem Beneidenswerten konnte gewissermaßen nichts mehr geschehen, höchstens, daß er eine Gehirnerweichung bekam, ein Schicksal, das ihn tatsächlich schon nach wenigen Jahren ereilen sollte.[293]

Aber Herr Cohn war an jenen Berliner Abenden nicht nur mein Kumpan, er war auch sozusagen mein Berater und Freund. Daß ich in Jeanette in so lächerlich-ernster Weise verliebt war, schien ihn zu bekümmern; daß sie nicht das Geschöpf war, an das ein vernünftiger junger Mann aus guter Familie sein Geschick knüpfen durfte, war ihm vielleicht nicht so sehr aus meinen als aus seines Schwiegersohnes Fritz Berichten klargeworden, und so schrieb er mir sofort nach seiner Wiederankunft in Wien einen Brief mit wohlgemeinten Warnungen, die mich aber erst recht zur Verzweiflung brachten.

Es fügte sich, daß Mitte Mai mein Onkel Felix aus London in Wien eintreffen sollte, und so wurde entgegen den ursprünglichen Absichten meines Vaters bestimmt, daß ich von Berlin vorerst heim und dann erst mit Onkel Felix nach England reisen sollte. Ein paar Tage, ehe ich Berlin verließ, zog ich in meiner Art eine Bilanz meines inneren und äußeren Lebens, die wieder einmal recht übel ausfiel und in der vor allem ich selbst schlecht genug wegkam. Ich war zu keinem rechten Behagen gekommen, und wie mir wohl bewußt war, nur um der unruhvollen Sehnsucht willen, die mich zu Jeanetten rief, und mußte mir dabei selber eingestehen, daß es das weitaus klügste gewesen wäre, schon vor meiner Abreise kurzweg abzubrechen. So viele Leute ich in Berlin auch flüchtig kennengelernt hatte, fruchtbare Beziehungen hatten sich nach keiner Richtung hin entwickelt, und weder von Menschen noch Dingen glaubte ich nachhaltige Eindrücke empfangen zu haben. Als Hauptgrund meiner Verstimmung aber mußte ich außer einer frühen Blasiertheit, die ich mir übrigens nur einbildete, meinen Beruf ansehen, vielmehr die Überzeugung, daß zu der Ausübung dieses Berufes mir ebenso der redliche Wille als das wirkliche Talent fehlten. Da es mir überdies, wie ich zu fühlen glaubte, an der nötigen Spannkraft gebrach, unter der Last der medizinischen Eindrücke die rechte Freiheit zu dichterischer Betätigung aufzubringen, und ich mich als einen hypochondrischen, übersensiblen Menschen zu erkennen vermeinte, der ohne Funken von wahrhafter Tatkraft lächerlich an seinen kleinen und großen Gewohnheiten hing, so war ich trotz einer leisen tröstlichen Ahnung, daß doch etwas Gutes in mir vorhanden sein mochte, nahe daran, mein Leben, in dem ich innerlich keine Fortentwicklung, äußerlich kein Weiterkommen zu sehen imstande war,[294] als ein völlig verfehltes zu beweinen und mich endgültig aufzugeben.

Am 12. Mai fuhr ich nach Dresden, besuchte die Galerie, speiste auf der Brühl'schen Terrasse, unternahm einen Ausflug nach Blasewitz, ging ins Theater, wo man den »Bureaukraten« von Moser gab; nach dem Abendessen – sonst wäre der Tagesablauf nicht vollständig gewesen – knüpfte ich Bekanntschaft mit zwei jungen Damen an und trat eben mit einem Droschkenkutscher in Verhandlungen ein, der mich und meine Begleiterinnen, ich weiß nicht mehr, wohin, bringen sollte, als ich mich umwendend zu meinem Ärger und Staunen gewahrte, daß die beiden Damen während dieser wenigen Sekunden auf dem großen, fast menschenleeren, weiten Platz spurlos verschwunden waren. Um eine Phrase ganz zu verstehen, muß man sie erleben. An jenem Dresdner Abend war ich überzeugt, daß Menschen wirklich in den Erdboden versinken können. Trotzdem möchte ich nicht in Abrede stellen, daß die beiden geheimnisvollen Damen während meiner Unterhaltung mit dem Kutscher in einer anderen Droschke davongefahren waren. Bescheidener als mein Held aus dem »Abenteuer seines Lebens« versuchte ich, mich mit einer einzigen zu trösten, – die dafür allerdings Elvira hieß. Es war das erste und letzte weibliche Wesen dieses Namens, das mir jemals begegnet ist, und auch dieses dürfte in der Taufe einen anderen erhalten haben.

Am nächsten Abend kam ich in Wien an. Jeanette erwartete mich an der Bahn, blaß und etwas verhärmt, wir verbrachten die Nacht in ihrem kleinen ärmlichen Zimmer, dessen einziges vergittertes Fenster auf den Stiegengang hinaussah. Den nächsten Abend war ich bei der Familie Cohn zu Gaste und durfte mich am Bräutigamsglück meines Freundes Fritz erfreuen, am darauffolgenden Abend wurde am häuslichen Herd mein sechsundzwanzigster Geburtstag gefeiert, und am 16. fuhr ich nach Reichenau. Olga empfing mich zärtlich, versicherte mich ihrer Liebe, erklärte jedoch, daß sie niemals die Meine werden wolle, und prophezeite mir, daß ich Minnie Benedict heiraten werde. In Wien auf dem Bahnhof erwartete mich wieder Jeanette, die es wußte oder wenigstens ahnte, daß ich von einem Besuch bei der Kleeblatt-Frau kam, wie sie meine geheimnisvolle Reichenauer Freundin nach dem Anhängsel nannte, das ich als teures Geschenk an meiner Uhrkette trug. Am nächsten Abend – ich[295] wurde wie ein vornehmer Gast auf der Durchreise behandelt – war ich mit den Eltern im Prater, stahl mich aber bald von ihnen fort, um in der Hauptallee nahe dem dritten Kaffeehaus wieder mit Jeanette zusammenzutreffen und sie nach Hause zu begleiten. Und Fest folgte auf Fest. Der Abend des Neunzehnten versammelte die ganze Familie, diesmal zu Ehren von Onkel Felix und Tante Julie, bei meinem Onkel Edmund Markbreiter, wo man – freilich vom Geld der Gläubiger – vorzüglich aß, trank und rauchte; der nächste Abend wurde in gleicher Gesellschaft im Prater verbracht bis zu der Minute, in der ich wieder in Jeanettens Arme floh, wie ich das im Laufe dieser Woche in gehetzten Stunden auch tagsüber mehr als einmal getan hatte; am nächsten Tag endlich – und in allem Trennungsschmerz atmete ich befreit auf – reiste ich mit Onkel und Tante im Expreßzug nach Paris ab.

Am Montag, dem 21. Mai, gegen Abend, kamen wir dort an. Ein Abend, eine Nacht und ein Tag für die Wunderstadt – es war nicht viel. Wo ich gewohnt habe, weiß ich nicht mehr; etwas deutlicher, doch wie aus einem Traum, entsinne ich mich, wie wir alle, Felix, Julie, meine Pariser Verwandten Sandor und Mathilde Rosenberg (ein Name, der jetzt natürlich französisch ausgesprochen wurde) und der Hauptlump der Familie, der kleine, häßliche, stutzerhafte Szigo Jellinek, in den Vergnügungslokalen der Champs-Elysées umherzogen, unter freiem Himmel – bei den Ambassadeurs – soupierten und endlich über die strahlenden Boulevards in später Stunde heimwärtswanderten.

Am nächsten Tag sah ich, was in der Hast eben zu sehen war – ohne zu ahnen, daß mir wenige Jahre später für all das mehr Zeit gegönnt sein sollte – Panthéon, Louvre, Bastille –, und am Abend erfolgte die Abreise nach London, wo ich nach angenehmer See- und Bahnfahrt mit den englischen Verwandten am Dreiundzwanzigsten morgens eintraf.

Wir stiegen in Herne Hill aus, denn das Wohnhaus meines Onkels, wo ich für die ersten Tage Quartier finden sollte, befand sich auf dem Lande, in Honor Oak, nicht allzuweit vom Crystal Palace. Es war eine hübsche, wohleingerichtete Villa, in der eben Raum genug für das Ehepaar, die zwei kaum dem Säuglingsalter entwachsenen kleinen Kinder und den Neffen Otto, Edmund Markbreiters Sohn, war und in der mir übrigens[296] ein bequemes Fremdenzimmer zur Verfügung stand. Der Blick ging nach allen Seiten ziemlich frei über Villen ins Grüne, der Garten, nicht allzu gepflegt, mäßig ansteigend, grenzte an Feld- und Wiesenland. Ich nahm mir an diesem ersten Morgen eben nur Zeit, mich vom Reisestaub zu befreien, und fuhr auch schon mit Onkel Felix und Otto in die Stadt. Bei London Bridge stiegen wir aus, und eine Minute später nahm uns der ungeheure Menschenstrom auf, der über die Riesenbrücke der City zustrebte. Ich begleitete meine Verwandten bis zu ihrem Bureau, der Filiale des Pariser Bankhauses Dreyfus, dessen Londoner Chef Felix war, trieb mich eine Weile allein oder unter Ottos Führung in den Straßen umher, nahm die Eigentümlichkeiten der Stadt, soweit sie sich in den ersten Stunden erschließen konnten, Verkehr, Lärm, Omnibusse, Riesengebäude, Policemen, mit der geforderten Bewunderung, aber ohne inneres Behagen zur Kenntnis und erstattete sofort in meinem Brief an Jeanette Bericht von meinen Eindrücken. In irgendeinem unansehnlichen, dämmerigen, aber belebten Lokal, unter eiligen Geschäftsleuten und Börsenmännern, wurde der Lunch genommen. Mein Onkel bestellte Porter-Bier, es wurde in Bechern serviert, die mir in der Erinnerung wie silberne erscheinen. »Wie schmeckt's?« fragte Onkel Felix mit pfiffigem Lächeln. Ich schüttelte mich, so widerlich war mir der süßlich prickelnde Geschmack. Onkel Felix lachte. »Probier's nur«, sagte er, »es wird schon gehen.« Beim nächsten Schluck kam ich auf den Spaß. Es war nicht Porter-Bier, es war Sekt, mit dem ich bewirtet wurde. Oft seither nahm ich Gelegenheit, die kleine Anekdote zu erzählen, die mir lehrreich dünkte wie eine gut erfundene Fabel.

Gleich nach dem Lunch – ich war aufgezogen wie ein Uhrwerk – machte ich mich auf den Weg zu dem Mann, dessen Besuch mir mein Vater am dringendsten ans Herz gelegt hatte, zu Felix Semon, einem in Deutschland geborenen und ausgebildeten Arzt, der nun als einer der ersten Laryngologen Londons galt. Mit seinem dichten dunklen Haupthaar, dem buschigen Schnurrbart, den schwarzen Augen sah er nicht so sehr einem deutschen Juden, der er war, sondern vielmehr einem Spanier ähnlich. Er nahm mich mit großer Freundlichkeit auf, verbarg mir aber nicht seine Mißbilligung, daß die »Internationale Klinische Rundschau« in der Angelegenheit der kaiserlichen Erkrankung, wenn auch nicht gerade gegen die deutschen Ärzte,[297] so doch keineswegs gegen Mackenzie entschiedene Partei ergriffen hatte, war wohl auch unzufrieden, daß ich Mackenzie in Charlottenburg besucht hatte, und sprach sich aufs schärfste nicht so sehr gegen dessen wissenschaftliche Bedeutung als gegen sein Vorgehen in dem zur Sprache stehenden Einzelfalle aus. Daß Semons Stellungnahme von Eifersucht nicht ganz unbeeinflußt – wenn er auch sachlich im Recht sein mochte – und daß er jedenfalls ehrlich überzeugt war, Mackenzie habe den Kaiser falsch, – nämlich aus politischen, nicht ärztlichen Gründen, expektativ statt operativ behandelt, das war leicht zu merken. Auch über die meisten seiner engeren Londoner Kollegen äußerte sich Semon ohne Wohlwollen, ja über manche schonungslos, so vor allem über Lennox Browne. Er erzählte mir noch allerlei von den englischen medizinischen Studienverhältnissen, stellte sich mir zu Auskünften und Empfehlungen in jeder Weise zur Verfügung und lud mich für den nächsten Tag zum Frühstück ein, um mich nachher auf seine Spitalsabteilung zu führen.

Er lebte, wie mir bekannt war, in guter Ehe mit einer schönen Deutschen, die vorher Konzertsängerin gewesen war. Sie fehlte, als wir uns zu Tische setzten, und der Diener meldete, daß die junge Frau heute in der Stadt speise. Die Ruhe, mit der Semon diese Nachricht aufnahm, als wäre es etwas ganz Selbstverständliches, daß seine Gattin ganz nach Belieben außer Hause, in der Stadt ihre Mahlzeiten einnahm, berührte mich sehr. Wie kann er ihr so blind vertrauen? dachte ich und war ganz überzeugt, daß sie in diesem Augenblick ein Stelldichein mit einem Liebhaber hatte. Dabei bildete ich für meinen Teil mir zwar nicht gerade ein, daß ein gewisses Fräulein Jeanette, Kunststickerin, von höchst bewegter Vergangenheit, recht temperamentvoll und ohne sichere Einkünfte, ihrem in fernen Landen weilenden Geliebten die Treue halte, aber ich war doch weit davon entfernt, mir vorzustellen, als unbezweifelbare Tatsache vorzustellen, daß Fräulein Jeanette vielleicht zu eben dieser Stunde in Wien auch mit einem Liebhaber zu Mittag essen könnte, während ich, einige tausend englische Meilen weit entfernt, bei Herrn Felix Semon meinen Lunch nahm – und selbstverständlich ohne weiteres bereit gewesen wäre, sie schon in der nächsten Stunde zu betrügen.

Das St.-Thomas-Hospital, wo Felix Semon als Spezialarzt[298] für Kehlkopfkrankheiten wirkte, war in fünf imposante Pavillons geteilt und lag prächtig an der Themse, von Gärten umgeben. Semon geleitete mich durch die Krankenzimmer und stellte mir unter seinen Patienten ganz besonders einen vor, der geradeso wie der Kaiser an Kehlkopfkrebs erkrankt war und vom Schicksal bestimmt schien, mit unheimlichem Parallelismus die gleiche Krankengeschichte durchzumachen wie Kaiser Friedrich. So vermochte mir Semon an diesem Kranken geradezu zu demonstrieren, daß er, Semon, sich mit einer ganz bestimmten medizinischen Behauptung (daß nämlich Perichondritis und Abstoßung von nekrotischen Knorpelteilen auch bei Karzinom vorkäme) unbedingt im Rechte und Mackenzie mit der gegenteiligen sich im Unrecht befinde.

Ich besuchte Semon noch zu öfteren Malen, wohnte auch gelegentlich seiner Privatordination bei; mit seinen Spitalskranken hatte ich kaum mehr etwas zu tun. Und es war diesmal nicht nur meine Nachlässigkeit, die mich veranlaßte, meine Spitalsbesuche nicht nur auf der Abteilung von Semon, sondern auch bei Lennox Browne und Butlin bald wieder einzustellen, sondern der Umstand, daß, anders als in Deutschland und besonders bei uns in Wien, die Patienten keineswegs gewillt oder wenigstens nicht angewiesen waren, Studierenden und Ärzten als Objekte zu dienen, so daß ich kaum je selbst in die Lage kam, den Kehlkopfspiegel anzuwenden, sondern mich meist damit begnügen mußte, hinter dem Rücken des Primarius stehend, in seinem Spiegel das Bild des Kehlkopfes zu erhaschen. Kurse in unserem Sinn gab es damals in London nicht. Nun erst wurde mir klar, warum die englischen und amerikanischen Ärzte nach Berlin und nach Wien kamen, ja kommen mußten, um Laryngoskopie und mancherlei andere Disziplinen zu studieren, die eben nur am kranken Individuum, und nicht ganz ohne Unbequemlichkeit für dieses, zu erlernen sind. Über die Gutmütigkeit und Geduld unserer Wiener Patienten und Patientinnen hatte ich mich oft gewundert. Ja, viele hatten es geradezu mit Stolz zur Kenntnis genommen, daß sie als interessante Fälle galten oder auch nur, daß sie sich brav hielten oder daß man bei ihnen die Stimmbänder besonders gut sehen könne. Von solchem Ehrgeiz war bei den Londoner Kranken keine Spur zu finden.

So blieb Semon der einzige Londoner Arzt, mit dem ich[299] eine Art von persönlichem Verkehr aufrechterhielt. Bei ihm lernte ich auch den zu jener Zeit sehr berühmten Maler Alma-Tadema flüchtig kennen, der damals eine kleine Zeichnung auf meiner Menukarte improvisierte, die mir leider in Verlust geraten ist. Von Semon erhielt ich auch einen Teil des Materials für die drei Londoner Briefe, die ich im Auftrag meines Vaters für die »Internationale Klinische Rundschau« schrieb. Der erste gab einen kurzen Abriß der englischen medizinischen Studienordnung, der aber viele Ungenauigkeiten enthielt, was mir Semon mit Recht verübelte; die beiden anderen Briefe legte ich ihm im Manuskript vor, insbesondere fand seinen Beifall der letzte, an dessen Schluß ich das glückliche England pries, »in dem unbehindert von staatlicher Machtvollkommenheit und kollegialen Rancunen Dutzende von Privathospitälern nebeneinander aufblühen und gedeihen durften als Zeugnis eines freiheitlichen Sinnes, für den in den Wiener maßgebenden Kreisen Verständnis zu erwecken, vorläufig ein vergeblicher Versuch bleiben müsse«. Dies war übrigens ein Satz, um dessentwillen mein Vater geneigt war, mir mancherlei zu verzeihen.

Nur die erste Woche meines Londoner Aufenthaltes wohnte ich im Hause meines Onkels, dann übersiedelte ich in ein Boarding-house, South Kensington, Cromwell Place 18, wo ich ein freundliches, hoch gelegenes Zimmer bewohnte und allmorgendlich durch einen Leierkasten mit stets denselben Melodien aus dem Schlaf geweckt wurde. Eine von ihnen aus einer damals vielgespielten Operette, »Dorothy«, klingt mir wieder im Ohr, während ich diese Erinnerungen niederschreibe. Am Vormittag versuchte ich, wenigstens anfangs, in der früher angedeuteten Weise den Forderungen meines Berufs gerecht zu werden oder besuchte die großen Museen und Galerien der Stadt, das Britische Museum, die Nationalgalerie, am häufigsten das nahe gelegene South-Kensington-Museum; zum Lunch war ich in der Pension, wenn ich es nicht eben vorzog, allein oder mit Bekannten in einem Restaurant der City oder, wie am Sonntag regelmäßig, in Honor Oak zu speisen, beteiligte mich, soweit es mir mein mäßiges Englisch gestattete, an der Tischunterhaltung, die die freundliche Dame des Hauses mit den üblichen Phrasen führte, wobei ihr einige andere Gäste, fast durchaus Damen mittleren Alters und ein deutscher,[300] sehr laut redender, pensionierter Hauptmann, der noch schlechter Englisch sprach als ich, sekundierten. Die ersten Nachmittagsstunden verbrachte ich häufig in meinem behaglichen Zimmer, aus dessen Fenster mein Blick über die Dächer ins Weite ging, setzte die Lektüre französischer Romane und Dialoge fort, die ich in Honor Oak, da mir andere Bücher fehlten, aufgenommen hatte, schrieb Briefe und verfaßte einen Einakter; es war das kleine Stückchen, das später »Anatols Hochzeitsmorgen« betitelt war, obwohl die Hauptfigur in der ersten Fassung Richard hieß und nicht viel Besseres vorstellte als den alten französischen Schwankhelden in tausend Ängsten. Der Einfluß der Halévy'schen Dialoge, die ich eben kennengelernt hatte, »Monsieur et Madame Cardinal«, ist darin unverkennbar, aber noch nicht stark genug, um aus dem »Hochzeitsmorgen«, wenigstens der Form nach, eine annehmbare Komödie zu machen. Dies empfand ich selbst so sehr, daß ich mir die Aufführung dieses Stückes lange Zeit hindurch, auch schon nach dem Erfolg der »Liebelei«, verbat. Sonderbarerweise wurde das Stückchen früher in Paris als in Deutschland gespielt.

Das Dinner nahm ich meist in meinem Boarding ein, um gleich nachher, entweder mit Onkel und Tante oder mit flüchtigen Bekannten, ein Theater, eine Singspielhalle oder eine der drei Ausstellungen, die damals eröffnet waren, die dänische, italienische oder irische, zu besuchen. Um ernstere Darbietungen kümmerte ich mich weniger. Ein Konzert in der Albert Hall, wo ich unter Woods Leitung zum erstenmal die Pathétique von Tschaikowsky hörte, ein Hans-Richter-Konzert und ein großes Händel-Festival mit zweitausend Mitwirkenden im Crystal Palace wären als stärkere künstlerische Erlebnisse zu erwähnen. Am häufigsten aber, manchmal schon am frühen Nachmittag, öfters nach dem Dinner, besonders als die schwülen Sommerabende kamen, fuhr ich zu meinen Verwandten nach Honor Oak, wo ich immer gut aufgenommen war und mich am behaglichsten fühlte. Felix war ein etwas nervöser, von Selbstgefälligkeit nicht ganz freier, aber kluger und liebenswürdiger Hausherr, seine Gattin Julie – man erinnert sich ihrer noch aus einem früheren Kapitel – waltete still und fraulich mild in Küche, Haus und Garten und nahm sich meiner auch verwandtschaftlich an, wenn ich Einkäufe in der Stadt zu besorgen hatte; Otto, der Neffe, seelisch etwas dürftig und[301] geistig ziemlich beschränkt, wirkte durch angenehmes Äußeres, leidliche Manieren und Jugend immerhin erträglich, so daß auch eine kleine Narrheit, die er mit einiger Pose zur Schau trug, nicht so sehr albern als humoristisch wirkte: er beschäftigte sich nämlich oder gab sich wenigstens den Anschein, sich sehr ernsthaft mit strategischen Problemen zu beschäftigen, und überhörte gern das Zeichen zum Mittagstisch, weil er sich allzu tief in irgendeine taktische Aufgabe verloren hatte. Daß ein hübscher, junger, lediger Mensch im Hause wohnte, ohne daß sich zwischen ihm und seiner jungen Tante auch nur die geringsten Anzeichen von Verliebtheit entwickeln wollten, damit freilich mußte sich meine nicht so sehr verdorbene als aufgerührte Phantasie erst abzufinden suchen. Denn mein Mißtrauen in Liebesdingen war universell. Treue zwischen zwei Liebes- oder gar Eheleuten vermochte ich bestenfalls als einen glücklichen Zufall aufzufassen, von dem ich freilich immer gerne annahm, daß er sich gerade mir auch unter den unwahrscheinlichsten Umständen als günstig erweisen würde. Doch wenn es jemals ein Haus gab, das zu stetem Ehefrieden wie vorbestimmt schien, so war es Woodville Hall in Honor Oak, und die durchaus bürgerliche, vor allem völlig unerotische Sphäre geriet auch dadurch nicht in unruhigere Schwingungen, daß recht fleißig und zuweilen ganz gut Musik gemacht wurde. Meist waren es freilich Dilettanten, die sich im Kammerspiel an ihrer eigenen Kunst erfreuten und liebenswürdige Zuhörer sich daran freuen ließen; aber auch Berufsmusiker fanden sich, nicht nur als Besucher, sondern mitunter auch als Mitwirkende, ein. Mein Onkel, trotz vorwiegend klassischer Geschmacksrichtung, war moderneren Produkten keineswegs abgeneigt und tat sich vielleicht etwas darauf zugute; wie er schon in frühester Jugend bedingungsloser Wagnerianer war, suchte er auch jetzt immer wieder neue musikalische Talente zu entdecken, was ihm übrigens in jener Epoche, und gar in England, nicht leicht gelingen mochte.

Auch ohne Musik, und abgesehen von ihr, war Woodville Hall die Stätte angenehmer Geselligkeit. Ich erinnere mich noch einiger Namen, sogar einiger Physiognomien von damals, ohne immer genau zu wissen, wie Physiognomien und Namen miteinander in Übereinstimmung zu bringen wären. So habe ich viele Stunden mit verschiedenen Mitgliedern der Familien Ölsner und Cronbach verbracht, war bei ihnen zu Gaste geladen,[302] habe Spaziergänge und Ausflüge mit ihnen unternommen, besitze noch Briefe, die sie mir später geschrieben haben, – und weiß doch heute nicht mehr von ihnen, als daß es durchaus nette und freundliche Leute gewesen sind. Die Blässe meiner Erinnerung mag daher kommen, daß all diese Menschen gleichsam in der Atmosphäre des Hauses Markbreiter aufgingen und nun auch im Nachgefühl gewissermaßen von ihr aufgesogen werden, während ich einiger anderer Menschen, junger Leute, mit denen ich mehr in Junggesellenart zusammenkam, mich viel deutlicher entsinne. So vor allem eines deutschen Kavallerieoffiziers namens Wien, eines blonden, schlanken, jungen Menschen in Drap-Anzug, mit dem ich ein paarmal spazierenritt, wobei es mir einmal passierte, daß mein zahmes Reitschulpferd zwischen Bahndämmen mit sausenden Zügen Miene machte, scheu zu werden, was aber ohne weiteren Unfall für mich ablief. In Gesellschaft dieses Herrn Wien unternahm ich auch Ausflüge in die weitere Umgebung Londons, nachdem ich von kleinen Spaziergängen nach Greenwich, in der Gegend des Crystal Palace und vor allem in den wunderbaren Parkanlagen Londons viel Genuß gehabt hatte. Schon wenige Tage nach meiner Ankunft in London war ich als alter Rennmann in einer Mietskutsche mit einem halben Dutzend von Unbekannten nach Epsom zum Derby gefahren, hatte aber von den Strapazen des Tages nur schlimme Kopfschmerzen davongetragen. Mit Wien fuhr ich nach Richmond und Kew Gardens, nach Hampton Court, wo wir von der Freundin Herrn Wiens, einem blonden Fräulein Florence, begleitet waren, von da nach Brighton, wo ich flüchtig Theodor Herzl sprach, und endlich über Portsmouth nach der Isle of Wight, an deren Ufern wir an einem stürmischen Abend eine kleine Segelfahrt unternahmen und ich, in der festen, noch jahrelang beibehaltenen Überzeugung, daß man nur auf einem großen Schiffe seekrank werden konnte, mich ausnehmend wohl befand.

Ist es nicht sonderbar, daß ich der schlanken Florence schmales, blondes Antlitz heute noch schärfer vor mir sehe als das Gesicht der hübschen Claire, die in London sozusagen meine Geliebte war? Sie war freilich nicht mehr als Aufwärterin und zugleich irgend etwas wie Oberaufseherin und Sekretärin im Boarding-house, das ich bewohnte, und stattete mir nachts in meinem Zimmer zärtliche Besuche ab; doch da sie immer besorgte,[303] man könnte sie einmal die Stiege herauf- oder herunterschleichen hören, so verlegten wir unsere Zusammenkünfte in einen miserablen Gasthof, den Claire jedenfalls von früheren Gelegenheiten her kannte. Fände ich die Portland Street, wo jener Gasthof gelegen war, nicht ein halbes Dutzendmal in meinem Tagebuch notiert, ich würde schwören, daß wir nicht mehr als ein einziges Mal zusammen dortgewesen sind. Auch in die italienische Ausstellung und in Music-halls führte ich sie, denn sie sah sehr anmutig und anständig aus und benahm sich höchst wohlerzogen. Gesprochen haben wir nur wenig miteinander, woran hauptsächlich meine mangelhafte Kenntnis der englischen Sprache schuld war, und ich denke, daß sie sich mit mir nicht viel weniger gelangweilt hat als ich mit ihr. Und da gewiß nie ernste Dinge zwischen uns verhandelt worden waren, so mußte ich einigermaßen erstaunt sein, als ich eines Tages in meinem Zimmer einen Brief Claires vorfand, in dem sie zarte Anspielungen auf die Zukunft machte und die Besorgnis aussprach »to come in trouble«. Trotzdem ich den Ausdruck nicht gekannt hatte, verstand ich ihn sogleich, und ich wurde nun noch kühler gegen sie, als ich es schon vorher gewesen war. Sie verschwand übrigens aus dem Boarding, noch ehe ich selbst, nach mehr als zweimonatigem Londoner Aufenthalt, am letzten Juli über Dover nach Ostende abreiste.

Es war bestimmt, daß ich dort einige Wochen bleiben und mit meiner Familie, die Mitte August erwartet wurde, nach Wien reisen sollte. Trotz meiner heftigen Sehnsucht nach Jeanette und trotz der Unruhe, die ich um sie litt und zu der auch ihre Briefe, so schön und liebevoll sie mich dünkten, mancherlei Anlaß gaben; – die Erholungspause zwischen London und Wien in einem bewegten, eleganten Seebad kam mir keineswegs unerwünscht. In einem vornehmen Hotel, dicht am Kurhaus gelegen, stieg ich ab und bezog ein großes, zweifenstriges Zimmer im vierten Stock mit dem Blick aufs Meer, wofür ich rätselhafterweise nicht mehr als vier Francs zu bezahlen hatte. Ich nahm täglich mein Seebad, promenierte am Strande, nahm gelegentlich an einem Billardspiel im Kursaal teil, das Baraque hieß, freute mich meines weißen Flanellanzugs, den mein Onkel in London als höchst unpassend für einen jungen Arzt bemängelt hatte, und knüpfte gleich an den ersten Tagen in den Wogen mit zwei etwas dubiosen Frauenzimmern Bekanntschaft[304] an. Die eine war Berlinerin, groß und blond, die andere, Frau Lösch, war klein, schwarz, polnisch-rumänische Jüdin. Um die Gunst dieser letzteren bewarb sich mit mir zugleich ein etwas langweiliger, düsterer Herr aus Wien, Heinrich Knepler. Als ich sie einmal abends bis zu ihrem Hause geleitete und der düstere Jüngling sich ungebeten anschloß, vermochte ich meine Ungeduld so wenig zu verbergen, daß der andere etwas ironisch fragte: »Ich störe wohl?« – »Ja«, erwiderte ich barsch, worauf jener stumm verschwand und sich, allerdings erst nach sieben Jahren, erschoß und ich als Sieger die Dame zum ersten und auch letzten Mal in ihre Wohnung geleitete. Dort las sie mir den eben eingelangten Brief ihres Gatten vor, worin sich Andeutungen finanzieller Mißhelligkeiten fanden, von denen ich keine Notiz zu nehmen vorzog, um so mehr, als mein Budget längst überschritten war und ich kaum wußte, wie ich bis zum Einlangen meiner Eltern das Auskommen finden sollte. Frau Lösch wünschte aber von mir nichts anderes – und das auch erst am Tage darauf, so daß ich mir bis dahin einbilden konnte, um meiner selbst willen geliebt worden zu sein –, nichts anderes als ein Paar Stiefeletten, ein ganz bestimmtes, sehr hübsches, elegantes Paar Stiefeletten, das sie mir in einer Auslage zeigte. Es war etwas beschämend für mich, daß es mir völlig unmöglich war, ihren Wunsch zu erfüllen. Frau Lösch selbst insistierte nicht weiter, aber von ihrer blonden Freundin, die die Maitresse eines reichen Berliner Juden und viel praktischer angelegt war, bekam ich bittere Vorwürfe über meinen Geiz zu hören. Obwohl hiemit der Verkehr mit beiden Damen zu Ende war, sollte ich doch noch einen kleinen, mit dieser Bekanntschaft zusammenhängenden Schreck erleben. Ein älterer Herr, der sich auch manchmal in unserer Badegesellschaft befunden hatte, äußerte, als Frau Lösch ein paar Tage später mit sehr flüchtigem Gruß an uns vorbeiging: »Von der habe ich sehr böse Dinge gehört.« Es ist leicht zu erraten, was für böse Dinge mir vor allem durch den Kopf fuhren und daß ich erleichtert aufatmete, als der alte Herr hinzufügte: »Sie ist nämlich eine Diebin.« Ich dankte ihm für seinen Wink und hatte es bei dem augenblicklichen Zustand meiner Finanzen nicht einmal notwendig, in meiner Brieftasche nachzusehen, ob mir etwas gestohlen worden war. Zehn Jahre später traf ich Frau Lösch in einem Berliner Varieté im Logengang wieder. Sie begrüßte[305] mich wie einen lieben, alten Bekannten, erzählte mir, daß sie geschieden sei, und forderte mich freundlich auf, sie zu besuchen. Sie werde sich ein Vergnügen daraus machen, mich ein paar bildhübschen Damen aus besten Berliner Kreisen vorzustellen, die bei ihr verkehrten.

Am 13. August trafen meine Eltern und Geschwister in Ostende ein, die ich fast ein Vierteljahr nicht gesehen hatte. Nun führte ich eine Weile das Leben eines braven Familiensohnes, gemeinsame Ausflüge nach Blankenberghe und Brügge wurden unternommen, dieser letztere in Gesellschaft eines reichen Wiener Börsenmannes, dessen ältere Tochter nach meines Vaters niemals ausgesprochener, aber unverkennbarer Meinung keine üble Partie für seinen ältesten Sohn vorgestellt hätte; wie es denn überhaupt sein begreiflicher Wunsch war, mich aus den mannigfachen Fährlichkeiten des Junggesellenlebens in eine bürgerliche Ehe, aus meinen schriftstellerischen Liebhabereien in eine geordnete ärztliche Laufbahn und aus meiner finanziell ungesicherten Lage in wohlhabende oder reiche Verhältnisse eingehen zu sehen.

Nicht meine ganze Ostender Zeit widmete ich den Meinen. Noch vor ihrer Ankunft war ich mit einer jungen Frau bekannt geworden, die unter den Wiener Ball- und Modeschönheiten eines nicht unbegründeten Rufs genoß. Untadelhaft war vor allem ihre Gestalt, die sie im Bade absichtsvoll zur Geltung zu bringen wußte; und absichtsvoll wie jede ihrer Bewegungen war ihr Lächeln, das wie rätselvoll um ihre allzu roten Lippen spielte, ihr Blick, der wie hinter Schleiern zuckte und verdämmerte, ihre Stimme, die sie leidenschaftlich aufklingen und in dunkler Weichheit verhauchen ließ. Sie hatte kein anderes Gesprächsthema als die Liebe, vor allem die »grande passion«, an welchem Ausdruck sie sich geradezu berauschte, ohne daß jemals ein sonderlich kluges oder gar originelles Wort zu diesem oder einem andern Thema von ihren meist halboffenen, feuchten Lippen gekommen wäre; und sie hegte keinen anderen Wunsch, als zu gefallen; – und nachdem wir tagelang im Bad und auf Spaziergängen die banalen, geistreich-verlogenen Unterhaltungen geführt hatten, wie sie zwei Menschen verschiedenen Geschlechts als Einleitung zu kleinen Liebesabenteuern und zu großen Liebestragödien unerläßlich scheinen, forderte sie, ohne sich ihrerseits vorläufig zu etwas verpflichten zu[306] wollen, ein offizielles Liebesgeständnis von mir, das ich aber verweigerte. Sie befand sich in Ostende mit ihrem Gatten und einem jungen Mann, der als ihr Liebhaber galt. Der Gatte war Kaufmann, ein hochgewachsener, höchst salopp gekleideter Herr von etwas gebückter Haltung und verdrossenen, ironischen Manieren, wie sie Ehemännern eignen, die eifersüchtig sind und sich's nicht merken lassen wollen, ihre Frau verachten und nicht von ihr loskommen. Der Liebhaber oder Liebende war ein reicher Wiener Fabrikant, der ein ungarisches Adelsprädikat trug, von der etwas mühseligen Eleganz wohlbeleibter Don Juans, der seiner Angebeteten mit Kalbsaugen nachsah, wenn sie ins Meer hinausschwamm, ergeben, korrekt, glücklich und sehr befreundet mit dem Gatten, der auch ihm die herzlichsten Sympathien entgegenbrachte, als wenn er sich mit dem einen nicht nur endgültig abgefunden, sondern ihm auch alle Verantwortung, alle Qual, alle Unannehmlichkeiten aufgebürdet hätte, die nach göttlichem und menschlichem Gesetz eigentlich er, der Ehemann, hätte tragen müssen.

Am 21. August nahm ich von der dämonischen Frau vorläufig Abschied mit angenehmem Ausblick auf das bevorstehende Wiener Wiedersehen, obzwar oder weil sie fand, es sei besser, daß wir uns in keiner Weise bänden; und begab mich mit den Eltern auf die Heimreise, die dem Programm nach mehrfach unterbrochen werden sollte. Ich selbst wäre freilich am liebsten geradenwegs nach Wien gefahren, denn meine Sehnsucht nach Jeanette war, trotz oder vielleicht wegen all der Zerstreuungen mehr oder minder harmloser Natur, in denen ich mich nicht einmal sonderlich behagte, in den letzten Tagen immer heftiger und unruhvoller geworden; und wenn auch ihre Briefe mich mit der gleichen Sehnsucht nach Wien zu rufen schienen, so hatten doch im Laufe der drei Monate die »Hexen« immer stärkere Gewalt über mich gewonnen. Indes hatte Jeanette selbst begonnen, mir ihre finanziellen Verlegenheiten einzugestehen, und die Annahme der recht geringen Summen nicht verweigert, die ich ihr gelegentlich von London aus zur Verfügung stellen konnte. Ihre Handarbeit brachte ihr wenig oder nichts ein. Aus einem Sticksalon, wo sie für die mühselige Arbeit von acht bis eins und drei bis sieben einen Monatsgehalt von zwanzig Gulden bezogen hatte, war sie wegen Herzbeschwerden, Blutspucken, Kopfweh und Rückenschmerzen[307] bald wieder ausgetreten, was mir schon darum recht war, weil sie nun wenigstens nicht allabendlich den für ihre zweifelhafte Tugend doppelt, sechs- und hundertfach bedenklichen Weg aus der Stadt nach Hernals wandern mußte. Nun stickte und häkelte sie zu Hause und lieferte ihre Arbeiten an Geschäfte ab, erhielt aber das ausbedungene Honorar meistens nur unter Schwierigkeiten oder gar nicht ausbezahlt. Wenn ich ihren Briefen glauben durfte, saß sie nun fast den ganzen Tag daheim, ging nur manchmal des Abends mit der zänkischen Schwester Emma spazieren, und es war schon ein Fest, wenn der Liebhaber dieser Schwester, ein unansehnlicher kleiner Beamter, in der Freude über eine geringe Gehaltserhöhung beide Damen zu einem Nachtmahl in den Prater abholte. Doch auch an merkwürdigeren Erlebnissen fehlte es nicht. So stellte sich eines Tages in ihrer Wohnung ein Herr Julius Herz aus Prossnitz vor, Buchhalter bei Haberfellner in der Burggasse, und hielt ohne weiteres um ihre Hand an. Sie aber – so schrieb sie mir – bedeutete ihm, daß sie einen Freund habe und lehnte den schmeichelhaften Antrag ab, was mich wieder zu einem Brief an sie veranlaßte, daß ich ihrem Glück nicht im Wege stehen wolle, um so weniger, als ich ja entschlossen sei, sie niemals zu heiraten, worauf wieder von ihr Versicherungen ewiger Liebe und Treue erfolgten. Es gab ferner eine Begegnung mit meinem Freund Richard Tausenau, der sie in seiner frivolen Art fragte, wie es denn mit der Treue stehe, was mich heftig irritierte; und endlich gab es Besuche bei einem Doktor auf dem Rennweg, einem für eine so schwer leidende junge Dame etwas entlegen wohnenden Arzt, der sie auslachte, weil sie an meine Treue glaubte, womit er, wie ich mir gleich sagte, ihre Bedenken zu seinen Gunsten – wahrscheinlich – nicht ohne Erfolg zu bekämpfen suchte. Daneben aber dürfte es noch allerlei andere Erlebnisse gegeben haben, von denen sie mir ebensowenig schrieb, wie ich ihr von den meinigen, und die sie sowenig abhielten, heftig in mich verliebt zu sein und vielleicht meine Treue im Bereich der Möglichkeit zu halten, wie ich mich durch meine nichtigen Abenteuer abhalten ließ, Jeanette zu lieben und sogar zuweilen an ihre Treue zu glauben.

Mein Vater wollte in meine alleinige Heimreise um so weniger willigen, als ihm ja der Grund meiner Hast nicht unbekannt und höchst widerwärtig war. So hielt ich mich denn mit[308] den Meinen je zwei Tage in Brüssel und in Baden-Baden auf und bekam im Coupé knapp vor Wien von meinem Vater zu hören, einen wie wenig vertrauenswürdigen Eindruck die junge Dame auf ihn gemacht, die mich vor meiner Abreise nach Berlin in Wien zur Bahn begleitet hatte; und erst am Abend des 25. August war es mir vergönnt, mich in die Arme meiner Jeanette zu stürzen, die mich mit aller Zärtlichkeit und Leidenschaft empfing.

Abend für Abend waren wir nun wieder beisammen, doch es wollte kein Glück mehr werden. Ich quälte sie unablässig mit Eifersucht, aber sonderbarerweise nicht wegen der eben verflossenen Monate, sondern gerade wegen ihrer entfernteren Vergangenheit. Sie weinte, küßte mir demütig die Hände, doch das beruhigte mich wenig. Manchmal, nicht nur unter dem Einfluß einer nicht unbegründeten hypochondrischen Stimmung, glaubte ich, mich der Verzweiflung nahe zu fühlen, und angstvoll ward ich inne, wie nutzlos und unwiederbringlich die Jahre vergingen. Dahin war die Zeit, in der der begabte junge Mensch sich und andere mit Nichtigkeiten betrügen mochte; Leistungen wurden gefordert – und noch immer war ich unfähig oder wenigstens nicht in der Lage, mich mit solchen auszuweisen. Mein Vater, manchmal erbittert, öfter gekränkt, schaute zu, wie ich mich in Leben, Beruf und Kunst nicht zurechtfand und zwischen meinem tüchtigen, unsäglich fleißigen Bruder, meinem ausgezeichneten künftigen Schwager – beide Ärzte wie ich und von Mißbilligung gegen mich durchdrungen – eine wahrhaft klägliche Rolle spielte. Und während ich mich in meinem Tagebuch weitläufig und schonungslos über allen Zwiespalt und Jammer ausließ, war ich gleich wieder bereit, mich der Pose zu beschuldigen, glaubte mir in meinen inneren Kämpfen irgendwie zu gefallen, während ich sie niederschrieb, – und glich so ein wenig jenem Dichter aus der »Beatrice«, der zehn Jahre später ausrufen sollte: »Und quillt aus dieser Torheit – Einmal ein Lied, so ist's der höchste Preis – Den mir das Leben hinwirft für die Schmach – Daß ich zu schwach bin, es mit Stolz zu leben.«

Als der Herbst weiter fortschritt, schlossen sich Jeanette und ich wieder inniger zusammen, und eine bessere Zeit, die freilich nicht lange dauern sollte, brach an. Lothar nahm zuweilen mit uns das Abendessen, entweder in Jeanettens Wohnung oder in[309] einem Restaurant, wie er denn immer noch, ohne daß ich meine Meinung über ihn geändert hätte, mein vertrautester Freund geblieben war. Obwohl ich bald nach meiner Rückkehr Assistent an der Abteilung meines Vaters geworden war, im gleichen Hause mit ihm und im selben Stockwerk eine kleine Wohnung bezogen, in bescheidenem Maße meine Praxis auszuüben begonnen hatte und mich ernstlich mit dem Studium der Larynxneurosen und mit hypnotischen Versuchen zu beschäftigen anfing, so scheute Lothar doch nicht vor der Prophezeiung zurück, daß ich die Medizin über kurz oder lang an den Nagel hängen werde, womit er gewissermaßen die Verpflichtung auf sich genommen hatte, mich in meinen literarischen Angelegenheiten zu betreuen. Übrigens war ich selbst in diesem Herbst nach dieser Richtung hin nicht ganz untätig gewesen. Den »Hochzeitsmorgen« hatte ich gefeilt und mit einem neuen Schluß versehen und einen neuen Einakter geschrieben, »Episode« betitelt, den ersten, in dem die Figur des Anatol, wie hoch oder niedrig man sie menschlich-künstlerisch bewerten mag, und die eigentümliche Atmosphäre der »Anatol«-Szenen, ob man sich in ihr behage oder nicht, mit Deutlichkeit zu spüren ist. Auch ein Dialog, den ich schon ein paar Jahre vorher mit Hinblick auf Sonnenthal und Wolter entworfen, »Erinnerungen« betitelt (den Grundeinfall habe ich erst Jahrzehnte später in der »Stunde des Erkennens« dichterisch auszunützen verstanden), war neu bearbeitet worden, und ich trug mich mit der Idee, die folgenden vier Einakter »Abenteuer seines Lebens«, »Hochzeitsmorgen«, »Episode« und »Erinnerungen« unter dem Gesamttitel »Treue« herauszugeben. Ich fragte bei S. Fischer in Berlin an, der sich als Verleger der ersten Hauptmann'schen Dramen und anderer moderner Werke hervorgetan hatte, ob er sich zur Herausgabe meines Buches entschließen wollte; doch ohne den Wunsch nach näherer Kenntnisnahme zu äußern, lehnte er mit der Bemerkung ab, daß er sich von dramatischen Plaudereien kein Geschäft verspreche. Nun riet mir Lothar, meine Erzählung »Der Wahnsinn meines Freundes Y.« an die »Schöne blaue Donau« zu senden, die literarische Beilage der »Presse«, wo man sich angeblich gleichfalls für moderne Literatur interessiere, und diktierte mir, als ich mich unschlüssig zeigte, nicht nur einen Brief an den Redakteur Fedor Mamroth in die Feder, sondern gab das Manuskript sogar persönlich[310] auf die Post. Wenige Tage später überbrachte mir mein Vater, während ich eben, den Reflektor auf der Stirn, eine laryngologische Untersuchung vornahm, einen Brief auf die Poliklinik, auf dessen Umschlag als Absender die Redaktion der »Blauen Donau« verzeichnet stand; und nach Eröffnung des Kuverts hatte ich die Genugtuung, ihm nicht nur die Annahme meiner Erzählung mitzuteilen, sondern auch einige liebenswürdige Zeilen vorweisen zu dürfen, in denen diese Annahme erfolgt und ich zu einem Besuch in der Redaktion eingeladen war. So begann ich, mich nicht nur in meinen eigentlichen Hauptinteressen hoffnungsfreudiger, sondern auch ganz im allgemeinen wohler und weniger hypochondrisch zu fühlen. Meine Beziehungen zu Jeanette, minder stürmisch, aber dafür auch weniger verquält als in den verwichenen Monaten, hoben sich auch äußerlich gleichsam in gesündere Sphären dadurch, daß sie nun in einem neubezogenen Quartier, Pelikangasse, ein recht hübsches, zweifenstriges Zimmer mit freier Aussicht bewohnte, und auch an anderen, stärkeren, wenn auch minder befriedigenden Anregungen von weiblicher Seite fehlte es nicht.

Anfang Oktober hatte ich an einem schon in Ostende vorherbestimmten Tag bei Frau Adele meinen Besuch gemacht und fand mich von nun an öfters in den Nachmittagsstunden in ihrem kleinen Salon ein, der so absichtsvoll auf sinnliche Stimmung hergerichtet war wie ihr ganzes äußeres und inneres Wesen. Wir spielten einander eine kleine Komödie der Verliebtheit vor, ohne uns gegenseitig zu überzeugen. Sie war zärtlich ohne Herz, dämonisch ohne Seele, lüstern ohne Leidenschaft und hingebungsvoll bis zu jener Grenze, wo ihrer Ansicht nach der eigentliche Ehebruch anfing, als wenn es sich nur darum handelte, ihrem Mann oder ihrem Liebhaber gegenüber nicht geradezu meineidig zu werden.

Auch Gisela Adler traf ich damals wieder öfters, doch immer nur unter Leuten, meist in einer unterirdischen Kegelbahn, wo wir uns in Händedrücken und Blicken unserer zärtlichen Gefühle stets neu bewußt wurden; auch das Wiedererscheinen des einstigen Fräulein Gisela Freistadt, der jetzigen Weinhändlersgattin aus Leoben, dessen ich schon an früherer Stelle gedacht habe, fällt in diese Epoche, und unter dem gleichen Datum, an dem ich diese banalen Erlebnisse in mein Tagebuch eintrug, am 10. Dezember 1888, stehen noch andere weibliche Namen dort[311] aufgezeichnet, so der Fännchens, die im Herbst Herrn Simon Lawner geheiratet, der des Fräulein Rosa Sternlicht, die sich indes mit einem praktischen Arzt vermählt hatte, und endlich der schönen, jungmädchenhaften Helene Herz. Ihr begegnete ich immer wieder und wahrscheinlich lieber als jeder andern. Und eines Abends, mit ihrem Champagnerglas das meine berührend, halb schmerzlich, halb mitleidig, vielleicht nicht ganz ohne leise Verachtung, trank sie mir mit den Worten zu: »Darauf, daß Sie zielbewußter werden – in jeder Beziehung.«

Solche Tagebuchnotizen schrieb ich zuweilen in Jeanettens einfachem Zimmer nieder, während sie selbst emsig stickend mir gegenübersaß, manchmal zu mir herüberguckte und nicht ahnte, was ich eigentlich und insbesondere wie viele verschiedene Namen von Mädchen und Frauen ich auf die losen Blätter kritzelte.

Und doch, mit all meiner Ahnung und all meinem Wissen war ich nicht viel weniger ahnungslos als sie, die sich gewiß all der Namen nicht einmal erinnerte, die ihre Vergangenheit und wohl auch neben dem meinen ihre Gegenwart bedeuteten.

Das neue Jahr setzte fröhlich mit einem Polterabend in unserem Hause ein. Die Vermählung meiner Schwester mit meinem Kollegen Marcus Hajek stand bevor, nach jahrelanger, sozusagen geheimer Brautschaft, der endlich nach schwer besiegtem elterlichem Widerstand erst im Oktober vorigen Jahres die offizielle Verlobung gefolgt war. Denn sosehr mein Vater den jungen Arzt um seines Fleißes und seiner Begabung willen schätzte, – daß der ungarische Judenbub, der als sogenannter »Tägesser« in unser Haus Einlaß gefunden hatte, die Augen zu der Tochter des Professors und Regierungsrates zu erheben wagte, hatte ihm dieser nicht nur zu einer Zeit übelgenommen, da es vielleicht auch andere Väter in ähnlicher Lage getan hätten, sondern hat es ihm auch später niemals ganz verziehen, als sich der Schwiegersohn und Assistent schon auf dem Weg zu Wohlhabenheit und Ruhm befand und von einer Mißheirat nicht mehr die Rede sein konnte. So sehr war meines Vaters Sinn auf äußeren Glanz gestellt, so völlig hatte er der eigenen Jugend, des eigenen Lebenslaufs vergessen, daß er seine Tochter lieber einem ungeliebten, aber reichen Mann aus unseren oder besser noch höheren Kreisen zur Frau gegeben hätte als dem vorzüglichen, wenn auch äußerlich nicht strahlenden Bewerber,[312] den sie liebte. Meine Mutter, bei all ihrer Verständigkeit, hatte niemals eine andere Meinung als die ihres Gatten, und auch wir Brüder, bei aller Sympathie und Hochachtung für Hajek, hatten uns zum mindesten flau verhalten. Am 6. Januar fand die Hochzeit statt, ein einfaches Diner im kleinen Kreise folgte, und weder bei dieser Gelegenheit noch später konnte sich mein Vater entschließen, dem Schwiegersohn das Du anzutragen, den er zwar hochschätzte, doch dessen Umgangsformen, die allerdings mancherlei zu wünschen übrigließen, ihm wie manchen andern, auch uns Schwägern, zuweilen auf die Nerven gingen.

Sowohl auf dem Polterabend wie auf der Hochzeit war es Helene Herz, mit der ich mich fast ausschließlich beschäftigte; und immer wieder erwartete sie das Wort, zu dem ich mich niemals entschließen konnte. Nun, da der Fasching da war, traten zu den mannigfachen abendlichen Zerstreuungen, zum Besuch von Theater, Konzerten, Vergnügungslokalen, zu Kartenspiel und Geselligkeiten lauterer und stillerer Art auch noch Tanzunterhaltungen hinzu, unter denen in diesem Jahr das Kränzchen der Poliklinik einen eigenen Vermerk verdient, nicht etwa um seiner besonderen Pracht oder irgendeines persönlichen Erlebnisses willen, sondern darum, weil ich als Komiteemitglied genötigt war, in einer an sich zwar läppischen, aber durch die darin merkbare Spiegelung der allgemeinen politischen Verhältnisse charakteristischen Komödie mitzuagieren.

Wie üblich war das Kränzchen in den Wiener Zeitungen liberaler Richtung angekündigt worden, doch fand sich, entgegen dem Komiteebeschluß, eine Anzeige auch in dem christlichsozialen »Deutschen Volksblatt«, was auf die Eigenmächtigkeit eines Ausschußkollegen zurückzuführen war, der dem antisemitischen Flügel der poliklinischen Assistenten angehörte. In der nächsten Sitzung brachte ich die Angelegenheit zur Sprache, wobei ich nicht ermangelte, meiner Abneigung gegen die politische Färbung und den ignobeln Ton des Organs Ausdruck zu geben, als dessen Anhänger sich unser Kollege durch seine Handlungsweise demonstrativ bekannt hatte, und beantragte ein Mißtrauensvotum gegen ihn, das mit Stimmeneinheit angenommen wurde. Als man sich ein paar Tage nach dem Ball zu einer Schlußsitzung in einem Wirtshauszimmer der »Tabakspfeife« versammelte, verlangte nach Erledigung des geschäftlichen Teils mein Gegner von neulich das Wort, um – worauf[313] ich schon durch vertrauliche Mitteilungen vorbereitet war – die folgende Anschuldigung gegen mich vorzubringen: Entgegen der Tanzordnung, ja trotz des Widerspruches eines anderen Komiteemitgliedes, hatte ich dem Kapellmeister, der eben eine Quadrille intonieren wollte, die Weisung erteilt, einen Walzer, der eben starken Beifall gefunden hatte, zu wiederholen (oder vielleicht, da ich hier mein Gedächtnis als nicht ganz verläßlich empfinde, eine Schnellpolka statt eines Walzers zu spielen). Ich mußte zwar lächelnd eingestehen, daß ich tatsächlich so eigenmächtig vorgegangen war, doch entschuldigte ich mich damit, daß es zu einer Einberufung des Komitees nach Lage der Dinge an Zeit gefehlt und daß im übrigen mein Vorgehen die Laune der Tanzenden nicht gestört, ja eher erhöht und auch den Erfolg des Balls materiell kaum geschädigt habe. Ich mochte mich wohl angesichts der Kindlichkeit des Racheplans, der hier gegen mich geschmiedet wurde, in meiner Erwiderung überspöttisch ausgedrückt haben; – jedenfalls erklärte sich mein Gegner keineswegs als befriedigt, wurde in seinen Angriffen immer schärfer und unhöflicher und forderte kategorisch, daß ich, wie er sich wörtlich ausdrückte, zu Kreuze kriechen, das heißt, mich dem Komitee gegenüber wegen meines eigenmächtigen Vorgehens in aller Form entschuldigen solle. Dies verweigerte ich natürlich mit Entschiedenheit, worauf mein Gegner nichts anderes tun konnte, als ein Mißtrauensvotum gegen mich zu beantragen. Fünf Herren waren für mich, fünf gegen mich, der Präsident des Komitees, ein etwas opportunistisch angelegter Herr, entschied zu meinen Gunsten, wahrscheinlich nur darum, weil mein Vater Vizedirektor der Poliklinik war. Mein Gegner mit seinen Parteigenossen verließ das Lokal, ich kam jetzt erst dazu, mein Nachtmahl zu verzehren, das indes kalt geworden war, und bekam von zweien der mit mir zurückgebliebenen Kollegen, darunter meinem Freund Louis Mandl, ziemlich deutlich zu verstehen, daß die Angelegenheit ihres Erachtens keineswegs als abgetan gelten konnte. »Zu Kreuze kriechen«, wiederholte mein sonst so milder Freund Louis immer wieder, »ich will nicht hetzen, aber ich möchte mir das nicht gefallen lassen.« Ich aber ließ es mir gefallen, das heißt, ich verzichtete darauf, meinen Gegner zur Rechenschaft zu ziehen. Doch die törichten Reserveoffiziers- und Ritterlichkeitsbegriffe hatten zu jener Zeit sogar unsereinen so sehr verwirrt,[314] daß wir in irgendeinem bestimmten Fall auch das absolut Vernünftige keineswegs aus Vernunft, sondern im Grunde doch nur aus Feigheit taten. Und trotz meiner Überzeugung, daß es die heilloseste Albernheit gewesen wäre, um einer solchen Lappalie willen Leben, Gesundheit oder auch nur den Nagel des kleinen Fingers zu riskieren, – ich wurde doch geraume Zeit das Gefühl nicht los, daß ich eigentlich zu größerer Schneidigkeit verpflichtet und daß insbesondere Freund Kuwazl mit meinem Verhalten kaum zufrieden gewesen wäre. Und vor einem Offiziersehrenrat hätte es mir wohl passieren können, daß ich meine Charge um einige Jahre früher verloren hätte, als es mir im Buch des Schicksals vorgezeichnet stand.

Zu gleicher Zeit ungefähr – und man mag hier einen tieferen Zusammenhang finden –, am 13. März, war dem Meisterfechter unter meinen Freunden, Max Friedmann, das Unglück begegnet, einen guten Freund bei einer Fechtübung mittelst eines Degenstichs, der durch das Drahtgitter der Maske ins Auge drang, auf der Stelle zu töten. Wir verkehrten gerade damals ziemlich viel miteinander, besuchten insbesondere öfters gemeinsam Vergnügungslokale und Maskenbälle (die ich in diesem Jahr bevorzugte), und so erachtete ich es als eine Art Verpflichtung, am Tag nach dem Unfall mich teilnahmsvoll bei ihm einzufinden. Es berührte mich nun sonderbar, wie Max in den Gesprächen nicht nur mit mir, sondern auch mit den anderen Freunden, fast ohne seines unschuldigen Opfers zu gedenken, ausschließlich mit der Frage beschäftigt war, ob ihm die Gerichte etwas anhaben könnten oder nicht. Wir glaubten, ihn beruhigen zu dürfen, – tatsächlich wurde die Untersuchung mangels jedes strafbaren Tatbestandes schon nach wenigen Tagen eingestellt; und früher, als wir es für möglich gehalten, fand sich unser Freund Max wieder auf dem Fechtboden ein, um seine Übungen fortzusetzen.

Auf den Maskenbällen pflegte ich mich übrigens zu langweilen. Vielleicht besuchte ich sie nur, weil ich eine unüberwindliche Abneigung dagegen hatte, mich allzufrüh nach Hause zu begeben. Erst eine Redoute, auf die ich nach einer abendlichen Szene mit Jeanette und nach Erledigung irgendeiner Privatsoiree in später Nachtstunde kam, schien sich aussichtsvoller anzulassen. Gleich nach meinem Eintritt in den Saal, um halb drei Uhr früh, sah ich zu meiner angenehmen Überraschung[315] ein junges, bildhübsches Geschöpf an mir vorüberschweben, das ich ein paar Monate vorher auf der Straße angesprochen und seither nicht wiedergesehen hatte. Daß es gerade Kuwazl war, in dessen Armen sie an mir vorüberschwebte, minderte zwar ein wenig mein Entzücken, jedenfalls aber war ich es, der sie nach einer heiteren, zu dritt verbrachten Kaffeehausstunde im Fiaker bis an ihr Haus geleitete und von ihren zärtlich geküßten Lippen das Versprechen vernahm: »Dienstag komm' ich zu dir.« Sie kam zwar nicht, doch trafen wir in der nächsten Zeit etliche Male, wahrscheinlich nicht ganz zufällig, im Freien zusammen. Im gleichen Haus mit mir, als jüngster Sohn einer reichen Fabrikantenfamilie, wohnte ihr Geliebter, der es aber, wie sie behauptete, eigentlich nicht war, weil er den richtigen Augenblick versäumt hatte, es zu werden. Immerhin schien er sich ihr äußeres Wohlergehen angelegen sein zu lassen, wie man ihrer Kleidung anmerkte, die nicht nur, nach der Art einfacher Wiener Vorstadtmädeln aus bürgerlichem Haus, adrett und geschmackvoll war, sondern die höheren Ansprüche einer jungen Dame verriet, die sich fürs Theater ausbilden ließ. Für ihre anmutig schlanke, nicht allzu große Figur war das blonde Köpfchen fast zu klein geraten; aber das blasse Gesicht mit der Stumpfnase, den wie schmollend aufgeworfenen roten Lippen, den unruhigen, großen, grauen Augen, der blondüberkrausten Stirn war von so sinnlichem Reiz, daß man sich nur wünschte, es auf dem weißen Spitzenpolster zu sehen, für den es geschaffen war. Eines Nachmittags im März fand ich beim Nachhausekommen Kuwazl in meinem Wartezimmer, der mich stets in der Ordinationsstunde aufzusuchen pflegte, wo er ziemlich sicher war, mich allein zu finden, und im angeregten Gespräch mit ihm Fräulein Mizi Rosner, die nicht etwa erschienen war, ihr Redoutenwort einzulösen, sondern um sich an einer Halsentzündung, einer ganz echten, wenn auch recht leichten Halsentzündung, behandeln zu lassen. Sie kam noch oft zu gleicher Stunde wieder, als die Halsentzündung schon lange geheilt war, und machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, mich gerade in den Augenblicken, wo sie schon bereit schien, ihre Verpflichtungen gegenüber ihrem Geliebten, der es angeblich nicht war, zu vergessen, mich an meine eigene Geliebte zu erinnern und mir zu erklären, daß sie nie und nimmer die Meine werden wolle. War ich zärtlich mit ihr, so schien sie sich[316] beinahe hingeben zu wollen, wurde ich nun feuriger, so zeigte sie sich abwehrend feindselig, und je näher ich vor einer Weile meinem Ziel gewesen war, um so bösere Worte gab es beim Abschied. Vielleicht bedeutete für das liebe, blonde Kind der Hauptreiz unseres Beisammenseins das Bewußtsein, daß ihr Liebhaber – ob er es nun war oder nicht – im gleichen Hause mit mir wohnte, daß er um ihre Besuche bei dem jungen Arzt wußte und sich in Eifersucht verzehrte. Zuviel Psychologie übrigens! Sagen wir einfach: er war ein Narr, sie war ein kleines Luder, und ich war ungeschickt.

Ebenso wie Fräulein Mizi, nur mit großartigeren Phrasen, wie es einer dämonischen Frau zukommt, versagte sich Frau Adele meinen nicht allzu ungestümen Werbungen, die übrigens seit einiger Zeit, da ich mit dem Gatten – ich weiß nicht mehr, welchen Vorwand er für seine Eifersucht gefunden hatte – brouilliert war, meistens auf nachmittägigen Spaziergängen und auch sonst nicht unter den günstigsten Umständen stattfanden. Doch gab es hin und wieder auch ein romantischeres Beisammensein, wie etwa an jenem Frühlingsabend, an dem ich, nach einer der süß-abspannenden Stunden mit Fräulein Mizi, in einer abgelegenen Vorstadtgasse in einem geschlossenen Fiaker geduldig wartete, bis der Schlag sich öffnete, eine verschleierte Dame zu mir einstieg und uns der Wagen in eine dunkle Praterallee führte, wo wir hinter den verhängten Scheiben uns an den verwegensten Zärtlichkeiten ergötzten.

Und von ihr, der schönen Frau, die sich selbst so dämonisch erschien, als sie töricht von Geist und gewöhnlich von Seele war, ging's in die Vorstadt zu der einzigen, die mir im oberflächlichen Wortsinne ganz und der ich doch längst gar nicht mehr gehörte. Mitleid, Bequemlichkeit, Gewohnheit, nicht Liebe hielten mich bei Jeanetten fest. Noch gab es zuweilen Stunden, da wir uns in erinnerungsheißer Lust an- und ineinander drängten, doch beide fühlten wir, daß es zu Ende ging; und wie es dem Arzt geziemt, stellte ich in meinem Tagebuch fest, daß die Agonie begonnen habe. Ihre dummen Fragen, die mir einst als die beglückendsten Beweise ihrer Liebe gegolten, ihre Stimme, die mich einst fast körperlich erregt, ihre Berührung, die mich entzückt, – nun hatte dies alles keine andere Wirkung und Macht mehr über mich als die, mich zu enervieren. Sie wurde eifersüchtig oder stellte sich so an, als wenn sie es wäre; es[317] gab Szenen auf Szenen, sie bekam Herzkrämpfe, ich wußte, daß ich eigentlich erschüttert zu sein hätte, und war nur gepeinigt. Dann küßte sie mir die Hand, bat mich um Verzeihung, wir ruhten nebeneinander, ich verging vor Langeweile, aß Orangen und war geärgert, daß ich gleich wieder aufstehen mußte mitten in der Nacht, um nach Hause zu gehen. Und während ich sie in den Armen hielt, gedachte ich irgendeiner andern, sehnte mich nach einer andern, irgendeiner andern, einer Dirne meinethalben, – nur daß ich endlich wieder andere Lippen küssen, andere Seufzer hören durfte als die Jeanettens. Ein kleines Geschichtchen von Catulle Mendès fiel mir ein, »Le troisième oreiller«, – eine sentimentale Plauderei von dem dritten Polster, der unsichtbar neben den zwei Polstern jedes Liebespaares liegt; – aber ich zögerte noch, die Geschichte weiterzuträumen und auch des vierten Polsters gewahr zu werden, auf den Jeanette den Kopf eines anderen Liebhabers träumen mochte, wenn sie es notwendig hatte, ihn nur zu träumen. Und so lag ich bis zum grauenden Frühlingsmorgen, erhob mich endlich, blickte in den Irrenhausgarten, der drüben im Dämmer lag, küßte die Schlummernde zum Abschied, eilte die vier Treppen hinab, spazierte nach Hause, begegnete andern Frühaufstehern von Beruf und Laune, – Arbeitern, Bäckern, Mägden, Fleischhauern, Bedienerinnen, befrackten Herren mit hinaufgeschlagenem Kragen, kam nach Hause, hatte eben noch Zeit, mich umzukleiden, mein Frühstück zu nehmen und endlich auf die Poliklinik zu eilen, wo die Kranken und wohl auch schon mein Vater warteten, worauf in gewohntem Trott das Leben weiterging.

Und doch, ganz der gewohnte Trott war es nicht mehr. Denn es hatte ja fast den Anschein, als wenn ich langsam, sehr langsam freilich, bald auf diesem, bald auf jenem Wege vorwärtskommen sollte. Ich hatte begonnen, mich mit Hypnotismus zu beschäftigen, für den damals, vor allem durch die Arbeiten von Charcot und Bernheim, das Interesse rege geworden war; es war mir gelungen, einige Fälle von funktioneller Aphonie, das heißt von Stimmlosigkeit ohne nachweisliche organische Veränderung an den stimmbildenden Organen, mittelst Hypnose oder durch Suggestion allein erfolgreich zu behandeln, und ich publizierte die darauf bezüglichen Krankengeschichten in der »Internationalen Klinischen Rundschau«. Da ich einige vortreffliche[318] Medien gefunden, beschränkte ich mich nicht darauf, diese auf meinem laryngologischen Spezialgebiet zu verwenden, sondern versuchte an ihnen, nach dem Muster bekannter Hypnotiseure, allerlei psychologische Experimente, die, an sich nicht uninteressant, doch nichts wirklich Neues boten und von mir zwar aufgezeichnet, aber nicht wissenschaftlich durchgearbeitet wurden. Vom ärztlichen Standpunkt die erfreulichste Leistung war es gewiß, wenn ich zum Beispiel, ohne mein Medium in Schlaf zu versetzen, einfach durch Aufforderung partielle Anästhesie herbeizuführen vermochte, so daß schmerzlose kleine Operationen in Kehlkopf und Nase, in einem Fall sogar schmerzlose Zahnextraktionen, möglich wurden. Anregender, aber ohne erhebliche Bedeutung für die Medizin war es, wenn ich mein Medium im hypnotischen Zustand allerlei Situationen und Empfindungen durchleben ließ, wie es mir eben beliebte, sie zu erfinden, oder gar von einem Tag zum andern einen Mordversuch gegen mich selbst arrangierte, vor dem ich mich freilich, da ich auf die Minute darauf vorbereitet und er statt mit einem Dolch mit einem stumpfen Papiermesser unternommen ward, erfolgreich zu schützen vermochte. Zu meinen Experimenten fanden sich nicht nur die engeren Abteilungskollegen, sondern gelegentlich auch andere Ärzte der Poliklinik und der übrigen Krankenhäuser ein. Die am häufigsten erschienen, verbreiteten hämisch, daß ich an der Poliklinik »Vorstellungen« veranstalte, was mich vorerst einmal veranlaßte, meine Experimente für die größere Öffentlichkeit einzustellen, wenn ich sie auch noch eine Weile im engeren Kreise fortsetzte. Aber auch diesmal fehlte mir die Konsequenz, auf dem begonnenen Wege fortzuschreiten, und als ich überdies zu merken glaubte, daß gerade meine interessantesten Medien durch die Wiederholung der Versuche nicht nur in ihrer Willenskraft, sondern auch in ihrer körperlichen Gesundheit geschädigt wurden, stand ich von weiteren Experimenten rein psychologischen Charakters ab und wendete die Hypnose nur mehr fallweise, fast ausschließlich zu festumrissenen Heilzwecken an.

Indes hatte auch mein letzter Schritt in die literarische Öffentlichkeit, so schüchtern er an sich gewesen, mehr Folge gehabt als alle meine früheren. Ich war der Einladung des Doktor Mamroth zum Besuch in der Redaktion nachgekommen und hatte bei dieser Gelegenheit seinen Vertreter und Neffen, den[319] Schreiber jenes freundlichen Annahmebriefes, kennengelernt, Herrn Doktor Paul Goldmann, einen vierundzwanzigjährigen, liebenswürdigen Herrn in Lodenrock und Nachthemd mit Quasten, untersetzt, beleibt, ein ganz klein wenig bucklig, mit Kraushaar und mit hellen, schönen, blauen Augen. Wir verstanden einander sofort aufs allerbeste, hatten über die meisten Dinge des Lebens und der Kunst die gleichen Ansichten, und fast ebenso warm wie Paul Goldmann kam Fedor Mamroth mir entgegen, ein kluger, wohlwollender, unterrichteter Mann, ein Journalist der vortrefflichsten Sorte, dem das Leben damals durch eine unglückliche Ehe und durch Sorgen schwer genug gemacht war und der sein persönliches Mißgeschick und, obwohl Kritiker, auch seine im Verhältnis zu Talent und Leistung viel zu geringen Erfolge niemanden, auch glücklicheren Autoren niemals entgelten ließ. Der Unterschied der Lebensumstände und des Alters brachte es mit sich, daß ich ihm, trotzdem ich auch ärztlich manchmal in den Kreis seiner Familie Eingang fand, nicht so nahe trat als seinem Neffen, mit dem mich durch viele Jahre eine der stärksten Beziehungen meines Lebens verbunden hat und von dem daher in diesen Blättern, wenn sie fortgesetzt werden sollten, noch öfters die Rede sein wird.

»Der Wahnsinn meines Freundes Y.« erschien am 15. Mai in der »Schönen blauen Donau«, am 1. Juni ein anderer Beitrag, »Amerika« betitelt, – zugleich die einzige meiner Arbeiten, die ich Jeanette hätte widmen können. Beide in der Führung noch dilettantisch genug, mit sentimentalem Einschlag, aber doch einer gewissen Eigenart nicht gänzlich entbehrend. Auch die »Episode« wurde bald darauf in der »Schönen blauen Donau« abgedruckt; schon vorher aber, im Manuskript, hatte ich sie Sonnenthal vorgelegt, der damals das Burgtheater provisorisch leitete und das Stückchen sehr freundlich beurteilte, aber den Schluß für das deutsche Publikum nicht bühnenkräftig genug fand. Auch bei gelegentlicher Vorlesung im Freundeskreis, so im Hause Louis Friedmanns, errang das kleine Stückchen Beifall, und schmeichelhafter als jeder andere Erfolg war für mich, daß Olga das Manuskript, das ich ihr, ebenso wie ich's mit meinen früheren Versuchen getan, übersandt hatte, in einer Nacht eigenhändig kopierte und mir die schöne Abschrift zum Geschenk machte.[320]

In meiner Korrespondenz mit ihr waren in der letzten Zeit wochenlange Pausen eingetreten, in meinen Briefen aber blieb noch immer anspielungshaft ein Ton festgehalten, als wäre das einzige wahre und starke Gefühl meines Herzens meine Liebe zu ihr; und aus den ihren durfte ich nach wie vor herauslesen, daß auch in ihr sich nichts verändert habe, trotz des gelegentlichen, besonders in der Jagdsaison sich steigernden aristokratischen Verkehrs, dessen sie öfters mit einer nicht ganz überzeugenden Selbstironie Erwähnung zu tun pflegte. Nachdem fast ein Jahr seit jenem Reichenauer Besuch zwischen Berlin und London verstrichen war, schrieb sie mir im Frühjahr 89, daß sie mich beim Derby-Rennen zu treffen hoffe. Aber es war keine glückliche Stunde, in der wir einander wiederbegegneten. Nur ein paar Worte wechselte ich mit ihr im Beisein ihres Vaters; – plötzlich entließ sie mich mit einem kühl-gnädigen »Auf Wiedersehen«, und ich wäre für den Rest des Nachmittags kaltgestellt gewesen, wenn nicht von anderswo ein Hauch der Wärme über mich gekommen wäre. Dieser Hauch aber kam nicht von Adele, die zwischen dem Gatten und dem Liebhaber, der es angeblich nicht war, mehr wie ein Typus als wie eine lebendige Gestalt über den Rasen schritt und die ich nur im Vorübergehen begrüßen durfte, – sondern von Helene Herz, die jungmädchenhaft und hold neben mir einherging, gerade als mein Gruß von Adele mit schwimmenden Augen erwidert wurde. »Ihre Freundin?« fragte Helene sanft. – »Wie?« fragte ich, als wüßte ich nicht recht, was denn ein holdes junges Mädchen mit solch einer Frage wohl meinen mochte. »Sie haben mich ganz gut verstanden«, sagte sie und blickte unter dunklen Wimpern vor sich hin. Ich erwiderte nichts. Alle vernünftigen Leute redeten mir zu, ich solle sie heiraten, vor allem ihre intimste Freundin, meine Cousine Else, die Tochter meines Onkels Edmund, ein kluges, herbes, hübsches Wesen, das mich recht gern hatte und mich nebstbei ein wenig verachtete. Und ich selbst gestand mir ein, daß von allen Zukunftsaussichten eine Ehe mit Helene mir im Grunde doch die weitaus sympathischeste wäre. Warum also entschloß ich mich nicht, um sie anzuhalten? Gewiß nicht um Jeanettens willen, obzwar diese mir erst kürzlich geschworen hatte, der Tag meiner Hochzeit werde ihr Todestag sein; und noch weniger waren es die andern, die mich von diesem Schritt zurückhielten, diese andern, um die ich[321] mich ohne rechte Energie bemühte und nach denen mich ohne Leidenschaft verlangte, nicht Olga, das Abenteuer meines Lebens, das mir nun ziemlich verblaßt erschien, nicht Adele, die dämonische Gans, nicht Mizi Rosner, das lüstern-spielerische, trotzig-süße Mädel, – und gewiß nicht jene Malvine, die immer wieder in den Blättern meines Tagebuchs auftaucht, sich bald ein Gratisbillet für das Poliklinikkränzchen abholt und sich durch kleine Zärtlichkeiten während des Tanzes revanchiert, bald als Sängerin in einem Konzert mitwirkt, dem ich wahrscheinlich beigewohnt habe, und die mir so völlig aus dem Gedächtnis entschwunden ist, als wäre ich ihr nie begegnet; – keine von allen diesen, – und am allerwenigsten war der Grund meines Zögerns derjenige, den ich mir selber einbildete, daß Helene nicht reich genug für mich und daß ich auf eine reichere Frau angewiesen sei. Der wahre Grund war der, daß es noch zu früh für mich war, um in den Ehestand zu treten, daß ich noch als Junggeselle allerlei zu erleben hatte, um das zu werden, was ich werden sollte, – so viel oder so wenig es am Ende war.

Das klingt nach Fatalismus und ist doch keiner. Ich glaube nicht an eine Vorsehung, die sich um Einzelschicksale kümmert. Aber ich glaube, es gibt »einzelne«, die um sich wissen, auch dann, wenn sie bestenfalls zu ahnen vermeinen, und die aus freier Wahl ihre Lebensentscheidungen treffen, auch dort, wo sie denken, nur vom Zufall der Ereignisse und von Stimmungen getrieben worden zu sein, und die stets auf dem rechten Weg sind, auch wo sie sich anklagen, geirrt oder irgend etwas versäumt zu haben. Mit all dem ist freilich nicht gesagt, daß gerade ich ein Recht habe, mich zu diesen einzelnen zu zählen; aber wie sollte, ja wie könnte man überhaupt leben, schaffen und sich manchmal des Lebens freuen, wenn man sich's nicht einbildete, zu diesen Auserwählten zu gehören?

Quelle:
Schnitzler, Arthur: Jugend in Wien. Wien, München, Zürich 1968, S. 277-322.
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