Siebente Szene

[806] Felix, Johanna, Julian, Wegrat. Dann Stubenmädchen.


WEGRAT reicht Julian die Hand. Mein lieber Freund! Ich freue mich sehr.

JULIAN. Erst gestern nach meiner Ankunft habe ich es erfahren – durch Sala. Ich brauche dir nicht erst zu sagen ...

WEGRAT. Ich danke dir für deine Teilnahme. Ich danke dir herzlich. – Setz' dich doch, Julian.

JULIAN. Du wolltest fortgehen?

WEGRAT. Es ist nicht so eilig; erst um zwölf hab' ich auf der Akademie zu tun. Johanna, möchtest du so gut sein, mir für alle Fälle einen Wagen holen zu lassen –?

JOHANNA ab.

WEGRAT setzt sich.

JULIAN ebenso.

FELIX steht an den Kamin gelehnt.

WEGRAT. Nun, du bist ja diesmal recht lange fortgeblieben.

JULIAN. Mehr als zwei Jahre.

WEGRAT. Wärest du nur um zehn Tage früher gekommen, so hättest du sie noch einmal gesehen. Es kam so schnell; – wenn auch nicht unerwartet.[806]

JULIAN. Ich habe gehört.

WEGRAT. Und nun bleibst du wohl wieder daheim, nicht wahr?

JULIAN. Einige Zeit. Wie lange, kann ich freilich nicht sagen.

WEGRAT. Nun ja. Programme zu machen, ist deine Sache nie gewesen.

JULIAN. Ja. Dagegen hab' ich eine gewisse Abneigung. Pause.

WEGRAT. Ach Gott, mein lieber Freund – wie oft habe ich in der letzten Zeit an dich gedacht! –

JULIAN. Und ich ...

WEGRAT. Du hast nicht so oft Gelegenheit dazu ... Aber ich ... wenn ich das Gebäude betrete, wo ich jetzt in Amt und Würden schalte, fällt es mir natürlich manchmal ein, wie wir als junge Leute nebeneinander im Modellsaal gesessen sind, mit tausend Plänen und Hoffnungen.

JULIAN. Das sagst du so melancholisch. Es haben sich doch manche erfüllt.

WEGRAT. Manche ... ja ... Und man möchte doch wieder jung sein, selbst um den Preis der gleichen Sorgen und Kämpfe ...

JULIAN. Und selbst auf die Gefahr hin, allerlei Schönes noch einmal durchmachen zu müssen.

WEGRAT. Wahrhaftig, das trägt sich am allerschwersten, wenn es Erinnerung geworden ist. – Du warst wieder in Italien?

JULIAN. Ja, auch in Italien war ich.

WEGRAT. Ich bin nun lange nicht mehr dort gewesen. Seit wir zusammen mit dem Ränzel auf dem Rücken durchs Ampezzaner Tal gewandert sind – nach Pieve und bis hinunter nach Venedig. Erinnerst du dich noch? So hell hat die Sonne nicht wieder geschienen.

JULIAN. Es sind wohl beinahe dreißig Jahre her.

WEGRAT. Nein, so lang ist es nicht. Du warst ja damals schon ein bekannter Mann. Du hattest gerade das schöne Bild von Irene Herms gemalt. Es war im Jahr, bevor ich heiratete.

JULIAN. Ja, ja.


Pause.


WEGRAT. Erinnerst du dich noch an den Sommermorgen, an dem du mich zum erstenmal in die Kirchau begleitet hast?

JULIAN. Natürlich.

WEGRAT. Wie wir auf dem leichten Landwägelchen durch das breite sonnige Tal fuhren? Und erinnerst du dich an das kleine Gärtchen am Hügelhang, wo du Gabriele und ihre Eltern kennen lerntest?[807]

FELIX mit beherrschter Bewegung. Vater, steht denn das Haus noch, in dem die Mutter damals wohnte?

WEGRAT. Nein, längst nicht mehr. Man hat eine Villa hingebaut. Vor fünf oder sechs Jahren waren wir nämlich zum letztenmal dort und haben das Grab deiner Großeltern besucht. Alles hat sich dort verändert, nur der Friedhof nicht ... Zu Julian. Weißt du noch, Julian, wie wir einmal an einem schwülen, wolkigen Nachmittag auf der niederen Friedhofsmauer gesessen sind und ein so merkwürdiges Zukunftsgespräch geführt haben?

JULIAN. Der Tag ist mir sehr deutlich im Gedächtnis. Aber worüber wir sprachen, erinnere ich mich nicht mehr.

WEGRAT. Die Worte sind mir auch entschwunden, aber ich weiß noch, es war ein sonderbares Gespräch ... Die Welt tat sich gewissermaßen weiter auf als sonst. Und ich spürte eine Art von Neid auf dich, wie manchmal zu jener Zeit. In mir erwachte ein Gefühl, als könnt' ich auch alles, – wenn ich nur wollte. Es gab so viel zu sehen, zu erfahren, – das Leben strömte so mächtig hin; man mußte nur etwas frecher sein und selbstbewußter und sich hineinwerfen ... Ja, so war mir zu Mute, während du redetest ... Und da kam Gabriele heraufgeschritten, auf dem schmalen Weg zwischen den Akazien, vom Dorfe her, den Strohhut in der Hand, und nickte mir zu. Und alle meine Zukunftsträume schwebten nur mehr um sie, und die ganze Welt war wieder wie in einen Rahmen gefaßt und war doch groß genug und schön genug ... Wo nimmt das nur mit einem Male wieder seine Farben her? Alles war doch schon so gut wie vergessen, und nun, seit sie tot ist, schimmert es wieder so lebendig, daß man erschrecken könnte ... Ah, man sollte lieber nicht dran denken. Wozu? Wozu? Pause. Er geht zum Fenster.

JULIAN in Befangenheit, die er zu überwinden sucht. Es ist klug und mutig von dir, daß du so rasch wieder deine Tätigkeit aufgenommen hast.

WEGRAT. Wenn man sich einmal entschlossen hat, weiter zu existieren –?! Arbeit ist doch das einzige, was einem über dieses Gefühl des Alleinseins hinweghilft ... dieses Alleingelassenseins.

JULIAN. Mir ist, als wenn dich der Schmerz ein wenig ungerecht machte gegenüber – manchem, was dir geblieben.

WEGRAT. Ungerecht –? Nein, ich will es wirklich nicht sein. Ihr[808] nehmt es mir doch nicht übel, Kinder ...! Nicht wahr, Felix, du verstehst mich ganz gut? Es gibt so vieles, was die jungen Leute von uns fortruft – fortlockt – fortreißt von allem Anbeginn. Wir führen ja doch nur einen Kampf um unsere Kinder von dem Augenblick an, da sie überhaupt da sind – und einen ziemlich aussichtslosen obendrein. Das liegt im Laufe der Welt: Sie können uns ja nie gehören. Und was die andern Menschen anbelangt ... auch unsere Freunde sind doch nur Gäste in unserem Leben, erheben sich vom Tisch, wenn abgespeist ist, gehen die Treppe hinab und haben – wie wir – ihre eigene Straße und ihr eigenes Geschäft. Das ist ja auch ganz natürlich ... Was nicht hindert, Julian, daß man sich freut – aufrichtig freut, wenn einer den Weg wieder zu uns findet. Und gar einer, der einem wirklich sein Lebtag sehr wert gewesen. Das kannst du mir glauben, Julian. Händedruck. Und nicht wahr, so lang du in Wien bleibst, seh' ich dich wieder öfters bei mir? Du würdest mir einen rechten Gefallen erweisen.

JULIAN. Gewiß werd' ich kommen.

STUBENMÄDCHEN tritt ein. Der Wagen ist da, Herr Professor. Ab.

WEGRAT. Ich komme schon. Zu Julian. Du hast mir viel zu erzählen. Du warst ja so gut wie verschollen. Es interessiert mich natürlich zu wissen, was du alles gemacht hast – und noch mehr, was du vorhast. Felix sprach uns von einigen sehr interessanten Entwürfen, die du ihm gezeigt hast.

JULIAN. Ich begleite dich, wenn es dir recht ist.

WEGRAT. Danke. Aber noch freundlicher wäre es von dir, wenn du gleich bei uns bliebst und mit uns zu Mittag speisen wolltest.

JULIAN. Nun ...

WEGRAT. Ich bin rasch fertig; ich habe heute nur rein administrative Angelegenheiten zu erledigen – ein paar Unterschriften. In Dreiviertelstunden bin ich zurück. Indes leisten dir die Kinder Gesellschaft, wie so oft in früherer Zeit ... Kinder! – – Also du bleibst? Auf Wiedersehen. Ab.


Quelle:
Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Band 1, Frankfurt a.M. 1962, S. 806-809.
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