Erste Szene

[814] Von der Terrasse aus treten auf Sala und Johanna. Johanna schwarz gekleidet, Sala in grauem Anzug, dunklen Überzieher um die Schulter geworfen. – Sie gehen langsam die Treppe hinab.


SALA. Es wird dir ein wenig kühl sein. Er macht ein paar Schritte ins Zimmer zurück, nimmt ein Cape, das dort bereit lag, legt es Johanna um die Schultern. Sie kommen allmählich in den Garten herab.

JOHANNA. Weißt du, was ich mir einbilde? ... Daß dieser Tag heute unser Tag ist – uns gehört, uns ganz allein. Wir haben ihn gerufen, und wenn wir wollten, könnten wir ihn halten ...[814] Die andern Menschen wohnen heute nur wie zu Gast in der Welt. Nicht wahr? ... Es kommt wohl daher, daß du einmal von diesem Tag gesprochen hast.

SALA. Von diesem –?

JOHANNA. Ja ... als die Mutter noch lebte ... Und nun ist er wirklich da. Die Blätter sind rot, der goldene Dunst liegt über den Wäldern, der Himmel ist blaß und fern, – und der Tag ist noch viel schöner und trauriger, als ich ihn je hätte ahnen können. Und ich erlebe ihn in deinem Garten und spiegle mich in deinem Teich. Sie steht dort und blickt hinab. Und doch werden wir ihn so wenig halten können, diesen goldenen Tag, als das Wasser hier mein Bild behalten wird, wenn ich gehe.

SALA. Sonderbar, in dieser klaren, lauen Luft weht doch schon eine Ahnung von Winter und Schnee.

JOHANNA. Was kümmert's dich? Wenn diese Ahnung hier Wahrheit wird, bist du längst in einem andern Frühling.

SALA. Wie meinst du das?

JOHANNA. Nun, dort wo ihr hingeht, gibt's doch wohl keinen Winter wie bei uns.

SALA nachdenklich. Nein, keinen Winter wie bei uns. Pause. Und du?

JOHANNA. Ich –?

SALA. Ich meine, wenn ich nun fort bin, was wirst du tun?

JOHANNA. Wenn du fort bist –? Sie betrachtet ihn. Er schaut in die Ferne. Warst du nicht lange fort von mir? Und bist du's nicht am Ende auch in diesem Augenblick?

SALA. Was sprichst du denn da? Ich bin bei dir ... Was wirst du tun, Johanna?

JOHANNA. Ich habe dir's ja schon gesagt: Fortgehen – wie du.

SALA schüttelt den Kopf.

JOHANNA. So bald als möglich. Jetzt hab' ich noch den Mut dazu. Wer weiß, was später aus mir wird, wenn ich hierbleibe.

SALA. Solang man jung ist, stehen alle Türen offen, und vor jeder Türe fängt die Welt an.

JOHANNA. Aber erst, wenn man an niemandem hängt, ist die Welt weit und der Himmel unendlich. Und darum will ich fort.

SALA. Fort – das sagt sich so leicht. Dazu braucht es doch Vorbereitungen aller Art und irgend einen Plan. Du sprichst aber dieses Wort aus, als wenn du dir nur Flügel anzulegen brauchtest, um in die Ferne zu fliegen.[815]

JOHANNA. Entschlossen sein – heißt auch Flügel haben.

SALA. Hast du gar keine Angst, Johanna?

JOHANNA. Eine Sehnsucht ohne Angst, das wäre eine wohlfeile Sehnsucht, der man gar nicht wert wäre.

SALA. Wohin wird sie dich führen?

JOHANNA. Ich werde meinen Weg finden.

SALA. Man kann sich den Weg wählen, aber nicht die Menschen, denen man begegnet.

JOHANNA. Denkst du, ich weiß nicht, daß es mir nicht bestimmt sein kann, nur Schönes zu erleben? Auch Häßliches, auch Gemeines steht mir bevor.

SALA. Und wie wirst du es tragen? ... Wirst du es ertragen können?

JOHANNA. Ich werde ja nicht immer wahr sein wie zu dir. Ich werde lügen, – und ich freu' mich darauf. Ich werde nicht immer froh sein und nicht immer klug. Ich werde irren und leiden. So muß es wohl sein.

SALA. Du weißt das alles im voraus, und doch ...

JOHANNA. Ja.

SALA. Und warum? ... Warum gehst du fort, Johanna?

JOHANNA. Warum ich fortgehe? ... Ich will später einmal vor mir selbst erschauern müssen. So tief erschauern, wie man es nur kann, wenn einem nichts fremd geblieben ist. So wie es dir geschehen muß, wenn du auf dein Leben zurückblickst. Nicht wahr?

SALA. Manchmal wohl. Aber gerade in solchen Augenblicken des Schauerns liegt eigentlich nichts hinter mir zurück, – alles ist wieder gegenwärtig. Und das Gegenwärtige ist vergangen. Er sitzt auf der Bank.

JOHANNA. Wie meinst du das?

SALA die Hand vor den Augen, schweigt.

JOHANNA. Was ist dir? Wo bist du?


Leiser Wind, Blätterrauschen und -fallen.


SALA. Ich bin ein Kind und reite auf dem Ponny übers Feld. Mein Vater ist hinter mir her und ruft. Dort am Fenster wartet meine Mutter; sie hat einen grauen Seidenshawl ums dunkle Haar und winkt mir zu ... Und ich bin ein junger Leutnant auf Manöver und steh' auf einem Hügel und melde meinem Obersten, daß hinter dem Gehölz die feindlichen Jäger lauern, bereit, hervorzubrechen, und unten in der Mittagssonne seh' ich Bajonette und Knöpfe leuchten ... Und ich liege einsam[816] im treibenden Kahn und schau' in die dunkelblaue Sommerluft, und unbegreiflich schöne Worte reihen sich mir aneinander, – so schön, wie ich sie nie mals habe niederschreiben können ... Und ich ruhe auf einer Bank in dem schwülen Park am See von Lugano, und Helene sitzt neben mir; sie hat ein Buch mit rotem Umschlag in der Hand; drüben unter dem Magnoliabaum spielt Lilli mit dem blonden englischen Buben, und ich höre, wie sie plaudern und lachen ... Und ich spaziere mit Julian über raschelnden Blättern langsam auf und ab, und wir reden über ein Bild, das wir gestern gesehen haben. Und ich sehe das Bild: Zwei alte Matrosen mit zermürbten Gesichtern; sie sitzen auf einem umgewandten Nachen, den trüben Blick aufs unendliche Meer hinaus. Und ich fühle ihr Elend tiefer, als der Maler, der er gemalt hat, tiefer, als sie selber es fühlten, wenn sie lebendig wären ... All das, all das ist da – wenn ich nur die Augen schließe, ist mir näher als du, Johanna, wenn ich dich nicht sehe und wenn du schweigst.

JOHANNA hat die Augen mit Webmut auf ihn gerichtet.

SALA. Gegenwart ... was heißt das eigentlich? Stehen wir denn mit dem Augenblick Brust an Brust, wie mit einem Freund, den wir umarmen, – oder mit einem Feind, der uns bedrängt? Ist das Wort, das eben verklang, nicht schon Erinnerung? Der Ton, mit dem eine Melodie begann, nicht Erinnerung, ehe das Lied geendet? Dein Eintritt in diesen Garten nicht Erinnerung, Johanna? Dein Schritt über diese Wiese dort nicht gerade so vorbei wie der Schritt von Wesen, die längst gestorben sind?

JOHANNA. Nein, es soll nicht so sein. Es macht mich traurig.

SALA wieder in der Gegenwart. Warum? ... das sollt' es nicht Johanna. Gerade in solchen Stunden wissen wir, daß wir nichts verloren haben und eigentlich nichts verlieren können.

JOHANNA. Ach, hättest du doch alles vergessen und verloren und könnte ich dir alles sein!

SALA beinah erstaunt. Johanna –

JOHANNA leidenschaftlich. Ich liebe dich. Pause.

SALA. In wenig Tagen bin ich fort, Johanna. Du weißt es ... du hast es gewußt.

JOHANNA. Ich weiß es. Warum wiederholst du es? Denkst du vielleicht, ich will mich mit einemmal an dich hängen wie ein verliebtes Ding und von Ewigkeiten träumen? – Nein, das[817] ist wahrhaftig nicht meine Art, o nein! ... Aber ich wollt' es dir doch einmal sagen, daß ich dich lieb habe. Einmal darf ich's doch? – Hörst du? Ich liebe dich. Und ich möchte, daß du es später einmal geradeso hörst, wie ich es jetzt sage – in irgend einem andern Augenblick, schön wie dieser ... und in dem wir beide nichts mehr voneinander wissen werden.

SALA. Wahrhaftig, Johanna, dessen darfst du sicher sein, daß der Ton deiner Stimme mir niemals entschwinden wird. – Aber wozu von ewiger Trennung reden? Vielleicht sehen wir uns später wieder ... in drei Jahren ... oder in fünf ... Lächelnd. Dann bist du vielleicht eine Prinzessin geworden und ich Fürst einer versunkenen Stadt ... Warum schweigst du?

JOHANNA nimmt das Cape fester um.

SALA. Fröstelt dich?

JOHANNA. O nein. – Aber ich muß nun gehen.

SALA. Eilst du so?

JOHANNA. Es wird spät. Ich möchte zu Hause sein, eh' mein Vater nach Hause kommt.

SALA. Wie sonderbar! – Heute eilst du nach Hause und willst dich nicht verspäten, damit dein Vater sich nicht ängstigt, und in ein paar Tagen ...

JOHANNA. Dann wird er mich auch nicht mehr erwarten. Leb' wohl, Stephan.

SALA. Auf morgen also.

JOHANNA. Ja, auf morgen.

SALA. Du kommst wieder durch die Gartentür, natürlich.

JOHANNA. Bleibt nicht ein Wagen vor dem Hause stehen?

SALA. Die Türen sind abgeschlossen. Es kann niemand in den Garten kommen.

JOHANNA. Also leb' wohl.

SALA. Auf morgen.

JOHANNA. Ja. Sie sind im Gehen.

SALA. Höre, Johanna. – Wenn ich dir nun sagte: Bleibe.

JOHANNA. Nein, ich muß jetzt fort.

SALA. Nicht so mein' ich's.

JOHANNA. Wie denn?

SALA. Ich meine, wenn ich dich bäte, bei mir zu bleiben – für ... lange.

JOHANNA. Du machst sonderbare Scherze.

SALA. Ich scherze nicht.

JOHANNA. Vergißt du, daß du – fortfährst?[818]

SALA. Ich bin nicht gebunden. Nichts hindert mich, zu Hause zu bleiben, wenn ich nicht gelaunt bin, fortzugehen.

JOHANNA. Um meinetwillen?

SALA. Das sag' ich nicht. Um meinetwillen vielleicht.

JOHANNA. O nein, du darfst darauf nicht verzichten. Du würdest es mir nicht verzeihen, daß ich dir das genommen habe.

SALA. Glaubst du? Lauernd. Und wenn wir beide gingen?

JOHANNA. Wie?

SALA. Wenn du mit mir die Reise wagtest? Nun, es gehört ein bißchen Kourage dazu, natürlich. Du wärst vielleicht nicht die einzige Frau. Die Baronin Golobin geht auch mit, wie ich höre.

JOHANNA. Sprichst du im Ernst?

SALA. Ganz im Ernst. Ich frage dich, ob du die Reise mit mir machen willst ... als meine Frau natürlich, um auch von diesen äußerlichen Dingen zu reden.

JOHANNA. Ich sollte –?

SALA. Was bewegt dich so sehr?

JOHANNA. Mit dir? ... Mit dir?

SALA. Mißversteh mich nicht, Johanna. Du sollst deswegen nicht für alle Zeit an mich gebunden sein. Wenn wir wieder zurückkommen, können wir einander Lebwohl sagen – ohne weiteres. Es ist eine ganz einfache Sache. Denn alle deine Träume kann ich dir nicht erfüllen – das weiß ich ganz gut ... Du brauchst nicht gleich zu erwidern. Stunden wie diese verleiten allzu leicht zu Worten, die am nächsten Tage nicht mehr wahr sind. Ich möchte dich nie ein solches Wort reden hören.

JOHANNA hat ihn während dieser Worte angeschaut, als wollte sie seine Worte eintrinken. Nein, ich sage nichts ... ich sage gar nichts.

SALA sieht sie lang an. Du wirst darüber nachdenken und wirst mir morgen antworten.

JOHANNA. Ja. Sie sieht ihn lang an.

SALA. Was ist dir?

JOHANNA. Nichts. – Auf morgen. Leb' wohl. Er geleitet sie. Sie gebt durch die Gartentür ab.

SALA kommt zurück und bleibt vor dem Tisch stehen. Als wollt' ich ihr Bild drin suchen ... Warum war sie so bewegt? ... Glück? – Nein, das war nicht Glück ... Warum hat sie mich so angesehen? Warum ist sie erschrocken? In dem Blick lag etwas wie Abschied für ewig. Erschrickt plötzlich. Sollte es so mit mir stehen? ...[819] Aber woher kann sie's wissen? ... Dann wissen es andre auch –! Er starrt vor sich hin.


Er geht langsam die Terrasse hinauf, dann in den Salon, kommt gleich wieder, mit Julian.


Quelle:
Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Band 1, Frankfurt a.M. 1962, S. 814-820.
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