Achte Szene

[825] Julian und Sala.


JULIAN. Sie halten es für zweifellos, daß Ihre Schritte beim Grafen Ronsky Erfolg haben werden?

SALA. Ich habe schon vorher vom Grafen bestimmte Zusicherungen erhalten, sonst hätte ich Felix keine Hoffnungen gemacht.

JULIAN. Warum haben Sie das getan, Sala?

SALA. Wahrscheinlich, weil mir Felix sehr sympathisch ist, und ich gern in angenehmer Gesellschaft reise.

JULIAN. Und Sie haben gar nicht daran gedacht, daß mir der Gedanke schmerzlich ist, ihn zu verlieren?

SALA. Was soll das, Julian! Verlieren kann man doch nur, was[825] man besessen hat. Und besitzen kann man nur, worauf man sich ein Recht erwarb. Das wissen Sie so gut wie ich.

JULIAN. Verleiht es nicht schließlich auch ein gewisses Anrecht auf jemanden, wenn man seiner bedarf? – Verstehen Sie es denn nicht, Sala, daß er meine letzte Hoffnung ist? ... Daß ich überhaupt niemand und nichts mehr habe außer ihm? ... Daß ich nach allen Seiten ins Leere greife? ... Daß mir vor der Einsamkeit graut, die mich erwartet?

SALA. Und was hülfe es Ihnen, wenn er bliebe? Was hülfe es Ihnen selbst, wenn er irgend etwas wie kindliche Zärtlichkeit zu Ihnen empfände? ... Was hülfe er Ihnen oder irgend ein anderer als er? ... Es graut Ihnen vor der Einsamkeit? ... Und wenn Sie eine Frau an Ihrer Seite hätten, wären Sie heute nicht allein? ... Und wenn Kinder und Enkel um Sie lebten, wären Sie es nicht? ... Und wenn Sie sich Ihren Reichtum, Ihren Ruhm, Ihr Genie bewahrt hätten – wären Sie es nicht? ... Und wenn uns ein Zug von Bacchanten begleitet – den Weg hinab gehen wir alle allein ... wir, die selbst niemandem gehört haben. Das Altern ist nun einmal eine einsame Beschäftigung für unsereinen, und ein Narr, wer sich nicht beizeiten darauf einrichtet, auf keinen Menschen angewiesen zu sein.

JULIAN. Und Sie, Sala, Sie glauben, daß Sie keines Menschen bedürfen?

SALA. So, wie ich sie gebraucht habe, werden sie mir jederzeit zu Gebote stehen. Ich bin stets für gemessene Entfernungen gewesen. Daß es die andern nicht merken, ist nicht meine Schuld.

JULIAN. Da haben Sie allerdings recht, Sala. Sie haben nie ein Wesen auf Erden geliebt.

SALA. Möglich. Und Sie? So wenig, Julian, als ich ... Lieben heißt, für jemand andern auf der Welt sein. Ich sage nicht, daß es ein wünschenswerter Zustand sei, aber jedenfalls, denke ich, wir waren beide sehr fern davon. Was hat das, was unsereiner in die Welt bringt, mit Liebe zu tun? Es mag allerlei Lustiges, Verlogenes, Zärtliches, Gemeines, Leidenschaftliches sein, das sich als Liebe ausgibt, – aber Liebe ist es doch nicht ... Haben wir jemals ein Opfer gebracht, von dem nicht unsere Sinnlichkeit oder unsere Eitelkeit ihren Vorteil gehabt hätte? ... Haben wir je gezögert, anständige Menschen zu betrügen oder zu belügen, wenn wir dadurch um eine Stunde des Glücks oder der Lust reicher werden konnten? ...[826] Haben wir je unsere Ruhe oder unser Leben aufs Spiel gesetzt – nicht aus Laune oder Leichtsinn ... nein, um das Wohlergehen eines Wesens zu fördern, das sich uns gegeben hatte? ... Haben wir je auf ein Glück verzichtet, wenn dieser Verzicht nicht wenigstens zu unserer Bequemlichkeit beigetragen hätte? ... Und glauben Sie, daß wir von einem Menschen – Mann oder Weib – irgend etwas zurückfordern dürften, das wir ihm geschenkt hatten? Ich meine keine Perlenschnur und keine Rente und keine wohlfeile Weisheit, sondern ein Stück von unserm Wesen – eine Stunde unseres Daseins, das wir wirklich an sie verloren hätten, ohne uns gleich dafür bezahlt zu machen, mit welcher Münze immer. Mein lieber Julian, wir haben die Türen offen stehen und unsere Schätze sehen lassen – aber Verschwender sind wir nicht gewesen. Sie so wenig als ich. Wir können uns ruhig die Hände reichen, Julian. Ich bin etwas weniger wehleidig als Sie, das ist der ganze Unterschied. – Aber ich erzähle Ihnen ja da nichts neues. Sie wissen das alles gerade so gut wie ich. Es gibt ja für uns gar keine Möglichkeit, uns nicht zu kennen; wir geben uns wohl zuweilen redliche Mühe, uns über uns selbst zu täuschen, aber es gelingt uns nicht. Andern mögen unsere Torheiten, unsere Niederträchtigkeiten verborgen bleiben – uns selber nie. In unserer tiefsten Seele wissen wir immer, woran wir mit uns sind. – Es wird kühl, Julian, gehen wir ins Zimmer. Sie beginnen hinaufzugehen.

JULIAN. All das mag wahr sein, Sala. Aber Sie werden mir zugeben: Wenn es einen auf der Welt gibt, der uns die Fehler unseres Lebens nicht dürfte entgelten lassen, so ist es gewiß der, der uns selbst das Dasein verdankt.

SALA. Von entgelten ist hier gar nicht die Rede. Ihr Sohn hat den Sinn für das Wesentliche, Julian, Sie selbst haben es gesagt. Und er fühlt es, daß man sehr wenig für einen Menschen getan hat, wenn man nichts tat, als ihn in die Welt zu setzen.

JULIAN. So soll es wenigstens werden wie vorher, da er noch nichts wußte. Ich will wieder ein Mensch für ihn sein wie jeder andere. So darf er nicht von mir gehen ... Ich ertrag' es nicht. Verdien' ich denn, daß er vor mir flieht? ... Und wenn auch alles, was ich bis heute in mir für gut und wahr gehalten – am Ende auch die Neigung für diesen jungen Menschen, der mein Sohn ist –, nichts gewesen ist als Selbstbetrug – jetzt lieb' ich ihn ... Verstehen Sie mich, Sala? Ich liebe ihn und[827] verlange nichts anderes mehr, als daß er es glaube, eh' ich ihn für immer verlieren muß ...


Dunkelheit. – Beide über die Terrasse hinauf, durch den Salon ab. – Bühne eine Weile leer. Der Wind ist etwas stärker geworden.


Quelle:
Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Band 1, Frankfurt a.M. 1962, S. 825-828.
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