III. Die letzten Masken


[719] Schauspiel in einem Akt.


Karl Rademacher, Journalist.


Florian Jackwerth, Schauspieler.


Alexander Weihgast.


Dr. Halmschlöger,

Dr. Tann, Sekundaärzte im Wiener Allgemeinen Krankenhaus.


Juliane Paschanda, Wärterin.


Ein kleinerer Raum – sogenanntes »Extrakammerl« – im Allgemeinen Krankenhaus, in Verbindung mit einem großen Krankensaal; statt der Türe ein beweglicher Leinenvorhang. Links ein Bett. In der Mitte ein länglicher Tisch, darauf Papiere, Fläschchen usw. Zwei Sessel. Ein Lehnstuhl neben dem Bett. Auf dem Tisch eine brennende Kerze.

Karl Rademacher, über 50 Jahre, sehr herabgekommen, ganz grau, auf dem Lehnstuhl, mit geschlossenen Augen. Florian Jackwerth, etwa 28

Jahre, sehr leuchtende, wie fieberische Augen, glatt rasiert, mager, in einem Leinenschlafrock, den er gelegentlich in bedeutende Falten legt. Die Wärterin, Juliane Paschanda, dick, gutmütig, noch nicht alt, am Tisch mit einer Schreibarbeit beschäftigt.


FLORIAN schlägt den Vorhang zurück, kommt eben aus dem Saal, der von einer Hängelampe schwach beleuchtet ist, tritt zur Wärterin. Immer fleißig, das Fräulein Paschanda.

WÄRTERIN. Ja, sind Sie schon wieder aufgestanden? Was wird denn der Herr Sekundarius sagen! Gehn S' doch schlafen.

FLORIAN. Gewiß, ich denke sogar einen langen Schlaf zu tun. Kann ich Ihnen nicht behilflich sein, schönes Weib? Ich mein' nicht beim Schlafen.

WÄRTERIN kümmert sich nicht.

FLORIAN schleicht zu Rademacher hin. Schaun Sie, Fräulein Paschanda – so schaun S' doch her!

WÄRTERIN. Was wollen Sie denn?

FLORIAN wieder zu ihr. Meiner Seel', ich hab' gemeint, er ist schon tot.

WÄRTERIN. Das dauert schon noch eine Weile.

FLORIAN. Glauben Sie, glauben Sie? – Also gute Nacht, Fräulein Juliane Paschanda.[719]

WÄRTERIN. Ich bin kein Fräulein, ich bin Frau.

FLORIAN. Ah so! Habe noch nicht die Ehre gehabt, den Herrn Gemahl kennen zu lernen.

WÄRTERIN. Ich wünsch' es Ihnen auch nicht. Er ist Diener in der Leichenkammer.

FLORIAN. Danke bestens, danke bestens. Habe keinerlei Verwendung. Sie, Frau Paschanda, Vertraulich. haben Sie das Fräulein gesehn, das mir heute nachmittag die Ehre ihres Besuchs erwiesen hat?

WÄRTERIN. Ja; die mit dem roten Hut.

FLORIAN ärgerlich. Roter Hut – roter Hut ... Es war eine Kollegin von mir – jawohl! Wir waren zusammen engagiert im vorigen Jahr – in Olmütz. Erste Liebhaberin jenes Fräulein – jugendlicher Held der ergebenst Unterzeichnete. Schaun Sie mich an, bitte – ich brauche nicht mehr zu sagen. – Jawohl, ich habe ihr eine Korrespondenzkarte geschrieben ... einfach eine Karte – und sie ist gleich gekommen. Es gibt noch Treue beim Theater. Und sie hat mir versprochen, sie wird sich umschaun, mit einem Agenten wird sie sprechen – damit ich ein Sommerengagement krieg', wenn ich aus diesem Lokal entlassen werde. Deswegen kann ein Fräulein ein sehr gutes Herz haben, wenn sie auch einen roten Hut trägt, Frau von Paschanda. Immer gereizter, später hustend. Sie kommt vielleicht noch einmal her – ich werd' ihr halt schreiben, sie soll sich nächstens einen blauen Hut aufsetzen – weil die Frau Paschanda die rote Farb' nicht vertragen kann.

WÄRTERIN. Pst! pst! die Leute wollen schlafen. Lauscht.

FLORIAN. Was ist denn?

WÄRTERIN. Ich hab' geglaubt, der Herr Sekundarius –


Die Krankenhausuhr schlägt.


FLORIAN. Wie spät ist's denn?

WÄRTERIN. Neun.

FLORIAN. Wer hat denn heut die Nachtvisit'?

WÄRTERIN. Der Doktor Halmschlöger.

FLORIAN. Ah, der Doktor Halmschlöger. Ein feiner Herr, nur etwas eingebildet. Sieht, daß Rademacher wach wurde. Habe die Ehre, Herr von Rademacher.

RADEMACHER nickt.

FLORIAN kopiert den Doktor Halmschlöger. Nun, mein lieber Rademacher, wie befinden Sie sich heute? Tut, als ob er den Überzieher ablegte und ihn der Wärterin reichte. Ach, Hebe Frau Paschanda,[720] wollen Sie nicht die Güte haben ... Danke sehr.

WÄRTERIN wider Willen lachend. Wie Sie die Leut' nachmachen können.

FLORIAN andrer Ton; als ginge er von einem Bett zum andern. Nichts Neues? Nichts Neues? Nichts Neues? Gut – gut – gut ...

WÄRTERIN. Das ist ja der Herr Primarius. Wenn der das wüßt'!

FLORIAN. Na warten Sie nur, das ist noch gar nichts. Er läßt sich plötzlich auf einen Sessel fallen, sein Gesicht scheint schmerzverzerrt, und er verdreht die Augen.

WÄRTERIN. Ja, um Gotteswillen, das ist ja –

FLORIAN einen Augenblick die Kopie unterbrechend. Na, wer?

WÄRTERIN. Der vom Bett siebzehn, der Engstl – der Dachdecker, der vorgestern gestorben ist. Na, werden Sie nicht aufhören! Sie versündigen sich ja.

FLORIAN. Ja, meine liebe Frau Paschanda, meinen Sie, unsereiner ist umsonst im Spital herin? Da kann man was lernen.

WÄRTERIN. Der Herr Sekundarius kommt.


Ab in den Saal. – Wie sie den Vorhang zurückschlägt, sieht man Halmschlöger und Tann in der Tiefe der Bühne.


FLORIAN. Jawohl, Herr Rademacher, ich mache hier nämlich meine Studien.

RADEMACHER. So?

FLORIAN. Ja, für unsereiner rentiert sich das, im Spital zu liegen. Sie meinen, ich kann das nicht brauchen, weil ich Komiker bin? Gefehlt! Das ist nämlich eine Entdeckung, die ich gemacht habe, Herr Rademacher. Wichtig. Aus dem traurigen, ja selbst dem schmerzstarrenden Antlitz jedes Individuums läßt sich durch geniale schauspielerische Intuition die lustige Visage berechnen. Wenn ich einmal einen sterben gesehn hab', weiß ich akkurat, wie er ausschaut, wenn man ihm einen guten Witz erzählt hat. – Aber was haben Sie denn, Herr Rademacher? Kourage! Nicht den Humor verlieren. Schaun Sie mich an – ha! Vor acht Tagen war ich aufgegeben – nicht! nur von den Herren Doktoren, das war' nicht so gefährlich gewesen, aber von mir selber! Und jetzt bin ich kreuzfidel. Und in acht Tagen – gehorsamster Diener! So lebe wohl, du stilles Haus! Womit ich mir erlaube, Euer Hochwohlgeboren zu meinem ersten Auftreten ergebenst einzuladen. Hustet.

RADEMACHER. Wird wohl kaum möglich sein.

FLORIAN. Ist es nicht sonderbar? Wenn wir beide gesund geblieben wären, so wären wie vielleicht Todfeinde.[721]

RADEMACHER. Wieso denn?

FLORIAN. Na, ich hätt' Komödie gespielt, und Sie hätten eine Rezension geschrieben und mich verrissen, und Leut', die mich verreißen, hab' ich nie leiden können. Und so sind wir die besten Freunde geworden. – Ja, sagen Sie, Herr Rademacher, hab' ich auch so dreing'schaut vor acht Tagen wie Sie?

RADEMACHER. Es ist vielleicht doch ein Unterschied.

FLORIAN. Lächerlich! Man muß nur einen festen Willen haben. Wissen Sie, wie ich gesund geworden bin?

RADEMACHER sieht ihn an. FLORIAN. Sie brauchen mich nicht so anzuschaun – es fehlt nicht mehr viel. Ich hab' die traurigen Gedanken einfach nicht aufkommen lassen!

RADEMACHER. Wie haben Sie denn das gemacht?

FLORIAN. Ich hab' einfach allen Leuten, auf die ich einen Zorn gehabt hab', innerlich die fürchterlichsten Grobheiten gesagt. Oh, das erleichtert, das erleichtert, sag' ich Ihnen! Ich hab' mir sogar ausstudiert, wem ich als Geist erscheinen würde, wenn ich einmal gestorben bin. – Also da ist vor allem ein Kolleg' von Ihnen, in Olmütz – ein boshaftes Luder! Na, und dann der Herr Direktor, der mir die halbe Gasch' abgezogen hat fürs Extemporieren. Dabei haben die Leut' überhaupt nur über mich gelacht und gar nicht über die Stück'. Er hätt' froh sein können, der Herr Direktor. Statt dessen – na wart', wart'! Ich hätt' ja ein Talent zum Erscheinen – oh, ich hätt' auch im Himmel mein anständiges Auskommen gehabt. – Ich hätt' nämlich ein Engagement bei den Spiritisten angenommen.


Dr. Halmschlöger und Dr. Tann kommen, und die Wärterin.


TANN junger, etwas nachlässig gekleideter Mensch, Hut auf dem Kopf, nicht brennende Virginia im Mund. Jetzt bitt' ich dich aber, Halmschlöger, sei so gut, halt' dich da nicht auch wieder so lang auf.

HALMSCHLÖGER sorgfältig gekleideter junger Mensch mit Zwicker und kleinem blonden Vollbart; Überzieher umgeworfen. Nein, ich bin gleich fertig.

TANN. Oder ich geh' voraus ins Kaffeehaus.

HALMSCHLÖGER. Ich bin gleich fertig.[722]

FLORIAN. Habe die Ehre, Herr Doktor.

HALMSCHLÖGER. Warum liegen Sie denn nicht im Bett? Zur Wärterin. Paschanda!

FLORIAN. Ich bin ja so ausgeschlafen, Herr Doktor; es geht mir ja famos. Ich erlaube mir, den Herrn Doktor zu meinem Wiederauftreten ...

HALMSCHLÖGER einen Moment amüsiert, wendet sich dann ab. Ja, ja. Zu Rademacher hin. Nun, mein lieber Rademacher, wie befinden Sie sich?

FLORIAN macht der Wärterin ein Zeichen, das sich auf seine frühere Kopie bezieht.

RADEMACHER. Schlecht geht's mir, Herr Doktor.

HALMSCHLÖGER die Tafel zu Häupten des Bettes betrachtend; Wärterin hält das Licht. 39,4 – na! Gestern haben wir doch 40 gehabt. Wärterin nickt. Es geht ja besser. Na, gute Nacht. Will gehen.

RADEMACHER. Herr Doktor!

HALMSCHLÖGER. Wünschen Sie was?

RADEMACHER. Ich bitte, Herr Doktor, wie lang kann's denn noch dauern?

HALMSCHLÖGER. Ja, ein bißchen Geduld müssen Sie noch haben.

RADEMACHER. Ich mein's nicht so, Herr Doktor. Ich mein':

Wann ist es aus mit mir?

TANN hat sich zum Tisch gesetzt, blättert gedankenlos in den Papieren. HALMSCHLÖGER. Aber was reden Sie denn? Zur Wärterin. Hat er seine Tropfen genommen?

WÄRTERIN. Um 1/2 8, Herr Sekundarius.

RADEMACHER. Herr Doktor, ich bitte recht schön, behandeln Sie mich nicht wie den ersten Besten. Oh, entschuldigen Herr Doktor –

HALMSCHLÖGER etwas ungeduldig, aber freundlich. Leiser, leiser.

RADEMACHER. Ich bitte, nur noch ein Wort, Herr Doktor. Entschlossen. Ich muß nämlich die Wahrheit wissen – ich muß – aus einer ganz bestimmten Ursache! –

HALMSCHLÖGER. Die Wahrheit ... Ich hoffe zuversichtlich – Nun, die Zukunft ist in gewissem Sinn uns allen verschlossen – aber ich kann sagen –

RADEMACHER. Herr Doktor, – wenn ich nun aber noch etwas sehr Wichtiges vorhätte – irgendwas, wovon das Schicksal anderer Leute abhängig ist – und meine Ruhe – die Ruhe meiner Sterbestunde ...

HALMSCHLÖGER. Aber, aber! – Wollen Sie sich nicht näher[723] erklären? Immer freundlich. Aber möglichst kurz, wenn ich bitten darf. Ich habe noch zwei Zimmer vor mir. Denken Sie, wenn jeder so lang – Also bitte.

RADEMACHER. Herr Doktor, ich muß noch mit jemandem sprechen.

HALMSCHLÖGER. Nun, Sie können ja dem Betreffenden schreiben, wenn es Sie beruhigt. Morgen nachmittag zwischen vier und fünf dürfen Sie empfangen, wen Sie wollen. Ich habe gar nichts dagegen.

RADEMACHER. Herr Doktor – das ist zu spät – das kann zu spät sein – ich fühl's ... morgen früh ist vielleicht alles vorbei. Noch heute muß ich mit – dem Betreffenden reden.

HALMSCHLÖGER. Das ist nicht möglich. Was soll das Ganze? Wenn Ihnen so viel darauf ankommt, hätten Sie ja schon gestern ...

RADEMACHER dringend. Herr Doktor! Sie sind immer sehr gut zu mir gewesen – ich weiß ja, daß ich ein bißchen zudringlich bin – aber sehen Sie, Herr Doktor, wenn es einmal ganz sicher ist, daß einen morgen oder übermorgen die gewissen Herrn im weißen Kittel hinuntertragen, da bildet man sich halt ein, man kann keck werden und mehr verlangen als ein anderer.

TANN. Also, Halmschlöger, was ist denn?

HALMSCHLÖGER. Moment. – Etwas ungeduldig. Also bitte, in Kürze, was wünschen Sie?

RADEMACHER. Ich muß unbedingt einen Freund von mir sprechen. Einen gewissen Herrn Weihgast – Alexander Weihgast.

HALMSCHLÖGER. Weihgast? Meinen Sie den bekannten Dichter Weihgast?

RADEMACHER. Ja!

HALMSCHLÖGER. Das ist ein Freund von Ihnen?

RADEMACHER. Gewesen, gewesen – in früherer Zeit.

HALMSCHLÖGER. Also schreiben Sie ihm eine Karte.

RADEMACHER. Was hilft mir das? Er findet mich nicht mehr. Ich muß ihn noch heut sprechen – gleich ...

HALMSCHLÖGER bestimmt. Herr Rademacher, es ist unmöglich. Und Schluß. Mild. Um Sie zu beruhigen, werde ich Herrn Weihgast, den ich zufällig persönlich kenne, noch heute ein Wort schreiben und ihm anheimstellen, Sie morgen zu einer beliebigen Stunde aufzusuchen.

RADEMACHER. Sie kennen den Herrn Weihgast, Herr Doktor? Plötzlich. So bringen Sie ihn her – bringen Sie ihn her![724]

HALMSCHLÖGER. Na, hören Sie, hören Sie, Herr Rademacher, da weiß man wirklich nicht mehr –

RADEMACHER in großer Aufregung. Herr Doktor, ich weiß ja, es ist unverschämt von mir, – aber Sie sind ja doch ein Mensch, Herr Doktor, und fassen die Dinge menschlich auf. Nicht wie manche andere, die nur nach der Schablone urteilen. Und Sie wissen, Herr Doktor – da ist einer, der morgen sterben muß, und der hat noch einen Wunsch, an dem ihm ungeheuer viel liegt, und ich kann ihm den Wunsch erfüllen ... Ich bitte Sie, Herr Doktor, gehn Sie zu ihm hin, holen Sie mir ihn her!

HALMSCHLÖGER schwankend, sieht auf die Uhr. Ja – wenn ich für meinen Teil mich dazu entschließen wollte – ich bitte Sie, Herr Rademacher, wie kann ich es verlangen – um diese Zeit ... wahrhaftig, es ist eine so sonderbare Zumutung! Überlegen Sie doch selbst.

RADEMACHER. Oh, Herr Doktor, ich kenne meinen Freund Weihgast. Wenn Sie dem sagen: Sein alter Freund Rademacher stirbt im Allgemeinen Krankenhaus und will ihn noch einmal sehen – oh, das läßt er sich nicht entgehen. – Ich beschwöre Sie, Herr Doktor – für Sie ist es einfach ein Weg, – nicht wahr? Und für mich – für mich ...

HALMSCHLÖGER. Ja, das ist es eben! Für mich hat es natürlich nichts zu bedeuten. Aber für Sie – jawohl, für Sie könnte die Aufregung von schlimmen Folgen sein.

RADEMACHER. Herr Doktor – Herr Doktor! Wir sind ja Männer! – Auf eine Stund' früher oder später kommt's doch nicht an.

HALMSCHLÖGER beschwichtigend. Na, na, na! Nach kurzer Überlegung. Also ich fahre hin.

RADEMACHER will danken.

HALMSCHLÖGER abwehrend. Ich kann natürlich keine Garantie n übernehmen, daß ich ihn herbringe. Aber da Ihnen so viel dran zu Hegen scheint, – Da Rademacher wieder danken will. Schon gut, schon gut. Wendet sich ab.

TANN. Na endlich!

HALMSCHLÖGER. Lieber Tann, ich werd' dich sehr bitten, – schau' du indes auf die andern Zimmer, es ist nichts Besonderes – zwei Injektionen – die Wärterin wird dir schon sagen –

TANN. Ja, was ist denn, was ist denn?

HALMSCHLÖGER. Eine sonderbare Geschichte. Der arme Teufel bittet mich, ihm einen alten Freund herzuholen, dem er offenbar[725] etwas Wichtiges anzuvertrauen hat. Weißt du, wen? Den Weihgast, diesen Dichter.

TANN. Na, und du gehst hin? Ja, sag', bist denn du ein Dienstmann? Na, hör' zu, die Leut' nützen hier einfach deine Gutmütigkeit aus.

HALMSCHLÖGER. Lieber Freund, das ist Empfindungssache. Meiner Ansicht nach sind gerade solche Dinge das Allerinteressanteste in unserm Beruf.

TANN. Auch eine Auffassung.

HALMSCHLÖGER. Also willst du so gut Sein?

TANN. Natürlich. Mit dem Kaffeehaus ist heut nichts mehr?

HALMSCHLÖGER. Ich komm' vielleicht noch hin.

HALMSCHLÖGER, TANN UND WÄRTERIN ab. FLORIAN kommt wieder herein. Ja, was haben denn Sie so lang mit dem Doktor zu reden gehabt?

RADEMACHER erregt, fast heiter. Ich krieg' noch einen Besuch – ich krieg' noch einen Besuch.

FLORIAN interessiert. Was? Einen Besuch? Jetzt? Mitten in der Nacht?

RADEMACHER. Ja, mein lieber Jackwerth – geben Sie nur acht, da gibt's wieder was zu lernen ... an meinem Besuch nämlich. Den Herrn müssen Sie sich anschaun, wenn er hereinkommt zu mir, und nachher, wenn er wieder von mir fortgeht ... Ah! Immer erregter. Wenn ich's nur erleb' – wenn ich's nur erleb'! – Geben S' mir ein Glas Wasser, Jackwerth – ich bitt' recht schön. Geschieht; er trinkt gierig. Dank schön – dank schön. – Ja, so lang wird die Maschine schon noch halten ... Beinahe mit Angst. Wenn er nur kommt ... wenn er nur kommt ...

FLORIAN. Von wem reden Sie denn?

RADEMACHER vor sich hin. Ihm schreiben? ... Nein, davon hätt' ich nichts ... Nein, da muß ich ihn haben – da – mir gegenüber ... Aug' in Aug', Stirn an Stirn – ah! ...

FLORIAN wie besorgt. Herr Rademacher ...

RADEMACHER. Haben Sie keine Angst um mich – es ist ganz überflüssig. Es wird mir ganz leicht, meiner Seel', ich fürcht' mich nicht einmal mehr vorm Sterben ... Es wird gar nicht so arg sein, wenn der erst dagewesen ist ... Ah,

FLORIAN. Jackwerth, was kann ich für Sie tun?

FLORIAN erstaunt. Wieso?

RADEMACHER. Ich möchte mich Ihnen dankbar erweisen. Sie haben mich nämlich auf diese Idee gebracht – jawohl. Ich[726] werde Sie zu meinem Erben einsetzen. Der Schlüssel von meinem Schreibtisch Hegt unterm Polster. – Sie glauben, das ist nichts Besonderes? – Wer weiß? Sie könnten sich täuschen ... Da sind vielleicht Meisterwerke aufbewahrt! Mir wird immer leichter – meiner Seel' ... Am Ende werd' ich wieder gesund!

FLORIAN. Aber sicher!

RADEMACHER. Wenn ich gesund werde – ich schwör's, wenn ich je wieder den Fuß aus dem Spital setz', so fang' ich von frischem an – ja. Ich fang' wieder an.

FLORIAN. Was denn?

RADEMACHER. Zu kämpfen – jawohl, zu kämpfen! Ich probier's wieder. Ich geb's noch nicht auf – nein. Ich bin ja noch nicht so alt, – vierundfünfzig ... Ist das überhaupt ein Alter, wenn man gesund ist? Ich bin wer.

FLORIAN. Jackwerth – ich bin wer, das können Sie mir glauben. Ich hab' nur Malheur gehabt. Ich bin so viel wie mancher andere, der auf dem hohen Roß sitzt, mein lieber Herr – und ich kann's mit manchem aufnehmen, der sich für was Besseres hält wie ich, weil er mehr Glück gehabt hat. Fiebrisch. Wenn er nur kommt ... wenn er nur kommt ... Ich bitt' dich, mein Herrgott, wenn du mich auch vierundfünfzig Jahre lang im Such gelassen hast, gib mir wenigstens die letzte Viertelstunde noch Kraft, daß es sich ausgleicht, so gut, als es geht. Laß mich's erleben, daß er da vor mir sitzt – bleich, vernichtet – so klein gegen mich, als er sich sein Leben lang überlegen gefühlt hat ... Ja, mein lieber Jackwerth, der, den ich da erwarte, das ist nämlich ein Jugendfreund von mir. Und vor fünfundzwanzig Jahren – und auch noch vor zwanzig – waren wir sehr gut miteinander, denn wir haben beide auf demselben Fleck angefangen – nur daß wir dann einen verschiedenen Weg gegangen sind – er immer höher hinauf und ich immer tiefer hinunter. Und heut ist es so weit, daß er ein reicher und berühmter Dichter ist, und ich bin ein armer Teufel von Journalist und krepier' im Spital. – Aber es macht nichts, es macht nichts – denn jetzt kommt der Moment, wo ich ihn zerschmettern kann ... und ich werd' es tun! Wenn er nur kommt – wenn er nur kommt! Ich weiß, Herr Jackwerth, heute nachmittag war Ihre Geliebte bei Ihnen – aber was ist denn alle Glut, mit der man ein geliebtes Wesen erwartet gegen die Sehnsucht nach einem, den man haßt, den man sein ganzes Leben lang gehaßt hat und dem man vergessen hat, es zu sagen.[727]

FLORIAN. Aber Sie regen sich ja fürchterlich auf, Herr Rademacher! – Sie verlieren ja Ihre Stimm'.

RADEMACHER. Haben Sie keine Angst – wenn er einmal da ist, werd' ich schon reden können.

FLORIAN. Wer weiß, wer weiß? – Hören Sie, Herr Rademacher, ich werd' Ihnen einen Vorschlag machen. Halten wir doch eine Probe ab. – Ja, Herr Rademacher, ich mach' keinen Spaß. Ich kenn' mich doch aus. Verstehen Sie mich: Es kommt ja immer drauf an, wie man die Sachen bringt, nicht wahr? Was haben Sie denn schon davon, wenn Sie ihm sagen: »Du bist ein niederträchtiger Mensch, und ich hasse dich« – das wirkt ja nicht. Da denkt er sich: Du schimpfst mir lang gut, wenn du daherin liegst im Kammerl mit 39 Grad und ich geh' gemütlich spazieren und rauch' mein Zigarrl.

RADEMACHER. Ich werd' ihm noch ganz was anderes sagen. Darüber, daß einer niederträchtig ist, tröstet er sich bald. Aber daß er lächerlich war sein Leben lang für die Menschen, die er vielleicht am meisten geliebt hat – das verwindet er nicht.

FLORIAN. Also reden Sie, reden Sie. Stellen Sie sich vor, ich bin der Jugendfreund. Ich steh' da, ich hab' den Sack voller Geld, den Kopf voller Einbildung – Spielend. »Hier bin ich, alter Freund. Du hast mich zu sprechen gewünscht. Bitte.« Na also.

RADEMACHER fiebrisch, sich immer mehr in Wut hineinredend. Jawohl, ich hab' dich rufen lassen. Aber nicht, um von dir Abschied zu nehmen, in Erinnerung alter Freundschaft – nein, um dir etwas zu erzählen, eh' es zu spät ist.

FLORIAN spielend. »Du spannst mich auf die Folter, alter Kumpan. Was wünschest du mir mitzuteilen?« Also – also!

RADEMACHER. Du meinst, daß du mehr bist als ich? – Mein lieber Freund, zu den Großen haben wir beide nie gehört, und in den Tiefen, wo wir zu Haus sind, gibt's in solchen Stunden keinen Unterschied. Deine ganze Größe ist eitel Trug und Schwindel. Dein Ruhm – ein Haufen Zeitungsblätter, der in den Wind verweht am Tag nach deinem Tod. Deine Freunde? – Schmeichler, die vor dem Erfolg auf dem Bauch liegen, Neidlinge, die die Faust im Sack ballen, wenn du den Rücken kehrst, Dummköpfe, denen du für ihre Bewunderung gerade klein genug bist. – Aber du bist ja so klug, um das zuweilen selbst zu ahnen. Ich hätte dich nicht herbemüht, um dir das mitzuteilen. Daß ich dir jetzt noch was anderes sagen will, ist[728] möglicherweise eine Gemeinheit. – Aber es ist nicht zu glauben, wie wenig einem dran liegt, gemein zu sein, wenn kein Tag mehr kommt, an dem man sich darüber schämen müßte. Er steht auf. Ich hab' ja schon hundertmal Lust gehabt, dir's ins Gesicht zu schreien in den letzten Jahren, wenn wir einander zufällig auf der Straße begegnet sind und du die Gnade hattest, ein freundliches Wort an mich zu richten. Mein lieber Freund, nicht nur ich kenne dich, wie tausend andere – auch dein geliebtes Weib kennt dich besser als du ahnst und hat dich schon vor zwanzig Jahren durchschaut – in der Blüte deiner Jugend und deiner Erfolge. – Ja, durchschaut – und ich weiß es besser als irgendeiner ... Denn sie war meine Geliebte zwei Jahre lang, und hundertmal ist sie zu mir gelaufen, angewidert von deiner Nichtigkeit und Leere und hat mit mir auf und davon wollen. Aber ich war arm und sie war feig, und darum ist sie bei dir geblieben und hat dich betrogen! Es war bequemer für uns alle.

FLORIAN. »Ha, Elender! Du lügst!«

RADEMACHER. Ich? – Wie erwachend. Ach so ... Sie, Jackwerth, Sie haben den Schlüssel. Wenn er mir's nicht glaubt – im Schreibtisch sind auch die Briefe. Sie sind mein Testamentsverweser. – Überhaupt, in meinem Schreibtisch, da sind Schätze mancherlei – wer weiß, vielleicht ist nichts anderes nötig, um sie zu würdigen, als daß ich gestorben bin. – Ja, dann werden sich die Leute schon um mich kümmern. Insbesondere, wenn es heißt, daß ich in Not und Elend gestorben bin – denn ich sterbe in Not und Elend, wie ich gelebt habe. An meinem Grab wird schon einer reden. Ja, geben Sie nur acht, – Pflichttreue – Tüchtigkeit – Opfer seines Berufes ... Ja, das ist wahr. Florian Jackwerth, seit ich einen Beruf habe, bin ich sein Opfer – vom ersten Augenblick an bin ich ein Opfer meines Berufes gewesen. Und wissen Sie, woran ich zugrund geh'? Sie meinen an den lateinischen Vokabeln, die da auf der Tafel stehn –? Oh nein! An Gall', daß ich vor Leuten hab' Buckerln machen müssen, die ich verachtet hab', um eine Stellung zu kriegen. Am Ekel, daß ich Dinge hab' schreiben müssen, an die ich nicht geglaubt hab', um nicht zu verhungern. Am Zorn, daß ich für die infamsten Leutausbeuter hab' Zeilen schinden müssen, die ihr Geld erschwindelt und ergaunert haben, und daß ich ihnen noch dabei geholfen hab' mit meinem Talent. Ich kann mich zwar nicht[729] beklagen: Von der Verachtung und dem Haß gegen das Gesindel hab' ich immer meinen Teil abbekommen – nur leider von was anderm nicht.

WÄRTERIN kommt. Der Herr Sekundarius.

RADEMACHER erschrocken. Allein?

WÄRTERIN. Nein, es ist ein Herr mit ihm.

RADEMACHER dankerfüllter Blick.

FLORIAN. Jetzt nehmen Sie sich zusammen. Schad', daß ich nicht dabei sein kann. Schleicht sich dann hinaus.


Halmschlöger und Weihgast kommen.


HALMSCHLÖGER. Also hier ist der Kranke.

WEIHGAST elegant gekleideter, sehr gut erhaltener Herr von etwa 55 Jahren, grauer Follbart, dunkler Überzieher, Spazierstock. So – hier. Zu Rademacher hin, herzlich. Rademacher – ist es möglich? Rademacher – so sehn wir uns wieder! Mein lieber Freund!

RADEMACHER. Ich danke dir sehr, daß du gekommen bist.

HALMSCHLÖGER hat gewinkt; die Wärterin brachte einen Sessel für Weihgast. Und nun erlauben Sie mir, Herr Weihgast, daß ich als Arzt die Bitte an Sie richte, die Unterredung nicht länger als eine Viertelstunde auszudehnen. Ich werde so frei sein, nach der angegebenen Zeit selbst wiederzukommen und Sie hinab zu begleiten.

WEIHGAST. Ich danke Ihnen, Herr Doktor, Sie sind sehr liebenswürdig.

HALMSCHLÖGER. Oh, zu danken habe ausschließlich ich. Es gehört wirklich kein geringer Opfermut dazu ...

WEIHGAST wehrt ab. Aber, aber ...

HALMSCHLÖGER. Nun, Herr Rademacher, auf Wiedersehen. Droht ihm ärztlich freundlich, er möge sich nicht aufregen. Dann wechselt er einige Worte mit der Wärterin und gebt mit ihr ab.

WEIHGAST die Wärterin bat ihm den Überzieher abgenommen; er hat sich gesetzt; sehr herzlich, beinahe echt. Nun, sag' mir einmal, mein lieber Rademacher, was ist das für eine Idee, sich hierher zu legen – ins Krankenhaus –!

RADEMACHER. Oh, ich bin zufrieden, man ist hier sehr gut aufgehoben.

WEIHGAST. Ja, gewiß bist du in den besten Händen. Doktor Halmschlöger ist ein sehr tüchtiger junger Arzt und, was mehr ist, ein vortrefflicher Mensch. Wie man ja den Menschen[730] an sich überhaupt nie von dem Berufsmenschen trennen kann. Aber trotzdem – du entschuldigst schon – warum hast du dich nicht an mich gewandt?

RADEMACHER. Wie hätt' ich ...

WEIHGAST. Wenn du dich auch eine Reihe von Jahren um deinen alten Freund nicht mehr gekümmert hast, du kannst dir wohl denken, daß ich dir unter diesen Umständen in jeder Weise zur Verfügung ...

RADEMACHER. Laß doch das, laß doch das.

WEIHGAST. Nun ja – bitte. Es war wahrhaftig nicht bös' gemeint. Immerhin, es ist auch jetzt nicht zu spät. – Doktor Halmschlöger sagt mir, es ist nur eine Frage der Zeit, der guten Pflege ... in ein paar Wochen verläßt du das Spital, und was eine Nachkur auf dem Lande betrifft ...

RADEMACHER. Von all diesen Dingen ist nicht mehr die Rede.

WEIHGAST. Auch von dieser Hypochondrie hat mir Doktor Halmschlöger Mitteilung gemacht – ja. Er verträgt den auf ihn gerichteten Blick Rademachers nicht gut, schaut aber nicht fort. Also, du hast mich rufen lassen, wolltest mit mir sprechen. Nun, ich bin bereit. Warum lächelst du? – Nein, es ist der Schimmer von dem Licht. Die Beleuchtung ist hier nicht ganz auf der Höhe. – Nun, ich warte. Ich werde Herrn Doktor Halmschlöger erklären, daß du von den ersten fünf Minuten keinen Gebrauch gemacht hast. Nun? –

RADEMACHER hatte schon einige Male die Lippen geöffnet, halb, als wollte er reden. Auch jetzt; aber er schweigt wieder. – Pause.

WEIHGAST. Wie ist's dir denn immer ergangen? Leicht verlegen. Hm, die Frage ist etwas ungeschickt in diesem Moment. Ich bin ein wenig befangen, ich will es dir gestehn; denn, äußerlich betrachtet, möchte man wohl glauben, daß ich derjenige bin, dessen Los besser gefallen ist. Und doch – wenn man die Sache so nimmt, wie sie ja doch eigentlich genommen werden muß – wer hat mehr Enttäuschungen erlebt? Immer der, der scheinbar mehr erreicht hat. – Das klingt paradox, und doch ist es so. – Ah, wenn ich dir erzählen wollte ... nichts als Kämpfe – nichts als Sorgen – Ich weiß nicht, ob du die Bewegung der letzten Zeit so verfolgt hast. Nun stürzen sie über mich her ... Wer? Die Jungen. Wenn man bedenkt, daß man vor zehn Jahren selbst noch ein Junger war. Jetzt versuchen sie, mich zu entthronen ... Wenn man diese neuen Revuen liest ... Ah, es ist, um Übelkeiten zu bekommen! Mit Hohn,[731] mit Herablassung behandeln sie mich. Es ist ja jämmerlich! Da hat man nun redlich gearbeitet und gestrebt, hat sein Bestes gegeben – und nun ... Ah, sei froh, daß du von all den Dingen nichts weißt. Wenn ich heute wählen könnte, – heute mein Leben von neuem beginnen ...

RADEMACHER. Nun?

WEIHGAST. Ein Bauer auf dem Land möcht ich sein, ein Schafhirt, ein Nordpolfahrer – ah, was du willst! – Nur nichts von der Literatur. – Aber es ist noch nicht aller Tage Abend.

RADEMACHER sonderbar lächelnd. Willst du an den Nordpol?

WEIHGAST. Ah nein. Aber in der nächsten Saison, zu Beginn, kommt ein neues Stück von mir. Da sollen sie sehen, da sollen sie sehen! Ah, ich lass' mich nicht unterkriegen! Wartet nur! wartet nur! – Nun, wenn alles gut geht, so sollst du dabei sein, mein alter Freund. Ich verspreche dir, dir Billette zu schicken. Obwohl euer Blatt im allgemeinen verflucht wenig Notiz von mir nimmt. Ja, meine letzten zwei Bücher wurden bei euch direkt totgeschwiegen. Aber du hast ja mit dem Ressort nichts zu tun. Na! – Übrigens, was für gleichgültiges albernes Zeug ... So erzähle mir doch endlich. Was hast du mir zu sagen? Wenn dir das laute Sprechen Mühe macht ... ich kann ja auch ganz nahe rücken. – Hm ... Pause. Was meine Frau dazu sagen wird, wenn ich ihr erzähle, daß unser alter Rademacher im Allgemeinen Krankenhaus liegt ... Dein Stolz, mein lieber Rademacher, dein verdammter Stolz ... Na, wir wollen nicht davon reden ... Übrigens ist meine Frau augenblicklich nicht in Wien – in Abbazia. Immer etwas leidend.

RADEMACHER. Hoffentlich nicht ernst?

WEIHGAST drückt ihm die Hand. Gott sei Dank, nein. Mein Lieber, dann stund' es auch mit mir schlecht. Wahrhaftig, bei ihr find' ich mich selbst – den Glauben an mich selbst wieder, wenn ich nah daran bin, ihn zu verlieren – die Kraft zu schaffen, die Lust zu leben. Und je älter man wird, um so mehr fühlt man, daß dies doch der einzige wahre Zusammenhang ist, den es gibt. Denn die Kinder ... o Gott!

RADEMACHER. Was ist's mit ihnen? Was machen sie?

WEIHGAST. Meine Tochter ist verheiratet. Ja, ich bin schon zweifacher Großvater. Man sieht's mir nicht an, ich weiß. Und mein Bub' – Bub'!! – dient heuer sein Freiwilligenjahr – macht Schulden – hat neulich ein Duell gehabt mit einem jungen[732] Baron Wallerskirch – wegen eines Frauenzimmers ... Ja, mein Lieber, immer dieselben Dummheiten. So wird man alt, und das Leben nimmt seinen Lauf.

RADEMACHER. Ja, ja. Pause.

WEIHGAST. Nun, die Zeit verrinnt. Ich warte. Was hast du mir zu sagen? Ich bin bereit, alles, was du wünschest ... Soll ich vielleicht bei der Konkordia Schritte tun? Oder kann ich vielleicht in der Redaktion des »Neuen Tags« für den Fall deiner baldigen Wiederherstellung ... Oder – du entschuldigst, daß ich auch von solchen Dingen spreche – kann ich dir irgendwie mit dem schnöden Mammon ...

RADEMACHER. Laß, laß. Ich brauche nichts – nichts ... Ich hab' i dich nur noch einmal sehen wollen, mein alter Freund, – das ist alles. Ja. Reicht ihm die Hand.

WEIHGAST. So? Wahrhaftig es rührt mich. Ja. – Nun, wenn du wieder gesund bist, so hoff' ich, wir werden einander wieder öfter ... na!


Peinliche Pause. – Man hört das Ticken der Uhr aus dem Nebensaal.


HALMSCHLÖGER kommt. Nun, da bin ich wieder. Ich bin hoffentlich nicht zu pünktlich?

WEIHGAST erhebt sich, sichtlich befreit. Ja, wir sind bereits zu Ende.

HALMSCHLÖGER. Nun das freut mich. Und ich hoffe, unser Patiet ist beruhigt – nicht wahr?

RADEMACHER nickt. Ich danke.

WEIHGAST. Also auf Wiedersehen, lieber Freund. Wenn der Herr Doktor gestattet, so schau' ich in ein paar Tagen wieder einmal nach.

HALMSCHLÖGER. Gewiß. Ich werde Auftrag geben, daß man Sie zu jeder Zeit ...

WEIHGAST. Oh, ich wünsche nicht, daß Sie meinetwegen eine Ausnahme machen.

HALMSCHLÖGER. Paschanda!

WÄRTERIN reicht Weihgast den Überzieher. WEIHGAST. Also nochmals Adieu und gute Besserung und nicht kleinmütig sein. Gegen den Ausgang mit Halmschlöger.

FLORIAN kommt hinter dem Vorhang hervor. Habe die Ehre, Herr Doktor, habe die Ehre!

HALMSCHLÖGER. Na hören Sie, Sie schlafen noch immer nicht!

WEIHGAST. Was ist das für ein Mensch? Er hat mich in einer so sonderbaren Weise fixiert ...

HALMSCHLÖGER. Ein armer Teufel von Schauspieler.[733]

WEIHGAST. So, so.

HALMSCHLÖGER. Hat keine Ahnung, daß er in spätestens acht Tagen unter der Erde liegen wird.

WEIHGAST. So, so.


Blicke Weihgasts und Florians begegnen einander.


HALMSCHLÖGER. Drum halt' ich auch jede Strenge für überflüssig. Regeln für Sterbende – das hat doch keinen rechten Sinn.

WEIHGAST. Sehr richtig. – Es hat mich wirklich gefreut, bei dieser Gelegenheit Ihre nähere Bekanntschaft zu machen und Sie sozusagen einmal bei der Arbeit zu belauschen. Es war mir überhaupt in vieler Beziehung interessant.

HALMSCHLÖGER. Nun, wenn ich fragen darf, war es wirklich etwas so Wichtiges, was Ihnen Ihr Freund mitzuteilen hatte?

WEIHGAST. Keine Idee. Wir haben in längst vergangener Zeit miteinander verkehrt, er wollte mich noch einmal sehen ... das war alles. Ich glaube übrigens, daß ihn mein Kommen sehr beruhigt hat. Im Gehen.

WÄRTERIN. Küss' die Hand.

WEIHGAST. Ach so. Gibt ihr ein Trinkgeld.


Halmschlöger, Weihgast ab, hinter ihnen auch die Wärterin.


FLORIAN rasch zu Rademacher bin. Na also, was war denn? Der Mensch muß eine kolossale Selbstbeherrschung haben. Ich versteh' mich doch auf Physiognomien – aber ich hab' ihm nichts angemerkt. Wie hat er's denn aufgenommen?

RADEMACHER ohne auf ihn zu hören. Wie armselig sind doch die Leute, die auch morgen noch leben müssen.

FLORIAN. Herr Rademacher – also was ist denn? Wie steht's mit dem Schlüssel zum Schreibtisch?

RADEMACHER erwachend. Schreibtisch –? – Machen S', was Sie wollen. Verbrennen meinetwegen!

FLORIAN. Und die Schätze? Die Meisterwerke?

RADEMACHER. Meisterwerke! – Und wenn schon ... Nachwelt gibt's auch nur für die Lebendigen. Wie seherisch. Jetzt ist er unten. Jetzt geht er durch die Allee – durchs Tor – jetzt ist er auf der Straße – die Laternen brennen – die Wagen rollen – Leute kommen von oben ... und unten ... Er ist langsam aufgestanden.

FLORIAN. Herr Rademacher! Er betrachtet ihn genau.

RADEMACHER. Was hab' ich mit ihm zu schaffen? Was geht mich sein Glück, was gehn mich seine Sorgen an? Was haben wir zwei miteinander zu reden gehabt? He! was? ... Er faßt Florian[734] bei der Hand. Was hat unsereiner mit den Leuten zu schaffen, die morgen noch auf der Welt sein werden?

FLORIAN in Angst. Was wollen Sie denn von mir? – Frau Paschanda!

WÄRTERIN kommt mit dem Licht.

RADEMACHER läßt die Hand Florians los. Löschen Sie's aus, Frau Paschanda – ich brauch' keins mehr ... Er sinkt auf den Sessel.

FLORIAN am Vorhang; hält sich mit beiden Händen daran; zur Wärterin. Aber jetzt – nicht wahr?


Vorhang.


Quelle:
Arthur Schnitzler: Die Dramatischen Werke. Band 1, Frankfurt a.M. 1962, S. 719-735.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Catharina von Georgien

Catharina von Georgien

Das Trauerspiel erzählt den letzten Tag im Leben der Königin von Georgien, die 1624 nach Jahren in der Gefangenschaft des persischen Schah Abbas gefoltert und schließlich verbrannt wird, da sie seine Liebe, das Eheangebot und damit die Krone Persiens aus Treue zu ihrem ermordeten Mann ausschlägt. Gryphius sieht in seiner Tragödie kein Geschichtsdrama, sondern ein Lehrstück »unaussprechlicher Beständigkeit«.

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon