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[860] Mit dem Herbst war die Schul- und Lehrzeit wieder da. Nur wenige Schülerinnen vom vergangenen Jahr meldeten sich wieder, doch es gelang Theresen, was sie geradezu als Glücksfall empfand, eine Nachmittagsstellung zu finden, und zwar zu den beiden Töchtern eines vorstädtischen Warenhausbesitzers, die sie zu unterrichten und auf Spaziergängen zu begleiten hatte. Der Vater, selbst nur mäßig gebildet und in eher bescheidenen Verhältnissen, legte um so mehr Wert darauf, seinen Kindern ein Fräulein zu halten, als die Mutter gleichfalls im Geschäfte tätig war. Die beiden Mädchen waren von freundlicher, aber etwas geistesträger Art, und manchmal, wenn Therese an sonnigen Herbstnachmittagen mit ihnen in einer nahen, recht armseligen Gartenanlage spazieren ging und mehr aus Gewohnheit und Pflichtgefühl als aus innerem Bedürfnis mit ihnen vergeblich ein Gespräch zu führen versuchte, sank jene Müdigkeit über sie nieder, die sie wohl von früher her schon kannte, die aber nun so schwer, so bedrückend auf ihr lastete, daß sie manchmal eher einer dumpfen Verzweiflung glich; und die günstige Nachwirkung des kurzen Landaufenthaltes schwand mit bedrohlicher Raschheit wieder dahin.

Und als Franz eines Abends plötzlich erschien, nicht so unwirsch und frech wie sonst, sondern etwas kleinmütig und still, hatte sie nicht die Kraft, ihm, wie es doch ihr Vorsatz gewesen, das Obdach zu verweigern, um das er sie bat. Die ersten Tage störte er sie tatsächlich wenig. Er verbrachte die Zeit auswärts,[860] bekam auch keine Besuche und verhielt sich weiterhin so schweigsam und bedrückt, daß Therese schon nahe daran war, ihn zu fragen, was ihm eigentlich fehle. Am dritten Abend erschien er, als sie schon zu Bett gegangen war. Er war sehr eilig, behauptete, endlich ein Kabinett gefunden zu haben, das er aber sofort in dieser Nacht noch beziehen müsse, doch sei dazu ein Betrag von zehn Gulden unbedingt erforderlich, den sie ihm augenblicklich geben solle. Therese weigerte sich, erklärte, was fast die Wahrheit war, überhaupt nichts mehr zu besitzen, Franz glaubte ihr nicht – und machte Miene, unverzüglich selbst in der Wohnung Nachschau zu halten. Da er sich immer drohender benahm, hielt Therese es für das klügste, den Schrank zu öffnen und vor seinen Augen ein paar Gulden hervorzukramen, die sie zwischen Wäschestücken aufbewahrt hatte. Er zweifelte, daß dies alles sei, was sie versteckt hatte. Sie schwor ihm, daß sie ihm nun ihr Letztes gegeben, und atmetete erleichtert auf, als er von weiteren Nachforschungen abstand und sich plötzlich mit auffallender Hast entfernte.

Am nächsten Morgen wurde ihr klar, warum es Franz so eilig gehabt hatte: ein Kriminalbeamter weckte sie um sechs Uhr früh aus dem Schlaf, fragte nach Franz und erkundigte sich, ob ihr dessen neues Quartier bekannt sei, machte sie aber höflich aufmerksam, daß sie das Recht habe, die Auskunft zu verweigern. »Wir werden ihn auch so bald wieder haben«, bemerkte er freundlich und entfernte sich mit amtlich bedauerndem Blick.

Nun glaubte Therese auch den letzten Rest von Gefühl für den Sohn in ihrem Herzen erloschen, und alles, was sie noch mit ihm verband, war Angst vor seiner Wiederkehr. Der böse Blick, den er auf sie gerichtet, während sie ihre paar Gulden aus dem Schrank her vor gesucht, ließ sie für ein nächstes Mal Schlimmeres befürchten. Und sie faßte den Entschluß, ihn niemals wieder, unter keiner Bedingung, in ihre Wohnung hereinzulassen, auf die Gefahr hin, die Polizei rufen zu müssen.

Ernstliche Sorgen schlichen immer näher an sie heran. Niemals bisher hatte sie einen Menschen geradezu um Hilfe angegangen, und sie verhehlte sich nicht, daß ein solcher Versuch in ihrer gegenwärtigen Lage nichts anderes zu bedeuten hätte als eine Art von Bettelei. Und wer war denn da, von dem sie eine Hilfe erhoffen durfte? Alfred freilich hätte sie ihr nicht verweigert; auch Thilda würde ihr in der Not sicher beistehen, aber schon der Gedanke, sich brieflich an einen von diesen beiden zu wenden,[861] trieb ihr die Schamröte ins Gesicht. Die Lektionen brachten immerhin noch so viel ins Haus, daß sie nicht hungern mußte, Neuanschaffungen erwiesen sich vorläufig nicht als notwendig, ein kärgliches Dasein war sie gewohnt, so lebte sie denn eingezogen und dürftig, aber doch, da Franz wieder einmal verschollen blieb, in leidlicher Ruhe weiter.

Und eines Morgens im Winter erfuhr sie sogar eine wirkliche kleine Freude. Ein Brief von Thilda kam und duftete köstlich nach dem wohlbekannten Parfüm, das sie immer schon als junges Mädchen benützt hatte. »Mein liebes Fräulein Therese Fabiani,« so schrieb sie, »ich denke so oft an Sie, fast so oft, als ich an den armen Papa denke. Wollen Sie nicht so gut sein, liebstes Fräulein, und das nächstemal, wenn Sie auf den Friedhof gehen, auch für mich ein paar Blumen auf sein Grab legen. Und besonders lieb wäre es von Ihnen, wenn Sie mir doch wieder einmal schrieben, wie es Ihnen geht. Existiert der ›Kurs‹ noch? Wie geht's der kleinen Grete? Kann sie noch immer nicht orthographisch richtig schreiben? Bei uns ist es recht neblig in diesen Wintertagen, das macht die Nähe des Meeres. Schnee gibt es fast gar keinen. Mein Mann empfiehlt sich Ihnen bestens. Er ist ziemlich oft auf Reisen, da sind die Abende manchmal recht einsam und lang, aber Sie wissen ja, daß ich gar nicht so ungern für mich allein bin, und so fällt es mir gar nicht ein, mich zu beklagen. Ich grüße Sie herzlich, liebes Fräulein Therese. Hoffentlich sieht man sich einmal wieder. Ihre dankbare Thilda.

P.S. Ein Betrag für die Blumen liegt bei.«

Lange starrte Therese auf den Brief. »Hoffentlich sieht man sich einmal wieder.« Nun, besonders verheißungsvoll klang das im Grunde nicht. Ob der Brief nicht eigentlich nur wegen der Blumen für Vaters Grab geschrieben war? Was übrigens den »Betrag« anbelangte, so lag er nicht bei. Entweder hatte Thilda vergessen, ihn beizuschließen, oder man hatte ihn herausgestohlen. Nun, es mußten ja nur ein paar Astern sein, das konnte man zur Not noch aus Eigenem bestreiten. »Wenn Sie das nächstemal auf den Friedhof gehen.« Seit dem Pfingstsonntag war Therese nicht mehr draußen gewesen. An einem der Weihnachtsfeiertage wollte sie es nachholen. Denn darum eine Stunde versäumen und überdies noch Blumen kaufen, das ging doch über ihre Verhältnisse. Und den Brief wollte sie erst nachher beantworten. Frau Thilda Verkade hatte sie auch lange genug warten lassen.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 860-862.
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