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[868] In den nächsten Tagen erwog sie, ob sie an Kasimir Tobisch schreiben sollte. Er hieß vielleicht nicht einmal so. Keineswegs war es sicher, ob er sich so oder anders nannte. Ferner war es möglich, daß er von dem Brief überhaupt keine Notiz nehmen würde, um so weniger vielleicht, je mehr er vermutete, wer ihn abgeschickt. So schien es ihr am Ende das klügste, ihn nach der Vorstellung abzupassen. Sie konnte ja auch tun, als begegne sie ihm zufällig.

Und eines Abends um elf Uhr strahlte ihr das erleuchtete Schild des »Universum« entgegen. Unter der Einfahrt stand ein riesiger Portier in einer abgetragenen grünen Livree mit goldenen Knöpfen, einen langen Stock mit silberner Tresse in der Faust. Die Vorstellung war noch nicht aus. Therese suchte nach der Türe, durch die Kasimir Tobisch das Lokal verlassen müßte. Sie war leicht gefunden: um die Ecke, die Straße weiter, um die nächste Ecke, in eine andere kaum beleuchtete Straße, da stand über einer halb verglasten Tür zu lesen: »Eingang für Mitwirkende«. Eben kam eine Frauensperson heraus, ein mageres, ordinär aussehendes Geschöpf in einem armseligen, viel zu dünnen Regenmantel, und verschwand um die Ecke. Nun, ihr eigener Mantel war dem Schneewetter auch wenig angepaßt. Sie trug den eleganten Frühjahrsmantel, den ihr Thilda geschenkt, darunter freilich eine dicke Wolljacke. Oh, sie war immerhin besser ausgerüstet als manche andere Frauen in ihren Verhältnissen. Nur die Füße wurden ihr kühl und feucht; sie hätte doch lieber die festen Schuhe nehmen sollen, die sie zuletzt auf dem Lande in Wohlscheins Gesellschaft getragen. Trotz steten Hin- und Hergehens fror sie geradezu. Es wäre vielleicht klüger gewesen, sich einen billigen Platz zu kaufen und im Zuschauerraum das Ende der Vorstellung abzuwarten. Und weiter lief sie, hin und her, in den verschneiten Straßen rings um das Gebäude, so daß sie bald den Eingang, bald die Bühnentür im Auge hatte. Es kam ein Moment, in dem ihr dieses Warten unvernünftig, ja, unsinnig vorkam. Was wollte sie eigentlich, wen erwartete sie denn? Einen alten Musikanten, der da drin Cello spielte, oder einen jungen Mann mit Schlapphut, dessen Schnurrbart nach Reseda duftete? Der ging sie doch eigentlich gar nichts an, und doch war ihr immer, als müßte aus der Glastür dort so ein junger Mensch mit einem Havelock treten, den weichen Hut in der Hand. Und sie[869] selber kam sich für eine Weile wie das hübsche Fräulein vor, das am Sonntag Ausgang hatte und sich auf das Zusammensein mit ihrem Liebhaber freute. Aber freilich damals war Frühling gewesen. Was machte sie nun eigentlich da? Es war nicht Frühling, und sie war auch nicht das junge, hübsche Fräulein mehr. War sie nicht eigentlich das Fräulein Steinbauer, die ihr damals so leid getan hatte, weil sie keinen Liebhaber hatte? Sie war es nicht, und er war es nicht – was wollten sie denn voneinander? Nein, wirklich, in ihrem ganzen Leben hatte sie nichts so völlig Unsinniges unternommen wie diesen Weg hier heraus. War es nicht besser, die Sache aufzugeben und vielleicht ein andermal wiederzukommen, in richtigerer Stimmung? Schon entfernte sie sich allmählich von dem Gebäude, doch als nun der beleuchtete Umkreis ihr entschwand, tat es ihr leid, sie machte kehrt und merkte, daß eben die Vorstellung zu Ende gegangen war. Der Portier stand in Positur mit emporgestrecktem Stock, an dem die Silbertresse baumelte; die Leute strömten aus dem Tor ins Freie, Wagen fuhren vor. Therese überquerte rasch die Straße, lief zum Bühneneingang, stellte sich auf der entgegengesetzten Seite hin, um die Glastüre im Auge zu behalten; und der erste, der heraustrat, war er; – hager, im Havelock, den Schlapphut in der Hand, eine Zigarette zwischen den Lippen, und er sah kaum anders aus als vor zwanzig Jahren. Es war wie ein Wunder, wahrhaftig. Er blickte sich nach allen Seiten um, dann schaute er in die Höhe, schüttelte den Kopf, als wundere er sich über den Schneefall und mißbillige ihn. Er setzte den Hut auf, dann, plötzlich, als wüßte er, daß drüben ihn jemand erwartete, eilte er mit langen Schritten über die Straße, geradeswegs auf Theresen zu, streifte sie mit einem ganz flüchtigen Blick und war auch schon vorüber. »Kasimir«, rief sie. Er wandte sich gar nicht um und ging rasch weiter. »Kasimir Tobisch!« rief sie nun. Er blieb stehen, wandte den Blick, wandte sich selbst, ging auf Therese zu, sah ihr ins Gesicht. Sie lächelte, obzwar er nun ganz anders aussah, älter noch, als er war, mit vielen Falten auf der Stirn und noch tieferen um die Mundwinkel. Jetzt erkannte er sie. »Was sehen meine Augen!« rief er aus. »Das ist ja – das ist ja – Ihre Hoheit, die Prinzessin!« Ihr Lächeln blieb. Dies war's, was ihm vor allem einfiel, nach zwanzig Jahren, daß er sich zuerst angestellt, als ob er sie für eine Erzherzogin oder Prinzessin hielte! Nun, jedenfalls hatte sie sich weniger verändert, als sie gefürchtet. Sie nickte wie bestätigend, ihr Lächeln wurde leerer, und sie sagte: »Ja, ich bin Therese.«[870]

»Das ist aber wirklich eine Überraschung«, sagte er und reichte ihr die Hand. Sie hätte ihn allein an dem harten, hageren Griff seiner Finger erkannt. »Ja, wie kommst denn du daher?«

»Ich war zufällig in der Vorstellung und hab' dich gesehen.« Sie hielt inne.

»Und mich wiedererkannt?« – »Selbstverständlich. Du hast dich ja kaum verändert.« – »Du eigentlich auch nicht besonders.« Er faßte sie beim Kinn und starrte ihr ins Gesicht mit glasigen Augen. Sein Atem roch nach saurem Bier. »Also, das ist wirklich die Therese. Nein, daß wir zwei uns wieder einmal begegnen. Wie ist es dir denn immer ergangen, Therese?«

Sie fühlte immer noch das Lächeln auf ihren Lippen; sie konnte es gar nicht wegbringen, obwohl es kaum etwas zu bedeuten hatte. »Das ist nicht so einfach zu erzählen, wie es mir ergangen ist.«

»Freilich, freilich«, bestätigte er. »Es ist ja schon eine halbe Ewigkeit, daß wir uns nicht gesehen haben.«

Sie nickte. »Zwanzig Jahre bald.«

»Ja, da kann viel passieren, in zwanzig Jahren. Du bist jedenfalls verheiratet, – hast Kinder?«

»Eins.«

»So, so, ich hab' vier.«

»Vier?«

»Ja, zwei Buben und zwei Mädeln. Aber wollen wir nicht weitergehen? Es wird einem im Stehen so kalt.«

Sie nickte. Plötzlich fühlte sie wieder, daß sie in den Füßen fror.

»Wo wartet denn deine Begleitung?« fragte er dann, plötzlich wieder innehaltend. – Sie sah ihn verständnislos an. – »Du bist doch nicht allein in dem Lokal dadrin gewesen? Mit dem Herrn Gemahl wahrscheinlich?«

»Nein. Mein Herr Gemahl ist leider tot. Schon lang. Ich war mit Bekannten, sie haben aber schon früher fortgehen müssen.«

»Das sind nicht sehr höfliche Bekannte. Also kann ich dich vielleicht zu der nächsten Tramwayhaltestelle begleiten?«

Sie gingen die Straße hinab, Therese Fabiani und Kasimir Tobisch, wie sie vor zwanzig Jahren manche Straße hinauf und hinab gegangen waren, und hatten einander nicht sehr viel zu erzählen. »Das ist aber wirklich eine Überraschung«, begann Kasimir von neuem. »Also verheiratet, vielmehr verwitwet bist du?« Und sie sah, wie er von der Seite ihren Frühjahrsmantel einigermaßen prüfend betrachtete. Und sein Blick trübte sich ein wenig, als er[871] an ihr herunterstreifte und an ihren Schuhen haften blieb. Und rasch sagte sie: »Ich habe gar nicht gewußt, daß du auch Cello spielen kannst.«

»Aber geh.«

»Damals warst du doch Maler?«

»Maler und Musikus. Ich bin auch noch immer Maler, das heißt, jetzt mehr Anstreicher, um die Wahrheit zu sagen. Man braucht ja einen Nebenverdienst.«

»Das kann ich mir denken – mit vier Kindern muß es nicht leicht sein.«

»Zwei davon sind schon erwachsen. Der Älteste ist Gehilfe bei einem Zahntechniker.« – »Wie alt ist er denn?« – »Zweiundzwanzig wird er den Monat.« – »Wie?«

Nun standen sie an der Tramwayhaltestelle.

»Zweiundzwanzig –? Da warst du ja schon verheiratet, wie wir uns kennengelernt haben.« Sie lachte hell auf.

»O je«, meinte er und lachte mit. »Mir scheint gar, jetzt hab' ich mich verplauscht.«

»Macht nichts«, sagte sie. Und tatsächlich hatte seine Mitteilung sie kaum bewegt. Sie dachte einfach: Also damals schon hat er eine Frau gehabt und ein Kind. Darum wohl die Flucht und der falsche Name. Denn das war ihr nun ganz klar, Kasimir Tobisch hatte er nie wirklich geheißen. Wie hieß er denn nur, dieser Mann? Wer war er denn eigentlich, dieser Mann, neben dem sie da einherging und von dem sie einen Sohn hatte, der im Inquisitenspital lag und mit dem sie ihn hatte bekanntmachen wollen. Sie hätte ihn ja jetzt um seinen wahren Namen fragen können, und er hätte ihr vielleicht sogar die Wahrheit geantwortet, aber es war ihr über alle Maßen gleichgültig, wie er hieß, ob er Maler war oder Cellospieler oder Anstreicher, ob er vier Kinder hatte oder zehn. Ein dummer, armer Teufel war er jedenfalls und wußte es nicht ein mal. Da war sie gewissermaßen noch besser dran.

»Da kommt grad eine Tram«, sagte er und atmete sichtlich auf.

»Ja, da kommt eine«, wiederholte sie heiter. Aber nun tat es ihr mit einem Male leid, daß dieses Wiedersehen vorüber war und daß Kasimir Tobisch, wie er auch hieße, für sie wieder verschwinden sollte unter andern Namenlosen – für immer. Die Tramway hielt, aber sie stieg nicht ein, obwohl sein Blick sie freundlich dazu einlud. Und sie sprach: »Ich hätte dich eigentlich gern ein bißchen länger gesprochen. Willst du mich nicht einmal besuchen?«[872]

Er sah sie an. Oh, er nahm sich keineswegs Mühe, sich zu verstellen; ganz deutlich las sie in seinem Blick: Besuchen? wozu denn? Als Weib kommst du doch nicht mehr in Betracht für mich, und auf deinen Frühjahrsmantel fall' ich dir nicht hinein. Aber er schien doch die leise Angst in ihren Augen zu merken, und höflich erwiderte er: »Aber gern. Ich werde so frei sein.« – Sie gab ihm ihre Adresse. »An meinen Namen erinnerst du dich wohl noch?« setzte sie hinzu, lächelte ein wenig traurig und flüsterte: »Ich heiße Therese.« – »Freilich«, sagte er, »ich weiß doch. Aber – mit dem Zunamen?« – »Den hast du vergessen?« – »Was fällt dir denn ein, aber – entschuldige, jetzt heißt du doch jedenfalls anders.« – »Nein, ich heiße noch immer Therese Fabiani.« – »Du warst also nicht verheiratet?« – Sie schüttelte nur den Kopf. – »Aber hast du denn nicht gesagt, daß du ein Kind hast?« – »Ja, ein Kind habe ich.« – »So, so, da schau her.«

Wieder rollte eine Tramway heran. Therese sah Kasimir Tobisch voll ins Gesicht. Jetzt wäre es wohl an ihm gewesen, weiter zu fragen, jetzt hätte er fragen dürfen, fragen müssen; und in seinem Auge schimmerte sogar etwas wie eine Frage, vielleicht sogar wie eine Ahnung. Ja, gewiß war es eine Ahnung, die in seinem Auge schimmerte, und gerade darum fragte er lieber nicht.

Die Tramway hielt, und Therese stieg ein. Von der Plattform aus sagte sie ihm noch rasch: »Du kannst mir auch telephonieren.« – »So, ein Telephon hast du gar? Dir geht's aber gut. Ich muß immer zum Milchmeier gehen, wenn ich telephonieren will. Also, auf Wiedersehen.«

Die Tramway rollte davon. Kasimir Tobisch blieb eine Weile stehen, winkte Theresen nach. Ihr Lächeln schwand plötzlich. Grußlos, ernst und fern ließ sie von der rückwärtigen Plattform aus ihren Blick auf ihm ruhen, sah noch, wie er sich wandte und den Weg zurück nahm. Sanft und dicht fiel der Schnee, die Straßen waren fast menschenleer. Und der Mann, der so lange Kasimir Tobisch geheißen, der Vater ihres Kindes, entschwand ihr, ein Namenloser unter anderen Namenlosen, und entschwand für immer. –

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 868-873.
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