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[639] Am nächsten Morgen kam ein Brief von Alfred. Er habe die Nacht über kein Auge zugetan; sie möge ihm verzeihen, wenn er sie gestern gekränkt, eine Wolke auf ihrer Stirn verdüstere ihm den heitersten Tag. Vier Seiten lang ging es in diesem Tone fort. Sie lächelte, war etwas gerührt, drückte den Brief wie mechanisch an die Lippen, ließ ihn dann halb absichtlich, halb zufällig aus der Hand auf ihr Nähtischchen gleiten. Sie war froh, daß sie nicht verpflichtet war, ihn zu beantworten; – heute abend traf man einander ja ohnehin am gewohnten Orte des Stelldicheins.

Gegen Mittag trat ihre Mutter zu ihr ins Zimmer mit süßlichem Lächeln: der Graf Benkheim sei hier und habe eben die Bibliothek des Vaters zum zweitenmal – von einem ersten Besuch hatte die Mutter nichts erwähnt – eingehender Besichtigung unterzogen. Er sei bereit, sie zu einem sehr anständigen Preis zu erwerben, und habe sich herzlich nach dem Befinden des Vaters, übrigens auch nach Theresen erkundigt. Als Therese mit gepreßten Lippen stumm sitzen blieb und weiterstickte, trat die[639] Mutter näher an sie heran und flüsterte: »Komm – wir sind ihm Dank schuldig, auch du. Es wäre eine Unhöflichkeit. Ich verlange es von dir.« Therese erhob sich und trat mit ihrer Mutter ins Nebenzimmer, wo der Graf eben im Begriffe war, einen großen illustrierten Oktavband, der neben anderen auf dem Tische lag, zu durchblättern. Er erhob sich sofort und äußerte seine Freude, Therese wieder einmal guten Tag sagen zu dürfen. Im Laufe einer höflichen und durchaus unverfänglichen Unterhaltung fragte er die Damen, ob sie nicht vielleicht gelegentlich seinen Wagen zu einem Besuch in der Anstalt beim Herrn Oberstleutnant benützen wollten; auch zu einer Spazierfahrt nach Hellbrunn oder wo immer hin stelle er ihn gerne zur Verfügung; doch schweifte er gleich wieder ab, als er in Theresens Mienen Befremden und Widerstand gewahrte, und entfernte sich bald mit der Bemerkung, daß er nach einer kurzen, aber unaufschiebbaren Reise gleich wieder seine Aufwartung machen werde, um die Bibliotheksangelegenheit in Ordnung zu bringen. Zum Abschied küßte er sowohl der Mutter als der Tochter die Hand.

Als sich die Türe hinter ihm geschlossen hatte, war zuerst ein dumpfes Schweigen; Therese schickte sich an, wortlos das Zimmer zu verlassen, da hörte sie die Stimme ihrer Mutter hinter sich: »Du hättest wohl etwas freundlicher sein können.« Therese wandte sich von der Türe her um: »Ich war es viel zu sehr«, und wollte gehen. Nun begann die Mutter ganz unvermittelt, als hätte sich seit Tagen oder Wochen der Groll in ihr gestaut, mit bösen Worten Therese wegen ihres unmanierlichen, ja frechen Benehmens mit Vorwürfen zu überhäufen. Ob der Graf nicht mindestens ein so feiner Herr sei wie der junge Nüllheim, mit dem das Fräulein Tochter überall in Stadt und Umgebung und zu jeder Tages- und Nachtzeit zu sehen sei? Ob es nicht hundertmal anständiger sei, sich einem soliden, gesetzten, vornehmen Herrn gegenüber mit einiger Zuvorkommenheit zu benehmen, als sich einem Studiosus an den Hals zu werfen, der mit ihr doch nur seinen Spaß treibe? Und immer unzweideutiger, mit schonungslosen Worten, gab sie der Tochter zu verstehen, welches Wandels sie sie schon längst verdächtige, und ohne Scham sprach sie aus, was sie darum um so mehr von ihr zu erwarten und zu fordern sich für berechtigt halte. »Denkst du, es geht so fort? Wir hungern, Therese. Bist du so verliebt, daß du es nicht merkst? Und der Graf würde für dich sorgen, – für uns alle, für den Vater auch. Und niemand müßte es wissen, nicht einmal dein junger Herr[640] Nüllheim.« Sie hatte sich näher an die Tochter gedrängt, Therese spürte ihren Atem im Gesicht, machte sich los, eilte zur Türe. Die Mutter rief ihr nach: »Bleibe, das Essen ist fertig.« »Ich brauche keines, da wir doch hungern«, höhnte Therese und verließ das Haus.

Es war Mittagszeit, die Straßen fast menschenleer. Wohin? fragte sich Therese. Zu Alfred, der im Hause seiner Eltern wohnte? Ach, der war nicht Manns genug, sich ihrer anzunehmen, sie zu beschützen vor Gefahr und Schande. Und die Mutter, die sich einbildete, er sei ihr Geliebter! Es war zum Lachen, wahrhaftig. Wohin also? Hätte sie nur Geld genug gehabt, sie wäre einfach zum Bahnhof gelaufen, davongereist wo immer hin, am liebsten gleich nach Wien. Dort gab es Gelegenheit genug, sich auf anständige Weise durchzubringen, auch wenn man nicht die letzte Lyzealklasse gemacht hat. Die Schwester einer Schulkameradin zum Beispiel war neulich sechzehnjährig als Kinderfräulein bei einem Hof- und Gerichtsadvokaten in Wien in Stellung getreten, und es ging ihr vortrefflich. Man müßte sich die Sache nur angelegen sein lassen. War es denn nicht längst ihr Plan gewesen? Unverzüglich kaufte sie eine Wiener Zeitung, ließ sich auf einer beschatteten Bank des Mirabellgartens nieder und las die kleinen Anzeigen. Sie fand manche Angebote, die für ihre Zwecke in Betracht kamen. Jemand suchte eine Bonne zu einem fünfjährigen Mädchen, ein anderer eine zu zwei Knaben, ein dritter zu einem geistig etwas zurückgebliebenen Mädchen, in dem einen Hause wurde etwas Kenntnis des Französischen, in einem anderen Fertigkeit in Handarbeiten, in einem dritten Anfangsgründe des Klavierspiels gewünscht. Mit all dem konnte sie dienen. Man war nicht verloren, Gott sei Dank, und bei der nächsten Gelegenheit würde sie einfach ihre Sachen packen und davonfahren. Vielleicht ließe es sich sogar so einrichten, daß sie zugleich mit Alfred nach Wien reiste. Sie lächelte vor sich hin. Ihm vorher gar nichts sagen und einfach in den gleichen Zug einsteigen – ins selbe Coupé, wäre das nicht lustig?! Aber da ertappte sie sich auch schon bei dem Gedanken, daß sie eigentlich lieber allein, ja, lieber sogar mit irgendwem andern diese Reise unternehmen würde, mit einem Unbekannten, mit dem eleganten Fremden zum Beispiel – es war wohl ein Italiener oder Franzose – der ihr früher auf der Salzachbrücke so unverschämt ins Gesicht gestarrt hatte. Und, zerstreut weiterblätternd, las sie in der Zeitung von einem Feuerwerk im Prater, von einem Eisenbahnzusammenstoß, von[641] einem Unfall in den Bergen, und plötzlich kam sie auf eine Überschrift, die sie fesselte: Mordversuch am Geliebten. Da war die Geschichte von einer ledigen Mutter erzählt, die den treulosen Geliebten angeschossen und schwer verletzt hatte. Maria Meitner, so hieß das arme Geschöpf. Ja, auch dergleichen konnte einem passieren ... Nein, ihr nicht. Keiner, die klug war. Man mußte keinen Liebhaber nehmen, man mußte kein Kind haben, man mußte überhaupt nicht leichtsinnig sein und vor allem: man durfte keinem Manne trauen.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 639-642.
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