17

[653] An einem Regentag im Abenddämmer stand Therese in der Einfahrt des Postgebäudes und las den eben an sie gelangten Antwortbrief einer Dame aus Wien, als sie jemanden hinter sich sagen hörte: »Guten Abend, mein Fräulein.« Sie hatte die Stimme gleich erkannt; ein köstlicher Schauer floß ihr durch den Leib, und ohne das Wort auszusprechen, es nur zu denken, fühlte sie mit ihrem ganzen Wesen: Endlich. Sie wandte sich langsam um, lächelte dem Leutnant entgegen wie einem längst Erwarteten, und es war zu spät, als sie sich besann, daß sie lieber nicht so glückselig hätte lächeln sollen. »Ja, da bin ich«, sagte der Leutnant leichthin, ergriff Theresens Hand und küßte sie gleich ein paarmal hintereinander. »Seit einer Stunde bin ich zurück, und das erste menschliche Geschöpf, das mir begegnet, sind Sie, Fräulein Therese. Wenn das nicht ein Wink des Schicksals ist« ... und er behielt ihre Hand fest in der seinen. – »Also schon aus, die Manöver?« fragte Therese, »das ist aber geschwind gegangen.« – »Eine Ewigkeit war ich fort«, sagte der Leutnant. »Sollten Sie das gar nicht gemerkt haben?« – »Wahrhaftig, nein, es können doch höchstens acht Tage gewesen sein.« – »Einundzwanzig Tage und einundzwanzig Nächte, und in jeder habe ich von Ihnen geträumt. Bei Tag übrigens auch. Soll ich Ihnen erzählen, was?« – »Ich bin nicht neugierig.« – »Aber ich bin's im höchsten Grade. Und daher möchte ich für mein Leben gern wissen, was in dem Brieferl da steht, das man sich so geheimnisvoll von der Post abgeholt hat.«

Sie hielt den Brief noch in der Hand, nun knitterte sie ihn zusammen, verbarg ihn in der Tasche ihres Regenmantels und blickte dem Leutnant lustig-verschlagen ins Auge. »Aber hier, glaube ich,« sagte der Offizier, »ist nicht der rechte Ort, um sich miteinander auszuplaudern. Wollen das gnädige Fräulein nicht einen armen verregneten Leutnant unter Ihre Fittiche nehmen?« Er nahm ihr den Schirm ohne weiteres ab, spannte ihn über sie[653] beide, schob seinen Arm unter den ihren, trat mit ihr ins Freie und ging mit ihr im strömenden Regen weiter und begann zu erzählen. Er sprach von seinen Manövererlebnissen, vom Kampieren im Freien auf dreitausend Meter Höhe, von dem Sturm auf einen Dolomitengipfel, von der Gefangennehmung einer gegnerischen Patrouille – er war selbstverständlich bei der siegreichen Armee gewesen; – und indes gingen sie immer weiter durch die menschenleeren, schwach beleuchteten Straßen, bis sie in einer engen Gasse vor einem alten Hause standen, wo er ihr wieder, als sei daran gar nichts Besonderes, vorschlug, bei ihm, um nicht vor Nässe am Ende krank zu werden, eine Tasse Tee mit recht viel Rum zu trinken. Aber da kam sie zur Besinnung. Wofür er sie denn eigentlich halte? Und ob er vollkommen verrückt sei? Und als er seinen Arm um sie legte, wie wenn er sie mit sich ziehen wollte, blitzte sie ihn an: ob er denn Lust habe, es sich ein für allemal mit ihr zu verscherzen? Da ließ er sie los und versicherte sie, er wisse wohl, ja, er habe es gleich bemerkt, daß sie ein ganz besonderes Geschöpf sei. Und seit er sie gesehen, habe er an kein anderes weibliches Wesen mehr denken, ja, überhaupt kein anderes mehr ansehen können. Und auf die Gefahr hin, sich lächerlich zu machen: er würde von nun an Abend für Abend Punkt sieben Uhr hier vor dem Tore stehen und warten. Warten so lange, bis sie käme. Und wenn er zehn Jahre lang hier jeden Abend stehen müßte. Ja, das schwöre er hoch und heilig bei seiner Offiziersehre. Und wo immer er ihr in der Stadt begegnete, er würde mit einem höflichen Gruß an ihr vorbeigehen, aber keineswegs das Wort an sie richten, es sei denn, sie selbst gäbe ihm durch ein Zeichen die Erlaubnis dazu. Nur hier, am Tor, werde er stehen – sie solle sich für alle Fälle die Hausnummer merken, siebenundsiebzig, – Abend für Abend, Punkt sieben Uhr. Er habe ja nichts anderes zu tun. Seine Kameraden, es waren ja ganz liebe Kerle darunter, aber sie konnten ihm alle gestohlen werden. Eine Freundin habe er nicht, oh, schon lange nicht mehr, setzte er auf Theresens ungläubiges Lächeln hinzu; und wenn sie, – wenn sie nicht um sieben Uhr zur Stelle sein sollte, so würde er eben auf sein Zimmer gehen, dort oben im zweiten Stock, – er wohnte ganz allein bei einer alten Frau, die überdies ganz taub sei, und dort oben, in seinem gemütlichen Zimmer, würde er seinen Tee trinken, ein Butterbrot essen und Zigaretten rauchen – und weiter hoffen – bis zum nächsten Abend. – »Ja, hoffen Sie nur bis zum jüngsten Tag«, rief Therese allzu hell, und da es eben neun Uhr[654] von den Türmen schlug, wandte sie sich und eilte davon, ohne ihm nur die Hand zu reichen.

Am nächsten Abend aber huschte sie am Tor vorüber, genau um sieben; er stand da, im Flur, eine Zigarette rauchend, die Kappe in der Hand, wie an jenem Tag, da sie ihn zum erstenmal gesehen, und die gelben Aufschläge seines Waffenrocks leuchteten so hell, als wären es die schönsten Farben in der ganzen Welt. Und auch seine Augen, sein ganzes Gesicht leuchtete auf. Hatte er ihren Namen geflüstert oder nicht? – sie wußte es kaum. Jedenfalls nickte sie, trat zu ihm ins Tor, und in seinen Arm geschmiegt ging sie die enge, gewundene Steintreppe mit ihm hinauf bis zu einer breiten, dunkelbraunen Holztüre, die nur angelehnt war, hinter ihnen beiden aber, wie durch einen Zauber, geräuschlos sich schloß.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 653-655.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Therese
Therese: Chronik eines Frauenlebens
Therese: Chronik eines Frauenlebens Roman
Therese: Chronik eines Frauenlebens Roman
Therese
Romane. Der Weg ins Freie / Therese / Frau Berta Garlan