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[662] Der Frühling nahte, die Theatersaison ging ihrem Ende zu. Es wäre Theresen kaum aufgefallen, daß Max in der letzten Zeit öfters dienstlich verhindert war, sie bei sich zu empfangen, auch nicht, daß er einmal auf ein paar Tage, gleichfalls in einer angeblich dienstlichen Angelegenheit, hatte verreisen müssen –, wenn nicht eines Abends, als am Gasthaustisch der Name einer in der Stadt sehr beliebten Schauspielerin ausgesprochen wurde, ein Kamerad Max zugelächelt und dieser mit einer unwilligen Gebärde das verräterische Lächeln gleichsam abgewehrt hätte. Bei dem nächsten Theaterbesuch konnte es Theresen, die nun einmal mißtrauisch geworden war, nicht entgehen, daß die junge Dame, zum Aktschluß mit den übrigen Darstellern hervorgerufen, ihren Blick auf Max verweilen ließ, der in der ersten Reihe saß, und daß dieser ihr leise zunickte. Therese ließ ihre Mutter unter irgendeinem Vorwand allein nach Hause gehen und paßte den Leutnant ab, der davon sehr unangenehm berührt schien. Ihr Anerbieten, ihn in seine Wohnung zu begleiten, wies er mit der Begründung zurück, daß er mit Kameraden verabredet sei. Er wurde dann plötzlich sehr liebenswürdig, erbot sich seinerseits, Therese bis zu ihrem Haus zu begleiten, nahm ihren Arm, führte sie tatsächlich bis zu ihrem Tor und verwünschte seine Verabredung mit scheinbar so ungeheucheltem Ärger, daß sich Therese für diesmal beruhigen ließ.

Als sie die Türe zu ihrem Zimmer rasch öffnete, sah sie zu ihrem Staunen ihre Mutter, die vor der Kommode kniete und sich an der untersten Lade zu schaffen machte. Nun, da Therese eintrat, schrak die Mutter heftig zusammen und stammelte: »Ich wollte nur nachsehen – deine Sachen in Ordnung bringen; du hast ja nie Zeit.« – »Mitten in der Nacht meine Sachen in Ordnung bringen –? was du nicht sagst!« – »Rege dich nicht auf, Kind, ich hab' es wahrhaftig nicht bös gemeint.« Und verlegen setzte sie hinzu: »Du kannst ja nachschauen, ob dir was fehlt.« Sie ging, und Therese kniete sofort vor die geöffnete Lade hin. Nachdem sie Alfreds Briefe zum Teil verbrannt hatte, waren in größeren Abständen noch drei oder vier gekommen, nicht mehr von Beschimpfungen erfüllt, wie die früheren, sondern eher etwas sentimental und düster gehalten, wie wenn sich ein Gewitter allmählich in der Ferne verzöge. Von diesen Briefen fehlten etliche, und auch von den flüchtigen Billetts, die Max manchmal[663] an sie zu schreiben pflegte, waren nicht alle mehr vorhanden. Was wollte die Mutter damit? Hatte sie etwa Erpressungsgedanken? War es einfach Neugier? Oder ein unlauteres Bedürfnis, das alternde Herz an der Vorstellung fremder Liebesabenteuer zu wärmen? Wie immer es sein mochte, Therese wußte, daß sie nicht länger mit ihrer Mutter unter einem Dache wohnen konnte. Sie begriff nicht, warum sie ihren Plan, Max zu einer Heirat zu bestimmen, so rasch aufgegeben, und beschloß, morgen ohne weiteres mit ihrer Forderung vor ihn hinzutreten. Dieser Entschluß, der ja eine Entscheidung und jedenfalls Klarheit herbeiführen mußte, beruhigte sie so sehr, daß sie in einer dumpfen Müdigkeit einschlief und es am nächsten Morgen über sich brachte, die Mutter freundlich und mit Vermeidung jeder Anspielung auf den nächtlichen Zwischenfall zu begrüßen. Da es überdies ein wunderschöner Märztag war, der schon in den Farben des Frühlings spielte, und vielleicht auch darum, weil morgen Palmsonntag war und tags darauf die ganze Theatergesellschaft auseinanderstieben sollte, sah Therese dem für heute abend verabredeten Zusammensein mit Max in einem guten Vorgefühl entgegen.

Als sie in früher Abendstunde sein Zimmer betrat, war Max, wie es zuweilen vorkam, noch nicht daheim. Ein Gedanke, der ihr bisher stets fremd gewesen war, flog ihr, wie in der Erinnerung an etwas gestern Erlebtes, durch den Sinn: einmal einen Blick in den Schrank und in die Laden ihres Geliebten zu tun; und um sich dieser häßlichen Versuchung zu entziehen, nahm sie eines der Bücher zur Hand, die auf dem Tisch lagen. Max pflegte zu lesen, was ihm eben der Zufall ins Haus wehte: Romane, ab und zu ein Theaterstück, das meiste in abgegriffenen Exemplaren, da es schon durch manche Hände gegangen zu sein pflegte, ehe es in die seinen geriet. Therese schlug ein Buch auf, die illustrierte Ausgabe eines Hackländerschen Romans, warf dann einen zerstreuten Blick in ein umfangreicheres, mit Karten versehenes Generalstabswerk, ohne sich um dessen Inhalt zu kümmern, und als sie es unwillkürlich wegschob, merkte sie, daß darunter, wie mit Absicht verborgen, das gedruckte Bühnenmanuskript eines neueren Stückes lag, das sie erst vor wenigen Tagen hier hatte spielen sehen. Sie durchblätterte das Exemplar und merkte, daß immer derselbe weibliche Name, Beate, rot unterstrichen war. Beate –? Hatte so nicht in dem neulich gesehenen Stück der Name einer Person gelautet, die von der Dame gespielt worden war, mit der in Beziehungen zu stehen sie Max schon seit einigen Tagen[664] verdächtigte? Beate – natürlich. Der Zusammenhang war klar. Nach einer solchen Entdeckung hielt sie sich zu weiteren Nachforschungen durchaus berechtigt und nahm diese in plötzlich erwachender Eifersucht so rücksichtslos und erfolgreich vor, daß Max, der, eben eintretend, sie vor seinem offenen Schranke fand, Briefe, Schleier, verdächtige Spitzenwäsche zu ihren Füßen, sich jedes Leugnen füglich ersparen durfte. Er stürzte auf sie los, fiel ihr in den Arm, sie machte sich frei, schrie ihm ins Gesicht: »Schuft!« und ohne Erwiderung, Entschuldigung, Rechtfertigung abzuwarten, wollte sie das Zimmer verlassen. Er ergriff sie bei den Schultern: »Bist ja ein Kind«, sagte er. Sie sah ihn nur groß an. – »Sie ist ja gar nicht mehr da!« Und da sie ihn weiter verständnislos anstarrte: »Mein Ehrenwort! Ich hab' sie soeben selber auf die Bahn gebracht.« Jetzt verstand sie, lachte hart auf und ging. Er eilte ihr nach. Auf der dunklen Treppe ergriff er sie wieder beim Arm. »Willst du mich gefälligst loslassen«, stieß sie mit zusammengepreßten Zähnen hervor. – »Aber fallt mir ja nicht im Schlaf ein«, sagte er. »Du bist ja eine Närrin. Hör' doch zu. Ich kann ja gar nichts dafür. Sie ist mir nachgelaufen. Kannst fragen, wen du willst. Bin ja todfroh, daß sie fort ist. Heut hätte ich dir sowieso die ganze G'schichte erzählt, Ehrenwort.« Er zog sie heftig an sich. Sie weinte. »Kind«, wiederholte er. Und mit der einen Hand noch immer fest ihr Handgelenk umspannend, streichelte er mit der andern ihre Haare, ihre Wange, ihren Arm. »Übrigens hast du auch deinen Hut oben gelassen«, sagte er. »Also beruhige dich doch endlich. Laß dir wenigstens erklären, dann kannst du ja noch immer machen, was du willst.«

Sie folgte ihm wieder auf sein Zimmer. Er riß sie auf seine Knie nieder und schwor, daß er sie und immer nur sie geliebt habe und »so was« nie wieder passieren werde. Sie glaubte ihm kein Wort, aber sie blieb. Als sie gegen Morgen nach Hause kam, schloß sie sich in ihr Zimmer ein; müd und angeekelt packte sie ihre Sachen, ließ ein paar kühle Abschiedsworte für ihre Mutter zurück, und mit dem Mittagszug fuhr sie nach Wien. –

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 662-665.
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