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[692] Sie kam in Wien zur Mittagsstunde an und fuhr geradeswegs nach dem Wohnhause Kasimirs. Sie eilte die Treppen hinauf. Eine alte Frau öffnete. Hier wohnte kein Herr Kasimir Tobisch, hier hatte nie ein Herr dieses Namens gewohnt. Vor einigen Wochen allerdings hatte ein junger Mann dieses Zimmer bezogen, eine kleine Angabe geleistet, doch schon am nächsten Tag war er wieder verschwunden, ohne sich polizeilich gemeldet zu haben. Therese ging betroffen und beschämt. Beim Hausbesorger erfuhr sie, daß einige Briefe an einen Herrn Kasimir Tobisch im Hause eingelaufen seien; der erste sei auch abgeholt worden, die andern waren unbehoben. Therese sah sie vor sich, erkannte ihre eigene Schrift. Sie bat, daß man sie ihr ausfolge. Der Hausbesorger weigerte sich. Sie entfernte sich glührot im Gesicht und fuhr nach dem Hause, wo Kasimir das Atelier bewohnt hatte. Hier war der Name Tobisch dem Hausbesorger völlig unbekannt. Vielleicht, daß die zwei Maler etwas wüßten, die jetzt im Atelier oben wohnten? Therese eilte hinauf. Ein älterer Mensch in einem weißen, farbenbeschmutzten Kittel öffnete ihr. Er wußte nichts von einem Herrn namens Kasimir Tobisch; vor ihm selbst hätte ein Ausländer hier gewohnt, ein Rumäne, der abgereist sei, ohne den Rest der Miete zu bezahlen. Therese stammelte einen Dank für die Auskunft, in den Augen des Malers schimmerte es wie Mitleid. Als sie die Treppe hinunterging, fühlte sie seinen Blick im Nacken. Nun stand sie auf der Straße. Trotz allem glaubte sie nicht, daß Kasimir Wien verlassen habe. Sie mußte ja nicht gleich zurück,[692] sie konnte auch ein paar Tage lang in den Straßen herumwandern, so lange, bis er ihr endlich in die Arme laufen mußte. Und wenn sie auch im Innern die Lächerlichkeit ihres Beginnens spürte, sie begann tatsächlich in der Stadt hin und her zu irren, die Kreuz und die Quer, stundenlang, bis endlich Müdigkeit und Hunger sie in ein Gasthaus trieben. Es war eine ungewohnte Speisestunde; so saß sie allein in dem geräumigen, anmutlosen Lokal, und wie im Fieber zählte sie, während sie auf das Essen wartete, unablässig die weißgedeckten Tische, von denen an, die in der Helligkeit der Fensternischen standen, bis zu den letzten, die im Dämmer des unbeleuchteten Hintergrundes verschwanden. Ihr Blick fiel auf ihre Handtasche, die sie beim Eintritt auf einen Stuhl gelegt hatte, und jetzt erst besann sie sich, daß sie die ganze Zeit über mit diesem Gepäckstück in den Straßen umhergeirrt und daß sie noch obdachlos war. Das Restaurant, in dem sie saß, gehörte zu einem Vorstadtgasthof minderen Rangs, sie beschloß, hier Quartier zu nehmen.

Als sie sich in ihrem Zimmer vom Staub der Reise und des Umherlaufens gereinigt, war noch lange der Abend nicht da. Von ihrem Fenster im vierten Stock blickte sie in den Dunst der Straße, aus der das Rauschen und Rattern eintönig und feindselig zu ihr heraufdrang. Wenn hier unten Kasimir vorüberginge, fragte sie sich, und sie geschwind die Treppe hinabliefe – könnte sie ihn noch erreichen? – Ja, würde sie ihn überhaupt erkennen von hier oben aus? Die Gesichter da unten verschwammen ihr alle. Vielleicht ging er wirklich eben vorüber, und sie wußte es nicht. Sie beugte sich hinab, es wurde ihr schwindlig; sie trat vom Fenster zurück und setzte sich an den Tisch. Der Straßenlärm dämpfte sich ab, ihre Einsamkeit, ihre Losgelöstheit, das Bewußtsein, daß in diesem Augenblick niemand ahnte, wo sie sich befinde, gab ihr für kurze Zeit eine merkwürdige Ruhe, fast ein Wohlgefühl. Warum war ihr denn nur in den letzten Tagen und Wochen so schlimm zumute gewesen, als wenn irgendeine wirkliche Gefahr sie bedrohte? Was hatte sie denn zu furchten im Grunde? Wem war sie Rechenschaft schuldig? Ihrer Mutter? Ihrem Bruder vielleicht? Die sich doch beide nicht um sie kümmerten? Den Leuten, bei denen sie in Stellung war, von denen sie bezahlt wurde und von denen sie in jedem Fall, ob nach Jahren oder nach Monaten, wenn es ihnen gerade paßte, wie irgendeine Fremde an die Luft gesetzt werden würde? Was gingen sie alle diese Leute an? Überdies besaß sie, wie sie neulich in Salzburg[693] von der Mutter erfahren, aus der Erbschaft eine etwas größere Summe, als sie bisher gedacht, mit der man ein paar Monate wohl sein Auslangen finden konnte; sie hing also von niemandem ab. Und so traf es sich vielleicht ganz gut, daß sie Kasimir nicht begegnet war, daß sie mit ihm überhaupt nichts mehr zu schaffen hatte. Der wäre am Ende auch imstande gewesen, sie um die paar Gulden zu bringen, die ihr über die schwere Zeit hinweghelfen konnten und sollten. Warum war sie denn nur nach Wien gefahren? Was wollte sie von ihm? Ach, wozu die Frage! Sie wußte es ja. Ihn wollte sie, ihn selbst, seine Küsse und seine Umarmungen. Und nun mit einemmal nach einer kurzen, trügerischen Beruhigung kam es wieder wie Verzweiflung über sie. Seinetwegen war sie nach Wien gefahren, hoffnungsvoll, sehnsüchtig und doch schon in Angst, daß sie ihn nicht finden würde; und nun wußte sie, über allem Zweifel, daß er fort war, daß er sich davongemacht hatte, einfach davon, um sich jeder Verantwortung, ja, jeder Unannehmlichkeit zu entziehen. Wie töricht von ihm! Sie hätte ja keine Forderungen an ihn gestellt. Hatte er das nicht gewußt? Warum hatte sie es ihm nicht von allem Anfang an gesagt? Er hatte ja keinerlei Verpflichtungen gegen sie. Sie war kein unerfahrenes, unschuldiges Mädchen gewesen, als sie die Seine wurde. Und sie hatte ja immer gewußt, daß er ein armer Teufel war. Nie hätte sie von ihm etwas gefordert. Und das Kind? Das war ihre Angelegenheit ihre ganz allein.

Es war im Zimmer ganz dunkel geworden. Vor dem offenen Fenster lag der trübe Lichtschein der abendlichen Stadt. Was nun? Hinunter auf die Straße? Ziellos hin und her? Und dann die Nacht? Und morgen? Sie würde ihm ja doch nicht begegnen, auch wenn er da war. Was hatte sie hier noch zu tun? Und erlösend kam ihr der Entschluß, in dieser Stunde noch, mit dem Nachtzug, nach Ischl zurückzufahren. Sie klingelte, beglich ihre Rechnung, lief die Treppen hinab, fuhr mit ihrer Handtasche zur Bahn und verfiel in ihrer Coupéecke in einen so tiefen Schlaf, daß sie erst eine Viertelstunde vor dem Ziele aufwachte.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 692-694.
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