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[719] Am Abend dieses Tages bemerkte sie zu Frau Nebling, daß es nun hohe Zeit wäre, sich nach einer neuen Stellung umzusehen. Auch darum hatte sich Frau Nebling in ihrer umsichtigen Weise schon gekümmert und hielt eine ganze Anzahl von geeigneten Adressen bereit. Schon am Tage darauf sprach Therese in einigen Häusern vor, hatte am Abend die Wahl zwischen dreien und entschied sich für eines, wo sie nur ein siebenjähriges Mädchen[719] zu betreuen hatte. Der Vater war ein wohlhabender Kaufmann, die Mutter eine gutmütige, etwas phlegmatische Frau, das Kind lenksam und hübsch, und Therese fühlte sich sofort in ihrer neuen Umgebung ausnehmend wohl. Für jeden zweiten Sonntag und für einen Nachmittag in jeder zweiten Woche hatte sie sich Ausgang bedungen, bis tief in den Sommer hinein bereitete man ihr keinerlei Schwierigkeiten, bis am Morgen eines schönen Julisonntags die Mutter aus irgendeinem Grunde Therese ersuchte, für diesmal auf den Urlaub zu verzichten und sich dafür einen beliebigen Tag der kommenden Woche zu wählen. Therese aber hatte sich so unbändig auf das Wiedersehen mit ihrem Kind gefreut, daß sie ganz gegen ihre sonstige Art, unwirsch beinahe, auf ihrem Recht bestand, das ihr schließlich auch zugebilligt wurde; doch blieb ihr nichts übrig, als nach der üblichen Kündigungsfrist das Haus zu verlassen.

Rasch fand sie eine neue Stellung als Erzieherin im Haus eines Arztes zu zwei Mädchen und einem Knaben. Die beiden Mädchen, zehn und acht Jahre alt, besuchten die Schule, eine Französin und ein Klavierlehrer erteilten häuslichen Unterricht; der sechsjährige Knabe war völlig Theresens Obhut anvertraut. Es war ein musterhafter Haushalt: Wohlhabenheit ohne Überfluß, das beste Verhältnis zwischen den Ehegatten, die Kinder alle gutartig, wohlerzogen; und trotz der angestrengten Tätigkeit, aus der der Arzt immer heimkam, gab es niemals ein Wort der Ungeduld oder gar der Ungute, nie Übellaune oder gar Zank, wie sie das von so manchen andern Familien her kannte.

Gegen Mitte August durfte sie drei volle Tage bei ihrem Kind verbringen. Unglücklicherweise waren zwei Regentage darunter, und es gab ein paar Stunden, in denen sich, während sie mit den Bauersleuten in der muffigen Stube saß, ein Gefühl der Langeweile und Ödigkeit ihrer zu bemächtigen anfing. Als ihr das deutlicher bewußt wurde, eilte sie, wie von einem inneren Vorwurf getrieben, zu ihrem Kinde hin, das ruhig schlafend in der Wiege lag. In der trüben Beleuchtung dieses Regentages erschien ihr das kleine rundliche Antlitz seltsam blaß, schmal und fremd. Erschrocken beinahe hauchte sie auf die Lider des Kindes, das nun den Mund verzog wie zum Weinen und dann, da es das bekannte Gesicht der Mutter über sich gebeugt sah, zu lächeln anfing. Therese, neu beseligt, nahm das Kind in die Arme, herzte und liebkoste es und weinte vor Glück. Die Bäuerin, anscheinend gerührt, prophezeite ihr allerlei Gutes und ganz besonders einen[720] braven Vater für das Kind. Aber Therese schüttelte den Kopf. Sie habe nicht die geringste Lust, erklärte sie, ihr geliebtes Kleines mit irgend jemandem zu teilen. Es gehörte ihr – und sollte weiter ihr ganz allein gehören.

Nach diesen drei Tagen war die Trennung dreifach schwer. Und als Therese auf dem Semmering ankam, wo Frau Regan mit den Kindern Sommeraufenthalt genommen hatte, konnte der bekümmerte Ausdruck ihrer Mienen der Mutter ihrer Zöglinge nicht verborgen bleiben. In ihrer milden freundlichen Art, ohne irgendeine Frage zu stellen, sprach Frau Regan die Hoffnung aus, daß Therese in der frischen Bergluft sich bald wieder wohl fühlen würde. Unwillkürlich küßte ihr Therese wie gerührt die Hand, nahm sich aber gleich vor, nichts von ihrem Geheimnis zu verraten. In der Tat erholte sie sich rascher, als sie gedacht, gewann Farbe und Laune wieder, Spaziergänge, auch größere Ausflüge wurden unternommen, und der sommerlich leichte Verkehrston brachte es mit sich, daß Therese gelegentlich jüngere und ältere Herren kennenlernte, die ihr Wohlgefallen und ihre Wünsche zu verbergen sich keine Mühe nahmen. Doch Therese blieb jedem Annäherungsversuch gegenüber gleichgültig, und als man schon in den ersten Septembertagen wieder in die Stadt zog, bedauerte sie das nicht im mindesten und war nur froh, daß sie nun wieder ihrem Kind näher sein durfte.

Die wenigen Stunden, die sie alle acht bis vierzehn Tage draußen in Enzbach verbrachte, bedeuteten ihr immer von neuem das reinste Glück. Und jenes Gefühl der Ödigkeit und Leere, das einmal an einem sommerlichen Regentage sie draußen überkommen hatte, stellte sich auch in den trübsten Herbststunden nicht wieder ein. Vor den winterlichen Fahrten hatte sie sich ein wenig gefürchtet, doch in dieser Hinsicht erfuhr sie die angenehmste Enttäuschung. Nichts Köstlicheres als wenn das Gehöft rings im Schnee lag und sie aus dem wohlgeheizten Zimmer, ihr Kind im Arm, durch die angelaufenen Fensterscheiben auf die weißverdämmernde Landschaft mit ihren schlafenden Landhäusern und auf den kleinen Bahnhof hinuntersah, von dem aus die dunklen Linien der Geleise in die durchfrostete Ferne hinausliefen. Später kamen wundervolle Sonnentage, an denen sie, den Nebeln der Stadt entflohen, draußen nicht nur Helligkeit und Weite, sondern auch frühlingshafte Wärme fand und sich auf der Bank vor dem Hause mit ihrem Buben in Sonnenglanz baden konnte.[721]

Als das Frühjahr wiederkam, glaubte sie einen tiefen Zusammenhang zwischen der Entwicklung ihres Kindes und dem Erblühen der Natur zu verspüren. Für sie war der Tag der ersten Kirschblüten zugleich derjenige, an dem ihr der Bub von der Haustüre aus ein paar Schritte ohne alle Hilfe entgegenlief; der Tag, an dem im Garten der weißen Villa »Gute Rast« in der Bahnhofstraße die Rosenstöcke von der Strohumhüllung befreit wurden, der gleiche, an dem Franz den zweiten Schneidezahn bekam; und als an einem der letzten Apriltage – denn es war diesmal ein langer Winter gewesen – die Landschaft mit ihren Gärten, Wäldern, Hügeln sie in sprossendem Grün empfing, war es derselbe Tag, an dem ihr Bub am offenen Fenster, von der Bäuerin festgehalten, in die Händchen klatschte, da er die Mutter, mit kleinen Päckchen in der Hand – denn immer hatte sie etwas mitzubringen – über die Wiese herankommen sah. Und an dem Junitag, da sie draußen die ersten Kirschen pflückte, hatte der Bub zum erstenmal ein paar zusammenhängende Worte gesprochen.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 719-722.
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