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[728] Und so war der Sommer noch lange nicht zu Ende, als sie neuerlich eine Stellung annahm, und zwar in einem, dem ersten Anschein nach, ziemlich vornehmen Haus als Erzieherin oder Gesellschafterin bei der vierzehnjährigen Tochter. Schon wenige Tage nach ihrem Eintritt reiste sie mit Mutter und Kind in einen kleinen steiermärkischen Kurort, wo man in einem schlecht geführten, nicht einmal ganz reinlichen Gasthof Wohnung nahm, während der Gatte, ein höherer Staatsbeamter, in Wien zurückgeblieben war. Die Baronin war höflich gegenüber Theresen, ohne je ein überflüssiges Wort an sie zu richten. Es gab in dem Ort fast nur alte, meist gichtkranke Leute; ein hagerer, schlecht[728] angezogener sechzigjähriger Herr, der zu Theresens Verwunderung den Namen eines großen, alten ungarischen Adelsgeschlechtes trug, mit einem Krückstock, ließ sich manchmal nach dem Mittagessen an dem Tisch der Damen nieder, unterhielt sich mit ihnen in seiner Muttersprache, sonst verkehrte man mit niemandem. Im übrigen sparte man bei den Mahlzeiten so sehr, daß sich Therese an die traurigsten Tage ihrer Jugend erinnert fühlte. Zuweilen, wenn sie mit der jungen Baronesse allein war, versuchte sie mit ihr irgendeine Art von Gespräch einzuleiten, indem sie an Begegnungen auf der Promenade und im Kurpark, an eine oder die andere lächerliche Erscheinung mit einem heiteren Wort anknüpfte. Das Mädchen aber war offenbar unfähig, irgendeinen harmlosen Scherz auch nur zu verstehen, und eine belanglose, wenn nicht alberne Antwort war alles, was Therese zu erreichen imstande war.

In der schlimmsten Sommerhitze zog man nach Wien zurück, und die Mahlzeiten gestalteten sich keineswegs unterhaltender dadurch, daß der Hausherr daran teilnahm, der an Therese überhaupt niemals das Wort richtete. Als Therese zum erstenmal wieder Gelegenheit hatte, nach Enzbach zu fahren, atmete sie auf, wie wenn sie einem Gefängnis entronnen wäre. In der Entfernung erschien ihr das Haus der Baronin, in dem sie nun zu leben verdammt war, noch unleidlicher als sonst, ja geradezu unheimlich, und sie verstand kaum, daß sie es so lange dort ausgehalten hatte. Aus einer gewissen Trägheit, vielleicht auch ein wenig bestochen durch den Klang des adeligen Namens, schob sie ihren Abschied immer wieder hinaus, bis endlich, als man sie zu Weihnachten mit einem beschämend niedrigen Geldgeschenk abfand, ihre Geduld zu Ende war und sie kündigte.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 728-729.
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