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[733] Sie hatte die erste beste Stellung annehmen müssen, die sich ihr geboten: als »Fräulein« bei drei völlig unerzogenen Kindern zwischen sechs und zehn Jahren, mit denen sie in jeder Hinsicht ihre Plage hatte; der Vater war ein Versicherungsagent, nur abends daheim und stets von übler Laune, die Mutter eine dicke, törichte, anscheinend phlegmatische Person, die aber zwei- bis dreimal im Tage, wie anfallsweise, mit den Kindern herumzuschreien, mit jedem, der ihr in die Nähe kam, zu zanken, Therese wie einen Dienstboten abzukanzeln begann, um dann wieder in eine Art von Lethargie zu versinken, aus der weder wirtschaftliche Verpflichtungen noch das Toben der Kinder sie zu erwecken imstande waren, so daß Theresen die ganze Verantwortung aufgelastet blieb. Zwei Monate hielt sie diese Existenz aus, dann kündigte sie und fuhr nach Enzbach.

Es war nicht allein der Widerwille, die Ermüdung nach den Aufregungen der letzten Monate; es war auch eine plötzliche, von Gewissensregungen nicht ganz freie Sehnsucht nach Franz, die sie diesmal so mächtig dorthinzog. In den letzten drei Jahren hatte sie sich allzu wenig um ihn gekümmert, an seinem Wachsen und Werden kaum mehr inneren Anteil genommen. So sehr sie sich damit zu beruhigen suchte und wohl auch durfte, daß es ihr an Zeit gemangelt, daß auch an Urlaubstagen ihr körperlicher und seelischer Zustand sie selbst die kleine Reise nach Enzbach schon als Mühe empfinden ließ, so war sie sich doch klar darüber, daß allzu oft der Wunsch, ihren Buben wieder zu sehen, sich nicht eben sehr dringend gemeldet hatte; ja, daß er in den Wochen der Trennung ihr immer ferner und fremder wurde und daß sie manchmal die verhältnismäßig geringe materielle Verpflichtung gegenüber der Frau Leutner als eine Last empfand. Dies entschuldigte sie bei sich wieder damit, daß ihr Franzens Anhänglichkeit an seine Pflegemutter manchmal stärker schien als an sie selbst, daß er allmählich ein rechtes Bauernkind zu werden anfing und daß er trotzdem in gewissen Augenblicken in einer fast unheimlichen Weise dem kläglichen Menschen ähnlich sah, der sein Vater war. In der letzten Zeit nun gesellte sich diesen Regungen, wie es immer wieder geschah, ein gewisses Schuldgefühl bei, es war ihr, als hätte sie an ihrem Buben etwas gutzumachen, als müßte die Schwäche und Unsicherheit ihres mütterlichen Gefühls sich sowohl an ihr wie an ihm einmal rächen, und so kam es, daß sie die[734] Anhöhe zu dem Leutnerschen Gehöft mit einer Bangigkeit hinaufstieg, wie es schon lange nicht der Fall gewesen. Sie verspürte eine plötzliche Angst, ihren Buben krank zu finden. Tatsächlich hatte sie schon beinahe drei Wochen keinerlei Nachricht von ihm erhalten. Oder er wollte vielleicht nichts mehr von ihr wissen; er würde ihr sagen: Was kommst du denn immer wieder? Ich brauch' dich nicht mehr.

Und sie brach in Tränen aus, als er ihr freudig entgegenlief, wie kaum je zuvor, und sie drückte ihn ans Herz, als hätte sie sich ihn für immer wiedergewonnen. Auch die Frau Leutner erschien ihr herzlicher denn je, sie schien ganz erschrocken über Theresens schlechtes Aussehen und riet ihr dringend, doch bis zum Herbst auf dem Lande zu bleiben. Therese fühlte sich körperlich und seelisch so ermüdet, daß sie sich sofort einverstanden glaubte, und in den ersten Tagen schon erholte sie sich sichtlich. Sie hatte mehr Freude an ihrem Buben als seit langer Zeit, das Fremde seines Wesens schien diesmal geschwunden; er schloß sich ihr, was er früher nie getan, freiwillig auf kleinen Spaziergängen an, sein Blick erschien ihr, zum ersten Male eigentlich, ganz offen und frei. Seit ein paar Monaten besuchte er die Schule, und der Lehrer, mit dem sie einmal sprach, nannte ihn ein kluges und aufgewecktes Kind. Frau Leutner hatte allerlei Unerläßliches für ihn angeschafft; da Therese auch mit dem Kostgeld in Rückstand war, konnte sie die Bezahlung nicht lange aufschieben, und zum erstenmal sah sie sich genötigt, ihre Mutter um Hilfe anzugehen. Das Geld blieb einige Zeit hindurch aus, worauf sich die Haltung und die Laune der Frau und besonders des Herrn Leutner Theresen gegenüber in unerfreulicher Weise zu ändern anfing. Der Betrag, den ihr die Mutter endlich auf eine neue Mahnung sandte, war so geringfügig, daß er nicht ausreichte. Therese beglich einen Teil ihrer Schuld. Die Stimmung wurde übler von Tag zu Tag, Therese erkannte, daß ihres Bleibens in Enzbach nicht länger sein konnte, und an einem glühend heißen Augusttag, kaum zehn Tage nach ihrer Ankunft, reiste sie wieder nach Wien zurück, um eine neue Stellung anzutreten, die erste beste, die sich auf ihre schriftlichen Bemühungen hin ihr geboten.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 733-735.
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