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[744] In dem Hause eines Großindustriellen, wo sie ihre nächste Stellung antrat, sollte sie, wie sich bald herausstellte, nicht so sehr als Erzieherin denn vielmehr als Pflegerin bei einem rettungslos dahinsiechenden, fast gelähmten neunjährigen Mädchen Dienste leisten. In einem ihr selbst kaum begreiflichen qualvollen Mitleid mit dem armen Kind, das sich nicht nur seiner Leiden, sondern auch des nahen Todes bewußt schien, und auch im Mitgefühl für die unglücklichen Eltern, die schon Jahre hindurch diesen Leiden hilflos zusehen mußten, glaubte sich Therese anfangs bereit, das Opfer zu bringen, das man von ihr verlangte. Aber schon nach wenigen Wochen sah sie ein, daß weder ihre körperlichen noch[744] ihre seelischen Kräfte dem gewachsen waren, was man von ihr verlangte, und nahm ihren Abschied.

Von einem freundlichen Briefe ihrer Mutter bestimmt, fuhr sie für einige Tage nach Salzburg, wo sie mit Herzlichkeit empfangen wurde. Die Stellung der Frau Fabiani in der kleinen Stadt schien sich im Laufe der letzten Jahren auf das vorteilhafteste verändert zu haben. Damen der Gesellschaft besuchten ihr Haus, und Therese lernte unter anderem die Frau eines erst kürzlich hieher versetzten Majors und die Gattin eines Redakteurs kennen, die der Schriftstellerin Julia Fabiani alle nur denkbare Achtung erwiesen. Therese fühlte sich in dem Hause der Mutter wohler und doch zugleich fremder als früher – etwa so, als wenn sie nicht bei ihrer Mutter, sondern bei einer älteren Dame zu Besuch wäre, mit der sie auf Reisen vertrautere Bekanntschaft geschlossen. Als Therese gesprächsweise von allerlei Menschen erzählte, denen sie während der letzten Jahre begegnet, hörte die Mutter mit wachsendem Interesse zu, scheute sich nicht, Notizen zu machen, ja manche von Theresens Berichten wörtlich aufzuzeichnen, und erklärte ihrer Tochter endlich, daß sie darauf bestehe, ihr für solche »Berichte aus dem Leben«, die sie von ihr regelmäßig zu erhalten hoffe, ein angemessenes Honorar zu bezahlen. Auch in Salzburg hatte sich indes allerlei zugetragen: so war der Graf Benkheim, der sich um Therese bemüht, dann jene Schauspielerin, die ihm nahe gestanden, geheiratet hatte, kürzlich gestorben und hatte seiner Witwe ein bedeutendes Vermögen hinterlassen. Auch von dem Bruder wurde gesprochen, der in der Wiener Studentenschaft als Vizepräsident eines deutsch-nationalen Vereins eine immer größere Rolle spiele und nun öfters nach Salzburg komme, wo er in politisch interessierten Kreisen zu verkehren pflegte. Daß er sich um seine Schwester nicht im allerentferntesten, aber auch um die Mutter nur wenig kümmerte, schien ihm diese, die nun auf ihn stolz zu werden begann, nicht weiter übelzunehmen.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 744-745.
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