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[746] In der nächsten Stellung bei dem Inhaber eines kleinen Wechslergeschäftes der inneren Stadt fügte es sich, daß sie sehr viel freie Zeit übrig hatte. Ja, die Mutter des siebenjährigen Knaben, der ihr Zögling war, eine in ihrer Ehe sehr unglückliche Frau, schien niemals froher, als wenn sie mit ihrem Einzigen ungestört und allein beisammen sein konnte. So hätte Therese öfter als je Gelegenheit gehabt, nicht nur für Stunden, sondern auch für Tage nach Enzbach zu Franzl zu fahren, doch zog sie es manchmal vor, in den Straßen der Stadt planlos umherzuspazieren, und als erwünschte Ausrede vor sich selber diente ihr der Umstand, daß die Bauersleute draußen, daß insbesondere Agnes in ihrer vorlauten und doch wieder hinterhältigen Art ihr nun völlig unleidlich geworden waren.

So geschah es eines Abends, daß Therese in der Stadt dem hübschen Krauskopf begegnete, den sie auf dem Ball bei Greitlers vor bald zwei Jahren kennengelernt hatte. Er nannte es Schicksalsfügung, daß man einander wieder traf, und mit einer Willensschwäche, die sie sich selbst nicht erklären konnte, war sie schon beim nächsten Zusammensein bereit, ihm alles zu gewähren, was er verlangte. Er war Student der Rechte, lustig und frech; Therese verliebte sich heftig in ihn und opferte ihm öfters die Tage, die eigentlich für ihr Kind bestimmt gewesen wären. Ihm hätte sie gern mehr von sich erzählt, aber er schien darauf keinen Wert zu legen, ja, wenn sie ernsthafter mit ihm zu reden versuchte, langweilte ihn das offensichtlich, und aus Angst, ihn zu verstimmen, gab sie es auf, ihn mit ihren persönlichen Angelegenheiten zu belästigen. Zu Beginn des Sommers kam ein fröhlicher Abschiedsbrief: sie wäre ein famoses Mädel gewesen, und sie möge ihm ein so freundliches Angedenken bewahren wie er ihr. Sie weinte zwei Nächte lang, dann fuhr sie nach Enzbach zu ihrem Kind, das sie ganze vier Wochen nicht gesehen hatte, liebte es mehr als je, tat vor dem Marienbild am Ahornbaum ein Gelübde, Franzl nie wieder zu Vernachlässigen, vertrug sich auch mit den alten Leutners aufs beste, da Agnes nicht daheim war, und kehrte am Abend des gleichen Tages ziemlich getröstet nach Wien zurück.

Sie fand nun wieder zu sich selbst zurück. Es war ihr im Grunde nicht anders, als hätte sie einen quälenden Durst gestillt und könnte nun wieder beruhigt ihren Pflichten und ihrem[747] Berufe leben. Doch als sie nun ihren Einfluß auf ihren kleinen Zögling wieder gewinnen wollte, sah sie bald, daß das von der Mutter scheel, ja mit Mißtrauen angesehen wurde. Eines Tages kam es wirklich so weit, daß die Frau, deren Gatte indes Beziehungen zu einem anderen weiblichen Wesen angeknüpft hatte, Theresen vorwarf, diese suche ihr die Liebe ihres Kindes zu entziehen, und als sich diese eifersüchtigen Regungen ins Krankhafte zu steigern begannen, blieb Therese nichts anderes übrig, als ihren Abschied zu nehmen.

Quelle:
Arthur Schnitzler: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bände, Band 2, Frankfurt a.M. 1961, S. 746-748.
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